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Kein Recht auf Bildung: Flüchtlingskinder in Griechenland
Die meisten Kinder von Geflüchteten sind in Griechenland vom Bildungssystem ausgeschlossen. Ein Bericht von Refugee Support Aegean (RSA) macht deutlich: Leben in abgeschnittenen Lagern, Mängel im Asylsystem, Verzögerungen von Integrationsprogrammen – in Griechenland gibt es eine lange Reihe von Hindernissen für Flüchtlingskinder.
Der Ausschluss von Flüchtlingskindern aus dem griechischen Bildungssystem hat durch die Corona-Pandemie ein Rekordhoch erreicht. Viele Kinder konnten über ein Jahr nicht am Unterricht teilnehmen, anderen war es gar noch nie möglich, sich überhaupt in einer Schule anzumelden. Die Lagerpolitik verletzt das Recht auf Bildung, insbesondere in den Hotspots auf den Ägäis-Inseln. Gleichzeitig gibt es einen besorgniserregenden Diskurs um separate Bildungseinrichtungen für Flüchtlingskinder innerhalb der Hotspots auf den griechischen Inseln und den Lagern auf dem Festland.
RSA, die Partnerorganisation von PRO ASYL in Griechenland, hat zwischen 15. Januar und 15. Februar 2021 diverse Akteure aus dem Bildungssektor und Flüchtlingsfamilien mit Kindern befragt und einen Bericht über den Zugang zum Bildungssystem für Flüchtlingskinder in Griechenland veröffentlicht.
Die Sorge der von RSA interviewten Bildungsarbeiter*innen ist, dass die Pandemie genutzt wird, um schrittweise die Bildung von Flüchtlingskindern vom formellen, griechischen Bildungssystem zu trennen. Sie sehen in den vergangenen zwei Jahren die Tendenz, Bildungseinrichtungen innerhalb der Flüchtlingslager in Form von informellen und digitalen Bildungsangeboten zu etablieren. Ein kürzlich erschienener Bericht des griechischen Ombudsmannes bestätigt die Sorgen um den sehr geringen Zugang von Flüchtlingskindern zu staatlichen Schulen.
Dramatischer Rückgang in Unterrichtsteilnahme unter Flüchtlingskindern
Statistiken der griechischen Regierung zeigen, dass die Anzahl der Flüchtlingskinder, die in einer Schule angemeldet sind und die tatsächliche Teilnahme am Unterricht extrem auseinander gehen.
Alle Eltern haben in den Interviews angegeben, dass neben der Sicherheit und Gesundheit die Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder die Hauptsorge für sie sind.
Von 35 von RSA begleiteten Kindern waren 20 noch nie in einer Schule. Lediglich zwei Kinder konnten das derzeitige digitale Unterrichtsangebot wahrnehmen. Die meisten lernen hauptsächlich alleine, mit ihren Eltern oder in selbstorganisierten Schulklassen in den Lagern.
Alle Eltern haben in den Interviews angegeben, dass neben der Sicherheit und Gesundheit die Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder die Hauptsorge für sie sind. Aufgrund von Konflikten und Kriegen in ihren Herkunftsländern war die Bildungssituation bereits schwierig. Durch Schulbildung in Griechenland erhoffen sich die Eltern für ihre Kinder die Chance, ihr eigenes Leben aufzubauen.
Hürden durch das Asylverfahren
Im griechischen Gesetz ist vorgesehen, dass schulpflichtige Kinder sich innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft in Griechenland in einer Schule anmelden. Obwohl gesetzlich geregelt ist, dass Behörden die Betroffenen unterstützen, um die nötigen Dokumente zu erhalten, berichten Eltern, dass dies in der Praxis meistens nicht geschieht. Insbesondere über die Landgrenze nach Griechenland eingereiste Kinder müssen häufig mehrere Monate auf die Registrierung ihres Asylgesuchs warten. Die Registrierung ist notwendig, um die entsprechenden Dokumente zu erhalten.
Eine afghanische Familie mit sieben Kindern, die Ende 2019 über die Landgrenze nach Griechenland kam, lebt im Lager Diavata. Ihre Kinder konnten bislang nicht in die Schule gehen.
»Im ersten Monat haben wir in einem kleinen Zelt gelebt. Es war sehr kalt. Danach haben wir zwei Monate in einer Zelthalle gelebt, bis wir in einen Container verlegt wurden. Wir wurden registriert und warten nun auf unser Interview. Der Termin ist erst 2022. Meine Kinder wurden geimpft, allerdings konnten sie bisher noch nicht zur Schule gehen. Wir haben mehrfach die Lagerleitung wegen des Schulbesuchs angesprochen, aber sie sagen uns immer, dass es keine Schule stattfindet, aufgrund von Corona und weil es keine Lehrer*innen gibt.« (R., afghanischer Vater, Diavata)
Desolate Lebensbedingungen in den Hotspots erschweren Schulbildung
Durch den EU-Türkei-Deal werden Schutzsuchende, die über die Ägäis eine griechische Insel erreichen, auf den Inseln festgehalten und in den Hotspot-Lagern untergebracht. Ende 2020 waren unter den Schutzsuchenden in den Hotspots 3.800 Kinder im Schulalter. Von allen griechischen Unterbringungsstrukturen ist die Beschulungsrate in den Hotspots mit Abstand am niedrigsten.
»Der lange Aufenthalt von Kindern in Flüchtlingslagern unter schlechten Lebensbedingungen, wo sie von Bildungseinrichtungen abgeschnitten sind, ist für eine ausgeglichene kognitive und psychologische Entwicklung und für soziale Interaktionen ein entscheidendes Problem. Neben dem Verlust der Privatsphäre in überfüllten Lagern, verstärken die Lagerbedingungen die Angst um die eigene Sicherheit und Gesundheit. Gleichzeitig belastet das Leben in den Lagern die Menschen physisch und psychisch so sehr, dass ein langer Aufenthalt dort eine traumatische Erfahrung für die Betroffenen darstellt.« (Lida Stergiou, außerordentliche Professorin für interkulturelle Bildung, Institut für Vorschulbildung, Universität Ioannina)
»Im Zelt in Moria konnten wir nicht lernen. Im Sommer war es zu heiß, im Winter zu kalt. Wir mussten stundenlang in Schlangen anstehen. Wir konnten nicht ruhig schlafen.«
Die große Mehrheit der Kinder kann aufgrund ihres Aufenthalts in den Hotspots keine Bildungseinrichtung besuchen.
»Im Zelt (in Moria) konnten wir nicht lernen. Im Sommer war es zu heiß, im Winter zu kalt. Wir mussten stundenlang in Schlangen anstehen. Wir konnten nicht ruhig schlafen, weil es immer wieder Streit und Feuer gab. Wir sind oft von Schreien aufgewacht. Manchmal kam die Polizei und hat Leute geschlagen und Tränengas eingesetzt, wenn es zu Kämpfen und Protesten kam. Wir haben uns nie sicher oder ruhig gefühlt.« (H., 11 Jahre, Afghanistan)
Auch die wenigen Kinder, die sich in öffentlichen Schulen auf den Inseln anmelden konnten, berichten von Schwierigkeiten. S., ein 17-jähriger syrischer Junge, der in einem Zelt außerhalb des Hotspots auf Samos lebt, ist einer von wenigen der 600 schulpflichtigen Kinder, der zur Schule geht – dreizehn Monate, nachdem er dort angekommen ist.
»Morgens muss ich zum Lager laufen um dort Wasser zu holen. Danach bringe ich es zurück in den »Dschungel« [das Zeltlager außerhalb des Hotspots]. Wir machen es auf einem Feuer heiß und duschen. Nachts, wenn es dunkel ist, versuche ich im Zelt zu lesen. Von Organisationen wurden uns Lampen gegeben, weil wir keinen Strom haben. In den ersten Monaten habe ich in meiner Freizeit Fußball gespielt oder bin joggen gegangen. Seit unser Asylantrag abgelehnt wurde, verbringe ich viel Zeit damit, über die Zukunft nachzudenken. Ich fühle mich nicht mehr wie ein Kind.«
Rassistische Proteste gegen die Inklusion
Die zunehmend feindliche Haltung gegenüber Schutzsuchenden in Griechenland macht auch vor den Kindern nicht halt. Griechische Eltern protestieren gegen die Inklusion von Flüchtlingskindern in öffentlichen Bildungseinrichtungen und für separate Beschulung abseits ihrer Kinder. Die Proteste gipfelten unter anderem in der Blockade von Schuleingängen.
Seit der Corona-Pandemie nutzen Eltern »Risiken der öffentlichen Gesundheit« als Argument gegen die Inklusion von Flüchtlingskindern. Schuldirektor*innen und lokale Behörden haben sich für die Aussetzung von Integrationsprogrammen ausgesprochen. In einigen Fällen sahen sich Bildungsarbeiter*innen, die sich für eine Inklusion von Flüchtlingskindern ausgesprochen haben, Angriffen von Eltern und Disziplinarmaßnahmen ausgesetzt.
Nichtdestotrotz prangern Lehrer*inneninitiativen und Gewerkschaften die problematischen Bildungschancen von Flüchtlingskindern auch in diesem Schuljahr weiter an.
Auswirkungen der Corona-Pandemie
Corona-Schutzmaßnahmen in Griechenland beinhalten die Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Bewohner*innen von Flüchtlingslagern auf den Inseln und auf dem Festland. Den Maßnahmen im März 2020 zufolge durfte nur ein Familienmitglied die Lager zwischen 7:00 Uhr und 19:00 Uhr kurzzeitig verlassen, etwa um Einkäufe zu erledigen.
Diese Maßnahmen wurden auch noch verlängert als die Corona-Schutzmaßnahmen für die restliche Bevölkerung Griechenlands aufgehoben wurden. Die Bewegungsbeschränkungen machen es für Kinder, die in Flüchtlingslagern leben, extrem schwierig am Schulunterricht teilzunehmen, da die Lagerleitung oft keine Ausnahmen für den Schulbesuch macht.
»Wir sind sieben Personen, die zusammen in einem Container leben. Meine Kinder sind den ganzen Tag drinnen. Ihnen geht es psychisch sehr schlecht. Es gibt keinen Ort zum Spielen oder zum Lernen. Wegen Corona darf nur eine Person pro Familie das Lager für zwei Stunden am Tag das Lager verlassen. Manche Kinder können in die Schule gehen, aber in jeder Familie gibt es ein Kind, das nicht zur Schule kann. Es ist hart für Kinder andere Kinder zu sehen, wie sie mit ihren Freund*innen zur Schule gehen, während sie zurück bleiben.« (R., afghanischer Vater, Diavata)
Kein digitaler Schulunterricht wegen Mangel an Technik
Auf die Schulschließungen während des Lockdowns wurde auch in Griechenland mit der Umstellung auf digitales Lernen reagiert. Die meisten Flüchtlingskinder haben jedoch, genauso wie andere benachteiligte Gruppen, keine ausreichenden Möglichkeiten um an dem digitalen Angebot teilzunehmen.
Auf die Schulschließungen während des Lockdowns wurde auch in Griechenland mit der Umstellung auf digitales Lernen reagiert. In vielen Flüchtlingslagern gibt es aber weder eine stabile Internetverbindung, noch eine stabile Stromversorgung.
Das Bildungsministerium hat zwar versprochen, technische Ausstattung bereitzustellen. Dieses Angebot gilt jedoch nur für Familien, die Kindergeld erhalten. Kindergeld ist an eine fünfjährige Voraufenthaltszeit geknüpft. Die meisten Familien, die Griechenland auf der Suche nach Schutz erreichen, bleiben so von dem Angebot ausgeschlossen. In vielen Flüchtlingslagern gibt es außerdem weder eine stabile Internetverbindung, noch eine stabile Stromversorgung. Die Probleme wurden zuletzt auch vom Bildungsministerium in einer Parlamentsdebatte bestätigt.
»Während des Lockdowns, als es nur digitale Unterrichtsangebote gab, mussten meine Kinder aufhören zu lernen. Wir hatten zwar Internet im Lager, aber es hat nur in der Nähe der Büros der Organisationen, die im Lager arbeiten, funktioniert… Wenn es Internet gäbe, könnten meine Kinder lernen, aber es gibt kein Internet. Also werden sie wieder im Container sitzen und nichts lernen. Wir haben die Lagerleitung gebeten, einen Ort mit Wi-Fi einzurichten, an dem unsere Kinder am digitalen Schulunterricht teilnehmen können. Aber es gibt keinen leeren Container, da in diesen obdachlose Menschen untergebracht sind. Im Lager Schisto kann kein Kind für längere Zeit an der Schule teilnehmen. Die Organisationen sagen uns: ‚Die Griech*innen akzeptieren eure Kinder nicht in der Schule.‘« (Z., afghanischer Vater, Schisto)
Ausblick: Bildung für Flüchtlingskinder nur innerhalb der Lager?
Das Beharren der Regierung und der EU-Kommission auf kontrollierten Massenlager für die Aufnahme von Asylbewerber*innen, die auf den Inseln oder auf dem Festland weit entfernt von urbanen Zentren liegen, bestätigt Befürchtungen von Bildungsarbeiter*innen von einer Institutionalisierung von segregiertem Lernen. So beinhaltet das Memorandum über den neu geplanten Hotspot auf Lesbos Pläne, den Schulbesuch innerhalb der Zäune zu organisieren, wenn ein öffentlicher Schulbesuch nicht möglich ist.
Es ist nicht nur das Recht auf Bildung, das hier verletzt wird. Der Ausschluss hat einen verheerenden Effekt auf die mentale und physische Gesundheit.
»Letztes Jahr sind die eingeschriebenen Flüchtlingskinder nur zwei Monate in die Schule gegangen. Es gibt viele Kinder, die gar nicht in einer Schule angemeldet sind. Seit zwei Jahren kommt es zu monatelangen Verspätungen in den Einrichtungen der Integrationsprogramme im Schulbereich. Warum diese Verzögerung? Die Regierung hört jedem Elternverband, Schulleiter, Bürgermeister oder Präfekten zu, der sich gegen die Integration von Flüchtlingskindern ausspricht. (…) Die COVID-19-Pandemie kann den Ausschluss dieser Kinder nicht legitimieren. Segregation ist nicht die Antwort. Es ist keine Alternative, diese Kinder in Schulen innerhalb der Lager unterzubringen oder ihre Ausbildung auf Fernunterricht zu beschränken.
Es ist nicht nur das Recht auf Bildung, das hier verletzt wird. Der Ausschluss hat einen verheerenden Effekt auf die mentale und physische Gesundheit. Wir müssen berücksichtigen, dass viele Kinder wegen Konflikten in ihren Herkunftsländern bereits nicht zur Schule gehen konnten. Wir müssen jedes Kind wertschätzen und ihnen ermöglichen in unseren Gesellschaften zu wachsen.« (Bildungsarbeiter*in, Ägäische Inseln)
(dm / rsa)