08.12.2023
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Flüchtlingscamps sind zunehmend Orte ohne Wahrung von Grund- und Menschenrechten. Der Schriftzug "Human Rights Graveyard" am Lager Moria bringt dies zum Ausdruck. Foto: PRO ASYL

Die Verhandlungen um die europäische Asylrechtsreform sind in der entscheidenden Phase, die spanische Ratspräsidentschaft will noch in diesem Jahr eine politische Einigung erzielen. In den Verhandlungen geht es um den Kern des Flüchtlingsschutzes in Europa – doch die Mitgliedstaaten könnten sich mit besonders schlimmen Vorschlägen durchsetzen.

Schon län­ger wird über das Gemein­sa­me Euro­päi­sche Asyl­sys­tem (GEAS) dis­ku­tiert, doch in die­sem Jahr wur­de es kon­kret: Im Juni und Okto­ber 2023 hat­ten die Mit­glied­staa­ten – auch mit Stim­me der Bun­des­re­gie­rung – eine Ver­hand­lungs­po­si­ti­on beschlos­sen, die eine weit­ge­hen­de Ent­ker­nung des Flücht­lings­schut­zes in der EU vor­se­hen. PRO ASYL kri­ti­sier­te die­se Eini­gung als Aus­ver­kauf der Men­schen­rech­te. Das Euro­pa­par­la­ment hat­te dem bereits im April 2023 Ver­hand­lungs­po­si­tio­nen ent­ge­gen­ge­stellt, in denen zen­tra­le Grund- und Men­schen­rech­te noch geach­tet werden.

Aktu­ell lau­fen die soge­nann­ten Tri­log-Ver­hand­lun­gen, in denen unter Anlei­tung der Kom­mis­si­on die Mit­glied­staa­ten und das Euro­pa­par­la­ment über die Vor­schlä­ge dis­ku­tie­ren und Kom­pro­mis­se fin­den müs­sen. Dabei geht es um wich­ti­ge Fra­gen wie: Muss eine Mehr­heit von Schutz­su­chen­den durch die Reform ihr Asyl­ver­fah­ren hin­ter Sta­chel­draht an den Außen­gren­zen durch­lau­fen? Wer­den Fami­li­en mit Kin­dern von sol­chen Grenz­ver­fah­ren unter Haft­be­din­gun­gen aus­ge­nom­men oder nicht? Und bekom­men Flücht­lin­ge künf­tig noch Schutz in Euro­pa oder wer­den sie sys­te­ma­tisch in angeb­lich siche­re Dritt­staa­ten abgeschoben?

Am 7. Dezem­ber 2023 lief nun ein ers­ter soge­nann­ter Jum­bo-Tri­log zu GEAS, bei dem alle Ver­ord­nungs­vor­schlä­ge dis­ku­tiert wur­den – nor­ma­ler­wei­se wer­den die Ver­ord­nun­gen sepa­rat dis­ku­tiert. Die­se Jum­bo-Tri­lo­ge sol­len den Durch­bruch in den Ver­hand­lun­gen brin­gen, denn die Posi­tio­nen der Ko-Gesetz­ge­ber (Rat der EU und Euro­päi­sches Par­la­ment) sind unter­schied­lich. Dies ist aber beim ers­ten Jum­bo-Tri­log noch nicht pas­siert, wes­halb die nächs­te gro­ße Ver­hand­lungs­run­de für den 18. Dezem­ber 2023 geplant ist.

Zwar wird unter Hoch­druck ver­han­delt – aber noch ist nichts ent­schie­den! Des­we­gen ist es aktu­ell wich­ti­ger denn je, dass der Pro­test der Zivil­ge­sell­schaft laut ist. Das Euro­pa­par­la­ment darf sei­ne Posi­tio­nen, die die Men­schen­rech­te von Geflüch­te­ten schüt­zen, auf kei­nen Fall auf­ge­ben. Auch die Bun­des­re­gie­rung darf kei­nem Gesamt­kom­pro­miss zustim­men, der dazu füh­ren wird, dass es kaum noch Flücht­lings­schutz in der EU geben wür­de und schutz­su­chen­de Men­schen schutz­los bleiben.

Petition: Nein zu einem Europa der Haftlager!

PRO ASYL ist extrem besorgt, dass unter dem hohen Druck der Ver­hand­lun­gen Kom­pro­mis­se auf Kos­ten der Men­schen­rech­te von schutz­su­chen­den Men­schen geschlos­sen wer­den. Wenn die EU-Parlamentarier*innen den dras­ti­schen Vor­schlä­gen der Mit­glied­staa­ten zustim­men, dann bleibt vom Flücht­lings­schutz in Euro­pa kaum etwas übrig. Die aktu­ell dis­ku­tier­ten Vor­schlä­ge wür­den die schlimms­ten Aspek­te der euro­päi­schen Flücht­lings­po­li­tik ver­stär­ken, statt mit einer tat­säch­li­chen Reform die eigent­li­chen Pro­ble­me des euro­päi­schen Asyl­sys­tems zu lösen: man­geln­de Soli­da­ri­tät zwi­schen den Mit­glied­staa­ten und wach­sen­de Miss­ach­tung der grund­le­gen­den Menschenrechte.

Des­we­gen appel­liert PRO ASYL mit einer Peti­ti­on an das Euro­pa­par­la­ment: Sagen Sie Nein zu einem Euro­pa der Haft­la­ger! Die Peti­ti­on kann noch unter­schrie­ben werden.

Zuletzt gab es auch in zahl­rei­chen Städ­ten in Deutsch­land laut­star­ken Pro­test auf der Stra­ße gegen GEAS. PRO ASYL war Teil des Bünd­nis­ses, das zu den Pro­tes­ten auf­ge­ru­fen hat.

Dies sind die aktu­el­len Streit­punk­te, über die im Jum­bo-Tri­log gespro­chen wird:

Im Okto­ber einig­ten sich die Mit­glied­staa­ten als letz­te Ver­hand­lungs­po­si­ti­on zum Gesamt­pa­ket der euro­päi­schen Asyl­rechts­re­form auf ihre Posi­ti­on zur soge­nann­ten Kri­sen­ver­ord­nung. Die­se soll im Fall von Kri­sen, höhe­rer Gewalt und Instru­men­ta­li­sie­rung star­ke Abwei­chun­gen von den ansons­ten gel­ten­den Regeln ermög­li­chen. Unter ande­rem könn­ten die Grenz­ver­fah­ren stark aus­ge­wei­tet wer­den und die meis­ten – oder sogar alle – Schutz­su­chen­den für bis zu zehn Mona­te im Asyl­grenz- und Abschie­bungs­grenz­ver­fah­ren fest­ge­hal­ten wer­den. Ins­be­son­de­re die Rege­lung im Fall von »Instru­men­ta­li­sie­rung von Migrant*innen« könn­te in der Pra­xis zu mehr rechts­wid­ri­gen Push-Backs füh­ren (auch durch eine Ver­bin­dung zur vor­ge­schla­ge­nen Ände­rung am Schen­ge­ner Grenzkodex).

Das Kon­zept der Instru­men­ta­li­sie­rung ist in der Ver­hand­lungs­po­si­ti­on des Euro­pa­par­la­ments bis­her gar nicht ent­hal­ten, da dies ursprüng­lich nicht Teil der Asyl­rechts­re­form war, son­dern in einer spe­zi­el­len Ver­ord­nung nach­träg­lich gere­gelt wer­den soll­te. In einem Gut­ach­ten bezüg­lich der grund­recht­li­chen Aus­wir­kun­gen, das das Par­la­ment in Auf­trag gege­ben hat­te, wur­de fest­ge­stellt, dass das Kon­zept in der Ver­gan­gen­heit – zum Bei­spiel in Grie­chen­land oder Polen – zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen geführt hat.

PRO ASYL hält das Kon­zept der »Instru­men­ta­li­sie­rung« für beson­ders toxisch, zielt es doch dar­auf ab, schutz­su­chen­de Men­schen für die Hand­lun­gen einer außer­eu­ro­päi­schen Regie­rung zu bestra­fen. Die Kri­sen­rhe­to­rik an den Außen­gren­zen wur­de von Mit­glied­staa­ten immer wie­der genutzt, um Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu recht­fer­ti­gen. Sol­chen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen  – wie ille­ga­len Push­backs oder will­kür­li­chen Inhaf­tie­run­gen oder Miss­hand­lun­gen – wird durch die Kri­sen­ver­ord­nung, wie die Mit­glied­staa­ten sie sich vor­stel­len, nur Vor­schub geleis­tet wer­den statt sie end­lich ein für alle Mal zu beenden!

Wäh­rend die Mit­glied­staa­ten ver­pflich­ten­de Grenz­ver­fah­ren von 12 bis 16 Wochen wol­len, hat das Euro­pa­par­la­ment eine Posi­ti­on ver­ab­schie­det, die die Durch­füh­rung von Grenz­ver­fah­ren nur optio­nal vor­sieht. Laut Medi­en­be­rich­ten könn­te das Par­la­ment aber hier bereits auf die Mit­glied­staa­ten zuge­gan­gen sein. Außer­dem for­dern die Parlamentarier*innen, dass es Aus­nah­men für Fami­li­en mit Kin­dern unter zwölf Jah­ren gibt.

PRO ASYL hat in den ver­gan­ge­nen Jah­ren regel­mä­ßig fest­ge­stellt, dass an den euro­päi­schen Außen­gren­zen wegen der dor­ti­gen Bedin­gun­gen kei­ne fai­ren Asyl­ver­fah­ren mög­lich sind – fal­sche Ent­schei­dun­gen mit  fata­len Fol­gen sind pro­gram­miert. Es feh­len recht­li­che Bera­tung und Anwält*innen. Schon jetzt ist bei­spiels­wei­se in den »geschlos­se­nen Ein­rich­tun­gen« in Grie­chen­land der Zugang für NGOs nicht gewähr­leis­tet und selbst für Rechtsanwält*innen in der Pra­xis oft ein­ge­schränkt. Gera­de wenn Men­schen unter Haft­be­din­gun­gen fest­ge­hal­ten wer­den, belas­tet sie das oft so stark, dass ihre Chan­cen im Asyl­ver­fah­ren dadurch beein­träch­tigt wer­den. Sol­che Haft­be­din­gun­gen sind zu erwar­ten, da vor­ge­se­hen ist, dass die Men­schen wäh­rend des Grenz­ver­fah­rens als »nicht-ein­ge­reist« gel­ten und sie des­we­gen abseh­bar hin­ter Mau­ern und Sta­chel­draht fest­ge­hal­ten werden.

Damit Men­schen auf der Flucht in der EU kei­nen Schutz erhal­ten, sol­len sie nach dem Wil­len vie­ler Politiker*innen aus der EU in soge­nann­te siche­re Dritt­staa­ten abge­scho­ben wer­den. Dafür wür­de ihr Asyl­an­trag als unzu­läs­sig abge­lehnt und ihre eigent­li­chen Flucht­grün­de im Her­kunfts­land wür­den nicht geprüft wer­den. Die­se Debat­te hat zuletzt auch in Deutsch­land an Fahrt auf­ge­nom­men. Über­se­hen wird dabei meist, dass schon jetzt nur ein klei­ner Bruch­teil der Flücht­lin­ge welt­weit nach Euro­pa kommt. Rund drei Vier­tel der welt­wei­ten Flücht­lin­ge leben laut UNHCR schon jetzt in armen und ein­kom­mens­schwa­chen Ländern.

Laut der Ver­hand­lungs­po­si­ti­on der Mit­glied­staa­ten sol­len die Kri­te­ri­en für »siche­re Dritt­staa­ten« so stark gesenkt wer­den, dass dort von Sicher­heit kei­ne Rede mehr sein kann. Denn nicht ein­mal das gan­ze Land muss dann mehr sicher sein, und wenn es eine ent­spre­chen­de Ver­ein­ba­rung zwi­schen der EU und dem Dritt­staat gibt, soll die Sicher­heit schlicht ange­nom­men wer­den kön­nen. Auch müss­te es in dem Land für die abge­scho­be­ne Per­son kei­nen Schutz nach der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on geben.

Die Fra­ge, ob es bei einer Abschie­bung in einen »siche­ren Dritt­staat« wie bis­her eine Ver­bin­dung zwi­schen der aus der EU abzu­schie­ben­den Per­son und dem Dritt­staat geben muss, war sehr umstrit­ten zwi­schen den Mit­glied­staa­ten. Ohne ein sol­ches Ver­bin­dungs­kri­te­ri­um wären zumin­dest theo­re­tisch so absur­de Ideen wie ein EU-Ruan­da-Modell zur Aus­la­ge­rung von Asyl­ver­fah­ren mög­lich. In ihrer Ver­hand­lungs­po­si­ti­on wird das Ver­bin­dungs­kri­te­ri­um zwar geschwächt, ist aber wei­ter­hin ent­hal­ten. Das Euro­pa­par­la­ment behält in sei­ner Posi­ti­on das stär­ke­re Ver­bin­dungs­kri­te­ri­um des aktu­ell gül­ti­gen Rechts bei und for­dert auch höhe­re Stan­dards an einen sol­chen »siche­ren Drittstaat«.

PRO ASYL hält das Kon­zept der »siche­ren Dritt­staa­ten« für höchst gefähr­lich, bie­tet es doch EU-Mit­glied­staa­ten Mög­lich­kei­ten, sich maß­geb­lich aus dem Flücht­lings­schutz zurück­zu­zie­hen und eigent­lich schutz­be­rech­tig­ten Flücht­lin­gen – etwa aus Syri­en oder Afgha­ni­stan – den Schutz in Euro­pa zu verweigern.

(wj)