15.03.2024
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Nach dem Erdbeben stehen viele Geflüchtete in der Türkei immer noch vor dem Nichts und werden zur Weiterflucht oder zur Rückkehr gezwungen. Foto: picture alliance / NurPhoto | Celestino Arce

Die türkische Partnerorganisation von PRO ASYL, Mülteci-Der in Izmir, hat im vergangenen Jahr Schutzsuchende unterstützt, die vom starken Erdbeben im Südosten des Landes betroffen waren. Im Interview schildert Nursen von Mülteci-Der uns die existenziellen Herausforderungen, vor denen sie in der Türkei weiterhin stehen.

Im Febru­ar 2023 erschüt­ter­ten hef­ti­ge Erd­be­ben den Süd­os­ten der Tür­kei und den Nord­wes­ten Syri­ens. Vie­le Men­schen kamen ums Leben. Vie­le Städ­te sind wei­ter­hin unbe­wohn­bar. In der Tür­kei waren etwa 15 Mil­lio­nen Men­schen unmit­tel­bar betrof­fen, dar­un­ter etwa zwei Mil­lio­nen Geflüch­te­te. Wie hast du das ver­gan­ge­ne Jahr bei Mül­teci-Der erlebt?

Anfangs war alles sehr chao­tisch, wir hat­ten kei­nen lang­fris­ti­gen Plan und haben ein­fach gemacht, was gera­de anfiel. Izmir ist weit weg von den Pro­vin­zen, von den Städ­ten und Dör­fern, die durch das Erd­be­ben zum Teil kom­plett zer­stört wur­den. Um zu erfah­ren, wie die Situa­ti­on ist, was gebraucht wird, haben wir ver­sucht, Per­so­nen zu kon­tak­tie­ren, die wir schon unter­stütz­ten oder unter­stützt hat­ten und die dort leb­ten. Das war eine Hil­fe aus der Distanz. Eine gro­ße Fra­ge war, ob es mög­lich ist, die Regi­on zu ver­las­sen. Für Geflüch­te­te in der Tür­kei herrscht eine stren­ge Resi­denz­pflicht, wer die zuge­wie­se­ne Regi­on auch nur kurz ver­las­sen möch­te, muss eine Geneh­mi­gung bean­tra­gen. Ansons­ten dro­hen har­te Kon­se­quen­zen bis hin zur Abschie­bung. Doch auch die Räu­me der zustän­di­gen Behör­den waren ja zer­stört. Als klar wur­de, dass die Geneh­mi­gun­gen nach­träg­lich bean­tragt wer­den kön­nen, ver­lie­ßen alle, die irgend­wie konn­ten, die Regi­on. »Haupt­sa­che weg« war das Cre­do der ers­ten Pha­se nach dem Erdbeben.

Geflüch­te­te, die von dem Erd­be­ben betrof­fen waren, waren fak­tisch von staat­li­chen Not­un­ter­künf­ten ausgeschlossen.

Auf den Stra­ßen von Izmir wur­de das sicht­bar, weil es immer mehr Obdach­lo­se gab. Geflüch­te­te, die von dem Erd­be­ben betrof­fen waren, waren fak­tisch von staat­li­chen Not­un­ter­künf­ten aus­ge­schlos­sen. Alle ver­such­ten des­we­gen dort hin­zu­kom­men, wo sie Anknüp­fungs­punk­te hat­ten und irgend­wie unter­kom­men konn­ten, etwa bei Freund*innen oder Ver­wand­ten. Izmir war also manch­mal nur eine Zwi­schen­sta­ti­on. Wir hal­fen, indem wir Tickets orga­ni­sier­ten, uns mit ande­ren Initia­ti­ven ver­net­zen und unser Büro zum war­men War­te­raum umfunk­tio­nier­ten. Wer in Izmir blei­ben woll­te, den infor­mier­ten wir so gut es ging über die Regu­la­ri­en und unter­stütz­ten ihn dabei, Kon­takt zu den Behör­den auf­zu­neh­men. Hier in Izmir war genau eine Per­son für die Rei­se­do­ku­men­te zustän­dig, ent­spre­chend chao­tisch ging es dort zu. Das ging die ers­ten drei bezie­hungs­wei­se fünf Mona­te so, solan­ge waren die außer­or­dent­li­chen Rei­se­ge­neh­mi­gun­gen gültig.

Könn­test du etwas ins Detail gehen: Was meinst du damit, wenn Du sagt, dass die Grup­pe der Geflüch­te­ten fak­tisch von den Not­schlaf­stel­len bezie­hungs­wei­se Not­un­ter­künf­ten aus­ge­schlos­sen wur­de?

Ins­be­son­de­re in der ers­ten Zeit nach dem Erd­be­ben blie­ben staat­li­che Wei­sun­gen und Stel­lung­nah­men zur Fra­ge der Zugangs­be­rech­ti­gung bezie­hungs­wei­se Gleich­stel­lung von Geflüch­te­ten aus. Getrie­ben von der bereits zuvor ange­heiz­ten ras­sis­ti­schen Stim­mungs­ma­che ging das Schreck­ge­spenst um, Geflüch­te­te könn­ten mehr Hil­fe erhal­ten als die betrof­fe­nen Türk*innen. Das öff­ne­te den Raum für Spe­ku­la­tio­nen und Anfein­dun­gen. Vie­le Orga­ni­sa­tio­nen und Per­so­nen aus unse­rem Netz­werk wur­den des­we­gen angefeindet.

Statt trans­pa­rent zu kom­mu­ni­zie­ren gaben die ver­ant­wort­li­chen Behör­den in Tref­fen mit zivil­ge­sell­schaft­li­chen Stel­len, etwa mit uns, wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen wei­ter, zum Bei­spiel, dass für Geflüch­te­te eben kein Platz in den Not­un­ter­künf­ten sei. Wir wur­den damit zum Sprach­rohr umfunk­tio­niert, eine sehr undank­ba­re Aufgabe.

Wie ging es dann wei­ter, fünf Mona­te nach dem Erdbeben?

Nach die­sem ers­ten Schock war genau das die gro­ße Fra­ge: Wie soll es wei­ter­ge­hen? Das war die nächs­te Pha­se. Zum zwei­ten Mal hat­ten vie­le alles ver­lo­ren. Die Ant­wor­ten fie­len unter­schied­lich aus. Eini­ge gin­gen zurück in die Erd­be­ben­re­gio­nen, in der Hoff­nung, dass ein Neu­start mög­lich wird. Dabei ereig­ne­ten sich teils dra­ma­ti­sche Sze­nen: Eine Fami­lie etwa reis­te wie­der nach Adi­ya­man, als es Berich­te dar­über gab, dass Zel­te und Con­tai­ner ver­teilt wer­den. Sie befürch­te­ten, ansons­ten kei­nen Platz mehr zu bekom­men. Aber dann wur­de das Gebiet durch die Flu­ten erneut verwüstet.

Ande­re ver­such­ten, staat­li­che Hil­fe für Erd­be­ben­ge­schä­dig­te zu bean­tra­gen, sol­che Hilfs­pa­ke­te soll­ten etwa jenen hel­fen, die ihre Woh­nung oder ihr Haus ver­lo­ren haben. Auch wenn es kei­nen recht­li­chen Aus­schluss für Geflüch­te­te gege­ben hat, gin­gen sie in der Regel leer aus, da sie die büro­kra­ti­schen Anfor­de­run­gen nicht erfül­len konnten.

Wie­der ande­re haben sich ent­schie­den in der neu­en Stadt, zum Bei­spiel Izmir, zu blei­ben. Doch auch das ist schwer. Zwar wur­de die Rei­se­ge­neh­mi­gung bis­lang immer wie­der ver­län­gert, hier gibt es kei­ne Pro­ble­me. Wei­ter­hin wird die Regis­trie­rung jedoch nicht auf die neue Pro­vinz über­tra­gen. Kei­ner weiß, wie lan­ge die Rei­se­ge­neh­mi­gun­gen ver­län­gert wer­den. Von heu­te auf mor­gen kann das vor­bei sein. Eine lang­fris­ti­ge Per­spek­ti­ve ist das also nicht. Dabei ist klar, dass der Wie­der­auf­bau Jah­re in Anspruch neh­men wird.

Bereits vor dem Erd­be­ben galt die Regis­trie­rung für den Tem­po­rä­ren Schutz bezie­hungs­wei­se für die Sta­tus­de­ter­mi­nie­rung bei den Behör­den als das größ­te Pro­blem von Geflüch­te­ten in der Tür­kei. Ist das wei­ter­hin der Fall?

Ja, defi­ni­tiv. Vor etwa einen Monat zum Bei­spiel war eine Frau bei uns, die aus Syri­en geflo­hen ist und nun hier mit ihrem in Izmir unter dem Tem­po­rä­ren Schutz regis­trier­ten Mann lebt. Sie haben ein gemein­sa­mes Kind. Sie selbst jedoch konn­te sich trotz aller Anstren­gun­gen bis­lang nicht regis­trie­ren. Die Ehe ist auch nur nach reli­giö­sem Recht geschlos­sen, sonst wäre die Ehe viel­leicht ein Ansatzpunkt.

Nun hat die Poli­zei im Okto­ber 2023 erneut ihre Prä­senz stark erhöht. Eine spe­zi­el­le Kon­troll­ein­heit, soge­nann­te Mobi­le Migra­ti­ons­ein­hei­ten, wur­den in Izmir ein­ge­führt. Sie sol­len Per­so­nen ohne gül­ti­ge Doku­men­te auf­grei­fen. Sie traut sich des­halb nicht mehr auf die Stra­ße. Wir hol­ten sie ab und gin­gen den Weg zum Büro gemein­sam, damit wir ein Bera­tungs­ge­spräch füh­ren kön­nen. Sie ent­schloss sich dann, den Weg zur Behör­de beglei­tet von einem Anwalt unse­rer Orga­ni­sa­ti­on zu wagen. In letz­ter Sekun­de, kurz vor dem Amts­ge­bäu­de, ver­lor sie schließ­lich den Mut und dreh­te um.

Wovor hat sie Angst?

Syrer*innen, die ohne gül­ti­ge Doku­men­te auf­ge­grif­fen wer­den, die sich ohne Erlaub­nis außer­halb der ihnen zuge­wie­se­nen Regi­on auf­hal­ten oder in deren Akten Sicher­heits­be­den­ken ver­merkt wur­den, wer­den in soge­nann­te Tem­po­rä­re Unter­brin­gungs­zen­tren gebracht. Das sind Lager in den süd­öst­li­chen Grenz­re­gio­nen der Tür­kei. Es heißt, dort sei die Regis­trie­rung zum Tem­po­rä­ren Schutz­sta­tus mög­lich. Prak­tisch aber sind sie dort auf unge­wis­se Zeit fak­tisch inhaf­tiert, vie­le wer­den zur Rück­kehr nach Syri­en gedrängt. Davor hat die Frau Angst, und auch wir kön­nen ihr kei­ne Sicher­heit garantieren.

Die Gefahr, in Abschie­bungs­zen­tren gebracht zu wer­den, besteht manch­mal auch, obwohl gül­ti­ge Papie­re vor­han­den sind.

Es war bereits ihr zwei­ter Ver­such, sich für den Tem­po­rä­ren Schutz­sta­tus zu regis­trie­ren. Das ers­te Mal wur­de sie von Izmir nach Uşak ver­wie­sen. Doch auch in Uşak wur­de ihr der Zugang zum Tem­po­rä­ren Schutz ver­wei­gert. Zu dem Zeit­punkt war sie schwan­ger, sie bekam ihr Kind dort, in der Hoff­nung, dann end­lich einen Sta­tus zu erhal­ten. Lei­der vergebens.

Du hast jetzt von syri­schen Geflüch­te­ten gespro­chen, die eigent­lich unter den Tem­po­rä­ren Schutz fal­len soll­ten, denen der Zugang aber regel­mä­ßig ver­sperrt bleibt. Wie steht es um die Sicher­heit von Afghan*innen und Iraner*innen, den wei­te­ren gro­ßen Flucht­grup­pen in der Türkei?

Lei­der nicht bes­ser. Für nicht-syri­sche Geflüch­te­te, die theo­re­tisch ein Recht haben, einen Antrag auf inter­na­tio­na­len Schutz zu stel­len, soll­te die Regis­trie­rung zu die­sem Ver­fah­ren in gewis­sen Städ­ten offen­ste­hen. Doch auch sie wer­den oft von den zustän­di­gen Stel­len abge­wie­sen. Wenn sie aller­dings ohne gül­ti­ge Doku­men­te auf­ge­grif­fen wer­den, droht die Abschie­be­haft. Die Gefahr, in Abschie­bungs­zen­tren gebracht zu wer­den, besteht manch­mal auch, obwohl gül­ti­ge Papie­re vor­han­den sind oder wenn soge­nann­te Sicher­heits­ver­mer­ke in den Papie­ren ste­hen. Abschie­bun­gen fin­den statt.

Unse­re Anwält*innen ver­su­chen, den Regis­trie­rungs­pro­zess zu unter­stüt­zen und so Zugang zu einem Schutz­sta­tus zu errei­chen. Wir pro­bie­ren immer wie­der neue Stra­te­gien aus, etwa, indem wir ver­su­chen, das Schutz­ge­such bezie­hungs­wei­se die Regis­trie­rung pos­ta­lisch zu stel­len. Bis­lang jedoch ohne gro­ßen Erfolg. Auch die anwalt­li­che Ver­tre­tung bedeu­tet also kei­ne Garan­tien. Für vie­le Flücht­lin­ge in der Tür­kei ist die Lage aussichtslos.

Hast du den Ein­druck, dass das Erd­be­ben die Lage von Geflüch­te­ten in der Tür­kei ver­än­dert hat?

Für die­je­ni­gen, die von dem Erd­be­ben unmit­tel­bar betrof­fen gewe­sen sind, ist das natür­lich der Fall. Da ein beträcht­li­cher Teil der Flücht­lin­ge in der Tür­kei in dem Gebiet gelebt hat, wirkt sich das natür­lich auch auf ande­re Lan­des­tei­le aus. Auch führ­ten das Erd­be­ben und die erneu­te Ver­trei­bung dazu, dass ein­zel­ne Per­so­nen häu­fi­ger Kon­takt zu den Behör­den haben muss­ten, was immer die Gefahr der Unsi­cher­heit birgt.

Ins­ge­samt den­ke ich aber, dass wir eher auf wei­te­re Fak­to­ren bli­cken müs­sen: Das Erd­be­ben fiel in den Prä­si­dent­schafts­wahl­kampf, der dann wie­der­ge­wähl­te Erdoğan, sein Her­aus­for­de­rer Kilicda­roğ­lu und vie­le Par­tei­en mach­ten Migra­ti­on und Flücht­lin­ge zu einem sehr prä­sen­ten The­ma. Bekann­te Politiker*innen sta­chel­ten die Stim­mung wei­ter an. Auf Social-Media-Kanä­len wur­den Geflüch­te­te für die Natur­ka­ta­stro­phe ver­ant­wort­lich gemacht. Die­se feind­li­che Stim­mung wirkt sich sehr stark auf die rea­le Lebens­si­tua­ti­on der Flücht­lin­ge aus. Hin­zu kommt die ange­spann­te wirt­schaft­li­che Situa­ti­on, die star­ke Inflationen.

Vie­le sehen kei­ne Per­spek­ti­ve mehr in der Tür­kei. Trotz der Gefah­ren, die die­se Flucht mit sich bringt, spie­len vie­le mit dem Gedan­ken, wei­ter nach Euro­pa zu flie­hen. Ande­re den­ken dar­über nach, nach Syri­en zurück­zu­keh­ren. Es ist vor allem der feh­len­de Zugang zur Regis­trie­rung, und damit zum siche­ren Sta­tus in der Tür­kei, der die Men­schen umtreibt. Aber auch die zuneh­men­de Dis­kri­mi­nie­rung und die schwie­ri­ge finan­zi­el­le Situa­ti­on spie­len eine gro­ße Rolle.

(mz)