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»Für viele Flüchtlinge in der Türkei ist die Lage aussichtslos«
Die türkische Partnerorganisation von PRO ASYL, Mülteci-Der in Izmir, hat im vergangenen Jahr Schutzsuchende unterstützt, die vom starken Erdbeben im Südosten des Landes betroffen waren. Im Interview schildert Nursen von Mülteci-Der uns die existenziellen Herausforderungen, vor denen sie in der Türkei weiterhin stehen.
Im Februar 2023 erschütterten heftige Erdbeben den Südosten der Türkei und den Nordwesten Syriens. Viele Menschen kamen ums Leben. Viele Städte sind weiterhin unbewohnbar. In der Türkei waren etwa 15 Millionen Menschen unmittelbar betroffen, darunter etwa zwei Millionen Geflüchtete. Wie hast du das vergangene Jahr bei Mülteci-Der erlebt?
Anfangs war alles sehr chaotisch, wir hatten keinen langfristigen Plan und haben einfach gemacht, was gerade anfiel. Izmir ist weit weg von den Provinzen, von den Städten und Dörfern, die durch das Erdbeben zum Teil komplett zerstört wurden. Um zu erfahren, wie die Situation ist, was gebraucht wird, haben wir versucht, Personen zu kontaktieren, die wir schon unterstützten oder unterstützt hatten und die dort lebten. Das war eine Hilfe aus der Distanz. Eine große Frage war, ob es möglich ist, die Region zu verlassen. Für Geflüchtete in der Türkei herrscht eine strenge Residenzpflicht, wer die zugewiesene Region auch nur kurz verlassen möchte, muss eine Genehmigung beantragen. Ansonsten drohen harte Konsequenzen bis hin zur Abschiebung. Doch auch die Räume der zuständigen Behörden waren ja zerstört. Als klar wurde, dass die Genehmigungen nachträglich beantragt werden können, verließen alle, die irgendwie konnten, die Region. »Hauptsache weg« war das Credo der ersten Phase nach dem Erdbeben.
Geflüchtete, die von dem Erdbeben betroffen waren, waren faktisch von staatlichen Notunterkünften ausgeschlossen.
Auf den Straßen von Izmir wurde das sichtbar, weil es immer mehr Obdachlose gab. Geflüchtete, die von dem Erdbeben betroffen waren, waren faktisch von staatlichen Notunterkünften ausgeschlossen. Alle versuchten deswegen dort hinzukommen, wo sie Anknüpfungspunkte hatten und irgendwie unterkommen konnten, etwa bei Freund*innen oder Verwandten. Izmir war also manchmal nur eine Zwischenstation. Wir halfen, indem wir Tickets organisierten, uns mit anderen Initiativen vernetzen und unser Büro zum warmen Warteraum umfunktionierten. Wer in Izmir bleiben wollte, den informierten wir so gut es ging über die Regularien und unterstützten ihn dabei, Kontakt zu den Behörden aufzunehmen. Hier in Izmir war genau eine Person für die Reisedokumente zuständig, entsprechend chaotisch ging es dort zu. Das ging die ersten drei beziehungsweise fünf Monate so, solange waren die außerordentlichen Reisegenehmigungen gültig.
Könntest du etwas ins Detail gehen: Was meinst du damit, wenn Du sagt, dass die Gruppe der Geflüchteten faktisch von den Notschlafstellen beziehungsweise Notunterkünften ausgeschlossen wurde?
Insbesondere in der ersten Zeit nach dem Erdbeben blieben staatliche Weisungen und Stellungnahmen zur Frage der Zugangsberechtigung beziehungsweise Gleichstellung von Geflüchteten aus. Getrieben von der bereits zuvor angeheizten rassistischen Stimmungsmache ging das Schreckgespenst um, Geflüchtete könnten mehr Hilfe erhalten als die betroffenen Türk*innen. Das öffnete den Raum für Spekulationen und Anfeindungen. Viele Organisationen und Personen aus unserem Netzwerk wurden deswegen angefeindet.
Statt transparent zu kommunizieren gaben die verantwortlichen Behörden in Treffen mit zivilgesellschaftlichen Stellen, etwa mit uns, wichtige Informationen weiter, zum Beispiel, dass für Geflüchtete eben kein Platz in den Notunterkünften sei. Wir wurden damit zum Sprachrohr umfunktioniert, eine sehr undankbare Aufgabe.
Wie ging es dann weiter, fünf Monate nach dem Erdbeben?
Nach diesem ersten Schock war genau das die große Frage: Wie soll es weitergehen? Das war die nächste Phase. Zum zweiten Mal hatten viele alles verloren. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Einige gingen zurück in die Erdbebenregionen, in der Hoffnung, dass ein Neustart möglich wird. Dabei ereigneten sich teils dramatische Szenen: Eine Familie etwa reiste wieder nach Adiyaman, als es Berichte darüber gab, dass Zelte und Container verteilt werden. Sie befürchteten, ansonsten keinen Platz mehr zu bekommen. Aber dann wurde das Gebiet durch die Fluten erneut verwüstet.
Andere versuchten, staatliche Hilfe für Erdbebengeschädigte zu beantragen, solche Hilfspakete sollten etwa jenen helfen, die ihre Wohnung oder ihr Haus verloren haben. Auch wenn es keinen rechtlichen Ausschluss für Geflüchtete gegeben hat, gingen sie in der Regel leer aus, da sie die bürokratischen Anforderungen nicht erfüllen konnten.
Wieder andere haben sich entschieden in der neuen Stadt, zum Beispiel Izmir, zu bleiben. Doch auch das ist schwer. Zwar wurde die Reisegenehmigung bislang immer wieder verlängert, hier gibt es keine Probleme. Weiterhin wird die Registrierung jedoch nicht auf die neue Provinz übertragen. Keiner weiß, wie lange die Reisegenehmigungen verlängert werden. Von heute auf morgen kann das vorbei sein. Eine langfristige Perspektive ist das also nicht. Dabei ist klar, dass der Wiederaufbau Jahre in Anspruch nehmen wird.
Bereits vor dem Erdbeben galt die Registrierung für den Temporären Schutz beziehungsweise für die Statusdeterminierung bei den Behörden als das größte Problem von Geflüchteten in der Türkei. Ist das weiterhin der Fall?
Ja, definitiv. Vor etwa einen Monat zum Beispiel war eine Frau bei uns, die aus Syrien geflohen ist und nun hier mit ihrem in Izmir unter dem Temporären Schutz registrierten Mann lebt. Sie haben ein gemeinsames Kind. Sie selbst jedoch konnte sich trotz aller Anstrengungen bislang nicht registrieren. Die Ehe ist auch nur nach religiösem Recht geschlossen, sonst wäre die Ehe vielleicht ein Ansatzpunkt.
Nun hat die Polizei im Oktober 2023 erneut ihre Präsenz stark erhöht. Eine spezielle Kontrolleinheit, sogenannte Mobile Migrationseinheiten, wurden in Izmir eingeführt. Sie sollen Personen ohne gültige Dokumente aufgreifen. Sie traut sich deshalb nicht mehr auf die Straße. Wir holten sie ab und gingen den Weg zum Büro gemeinsam, damit wir ein Beratungsgespräch führen können. Sie entschloss sich dann, den Weg zur Behörde begleitet von einem Anwalt unserer Organisation zu wagen. In letzter Sekunde, kurz vor dem Amtsgebäude, verlor sie schließlich den Mut und drehte um.
Wovor hat sie Angst?
Syrer*innen, die ohne gültige Dokumente aufgegriffen werden, die sich ohne Erlaubnis außerhalb der ihnen zugewiesenen Region aufhalten oder in deren Akten Sicherheitsbedenken vermerkt wurden, werden in sogenannte Temporäre Unterbringungszentren gebracht. Das sind Lager in den südöstlichen Grenzregionen der Türkei. Es heißt, dort sei die Registrierung zum Temporären Schutzstatus möglich. Praktisch aber sind sie dort auf ungewisse Zeit faktisch inhaftiert, viele werden zur Rückkehr nach Syrien gedrängt. Davor hat die Frau Angst, und auch wir können ihr keine Sicherheit garantieren.
Die Gefahr, in Abschiebungszentren gebracht zu werden, besteht manchmal auch, obwohl gültige Papiere vorhanden sind.
Es war bereits ihr zweiter Versuch, sich für den Temporären Schutzstatus zu registrieren. Das erste Mal wurde sie von Izmir nach Uşak verwiesen. Doch auch in Uşak wurde ihr der Zugang zum Temporären Schutz verweigert. Zu dem Zeitpunkt war sie schwanger, sie bekam ihr Kind dort, in der Hoffnung, dann endlich einen Status zu erhalten. Leider vergebens.
Du hast jetzt von syrischen Geflüchteten gesprochen, die eigentlich unter den Temporären Schutz fallen sollten, denen der Zugang aber regelmäßig versperrt bleibt. Wie steht es um die Sicherheit von Afghan*innen und Iraner*innen, den weiteren großen Fluchtgruppen in der Türkei?
Leider nicht besser. Für nicht-syrische Geflüchtete, die theoretisch ein Recht haben, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, sollte die Registrierung zu diesem Verfahren in gewissen Städten offenstehen. Doch auch sie werden oft von den zuständigen Stellen abgewiesen. Wenn sie allerdings ohne gültige Dokumente aufgegriffen werden, droht die Abschiebehaft. Die Gefahr, in Abschiebungszentren gebracht zu werden, besteht manchmal auch, obwohl gültige Papiere vorhanden sind oder wenn sogenannte Sicherheitsvermerke in den Papieren stehen. Abschiebungen finden statt.
Unsere Anwält*innen versuchen, den Registrierungsprozess zu unterstützen und so Zugang zu einem Schutzstatus zu erreichen. Wir probieren immer wieder neue Strategien aus, etwa, indem wir versuchen, das Schutzgesuch beziehungsweise die Registrierung postalisch zu stellen. Bislang jedoch ohne großen Erfolg. Auch die anwaltliche Vertretung bedeutet also keine Garantien. Für viele Flüchtlinge in der Türkei ist die Lage aussichtslos.
Hast du den Eindruck, dass das Erdbeben die Lage von Geflüchteten in der Türkei verändert hat?
Für diejenigen, die von dem Erdbeben unmittelbar betroffen gewesen sind, ist das natürlich der Fall. Da ein beträchtlicher Teil der Flüchtlinge in der Türkei in dem Gebiet gelebt hat, wirkt sich das natürlich auch auf andere Landesteile aus. Auch führten das Erdbeben und die erneute Vertreibung dazu, dass einzelne Personen häufiger Kontakt zu den Behörden haben mussten, was immer die Gefahr der Unsicherheit birgt.
Insgesamt denke ich aber, dass wir eher auf weitere Faktoren blicken müssen: Das Erdbeben fiel in den Präsidentschaftswahlkampf, der dann wiedergewählte Erdoğan, sein Herausforderer Kilicdaroğlu und viele Parteien machten Migration und Flüchtlinge zu einem sehr präsenten Thema. Bekannte Politiker*innen stachelten die Stimmung weiter an. Auf Social-Media-Kanälen wurden Geflüchtete für die Naturkatastrophe verantwortlich gemacht. Diese feindliche Stimmung wirkt sich sehr stark auf die reale Lebenssituation der Flüchtlinge aus. Hinzu kommt die angespannte wirtschaftliche Situation, die starke Inflationen.
Viele sehen keine Perspektive mehr in der Türkei. Trotz der Gefahren, die diese Flucht mit sich bringt, spielen viele mit dem Gedanken, weiter nach Europa zu fliehen. Andere denken darüber nach, nach Syrien zurückzukehren. Es ist vor allem der fehlende Zugang zur Registrierung, und damit zum sicheren Status in der Türkei, der die Menschen umtreibt. Aber auch die zunehmende Diskriminierung und die schwierige finanzielle Situation spielen eine große Rolle.
(mz)