24.07.2023
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Schutzsuchende Mädchen und Frauen auf der Flucht, erfahren oft Mehrfachdiskriminierung und müssen vor Gewalt geschützt werden. Foto: Gayatri Malhotra/ Unsplash

Die Reformpläne zum europäischen Asylsystem (GEAS) bedrohen die Menschenrechte von ohnehin vulnerablen Personengruppen wie Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, LGBTQIA*-Personen und Gewaltopfer auf der Flucht. Ein NGO-Bündnis warnt nun vor dem völkerrechtlichen Bruch mit der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen.

Spä­tes­tens seit dem 1. Juni 2023 hat sich die Euro­päi­sche Uni­on durch ihren Bei­tritt zur Istan­bul-Kon­ven­ti­on gesetz­lich ver­pflich­tet, Frau­en und Mäd­chen umfas­send vor Gewalt zu schüt­zen. Dies soll aus­drück­lich alle Frau­en und Mäd­chen in der EU ein­be­zie­hen – auch asyl­su­chen­de Per­so­nen oder Men­schen ohne fes­ten Aufenthaltstitel.

Die Reform­plä­ne zum euro­päi­schen Asyl­sys­tem aber bewir­ken das Gegen­teil. Daher warnt nun das Bünd­nis Istan­bul-Kon­ven­ti­on, bestehend aus über 20 Frau­en- und Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, in einem State­ment vor den fata­len Fol­gen der Reform­vor­ha­ben für vul­nerable Per­so­nen und for­dert die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen auf, sich an ihre men­schen- und völ­ker­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen zu hal­ten. Frau­en und Mäd­chen auf der Flucht haben ein Recht auf Gewaltschutz!

Das State­ment im Wortlaut:

Bündnis Istanbul-Konvention lehnt GEAS-Entwurf ab

Gemein­sa­mes State­ment zu den Kon­se­quen­zen des geplan­ten EU-Asyl­kom­pro­mis­ses für schutz­su­chen­de Frau­en und Men­schen auf der Flucht, die Mehr­fach­dis­kri­mi­nie­rung erfah­ren (müs­sen)

Am 1. Juni 2023 trat die Euro­päi­sche Uni­on der Istan­bul-Kon­ven­ti­on (IK) bei. Damit ist nicht nur in Deutsch­land, son­dern auch auf EU-Ebe­ne der umfas­sen­de Schutz von Frau­en und Mäd­chen vor Gewalt gesetz­lich ver­an­kert. Die­ser Schutz der Istan­bul-Kon­ven­ti­on ist aus­drück­lich dis­kri­mi­nie­rungs­frei für alle Frau­en und Mäd­chen in der EU umzu­set­zen – auch für Asyl­su­chen­de, auch für sol­che ohne Auf­ent­halts­recht. Nur eine Woche nach dem IK-Bei­tritt führt der Rat der EU-Innenminister*innen das Bekennt­nis zur Istan­bul-Kon­ven­ti­on ad absur­dum: Die Plä­ne für eine Reform des euro­päi­schen Asyl­sys­tems (GEAS), auf die sich der EU-Rat am 8. Juni 2023 einig­te, hebeln die Men­schen­rech­te von Geflüch­te­ten und dabei beson­ders von vul­ner­ablen Grup­pen wie asyl­su­chen­den Frau­en, Müt­tern, Mäd­chen, Kin­dern, Men­schen mit Behin­de­run­gen und Men­schen aus den LSBTIQA* Com­mu­ni­tys aus. Wird der Plan des EU-Rats Rea­li­tät, wird der völ­ker­recht­li­che Auf­trag zum Gewalt­schutz in sein Gegen­teil ver­kehrt. Das Bünd­nis Istan­bul-Kon­ven­ti­on lehnt die Plä­ne des EU-Rats ab. Zu erwar­ten ist nicht eine bes­se­re Asyl­po­li­tik, son­dern eine wei­te­re Eska­la­ti­on der Gewalt an den EU-Außengrenzen.

Wir for­dern die frau­en­po­li­ti­schen Akteur*innen auf, alles in ihrer Macht Ste­hen­de zu tun, die Umset­zung der Plä­ne zu ver­hin­dern, und statt­des­sen für ein huma­nes Asyl­recht ein­zu­tre­ten, das im Ein­klang mit den Vor­ga­ben der Istan­bul-Kon­ven­ti­on und ande­ren völ­ker­recht­li­chen Vor­ga­ben steht.

Dazu gehen wir auf zwei zen­tra­le Punk­te im Plan des EU-Rats ein:

  • das Grenz­ver­fah­ren
    und
  • das Kon­zept soge­nann­ter »Siche­rer Drittstaaten«.

Geflüch­te­te Men­schen, für die ein »Grenz­ver­fah­ren« vor­ge­se­hen ist, sol­len an der EU-Außen­gren­ze künf­tig wochen­lang unter haft­ähn­li­chen Bedin­gun­gen fest­ge­hal­ten wer­den: in geschlos­se­nen Lagern, mit ein­ge­schränk­ten Rechts­schutz­mög­lich­kei­ten und abseh­bar feh­len­dem Zugang zu Bera­tung oder adäqua­ter medi­zi­ni­scher oder psy­cho­lo­gi­scher Unter­stüt­zung. Die­se Grenz­ver­fah­ren sol­len für Geflüch­te­te aus Län­dern mit einer Aner­ken­nungs­quo­te von unter 20 % ver­pflich­tend sein, sie sind aber auch für vie­le ande­re Grup­pen möglich.

Schon jetzt zeigt die Pra­xis, dass die Bedürf­nis­se etwa von Frau­en oder Müt­tern mit Babys in den Lagern an den EU-Außen­gren­zen dra­ma­tisch miss­ach­tet wer­den. Lager sind kei­ne men­schen­wür­di­gen Auf­ent­halts­or­te. Sie sind ins­be­son­de­re für geflüch­te­te Frau­en, Müt­ter mit Kin­dern, que­e­re Men­schen, behin­der­te Men­schen und Men­schen, die Mehr­fach­dis­kri­mi­nie­rung erfah­ren müs­sen, unzu­mut­bar und sind dar­über hin­aus Orte, an denen sie nicht sicher sind und sie häu­fig (erneut) Gewalt erleben.

Das Kon­zept der Siche­ren Dritt­staa­ten wird die Chan­cen ankom­men­der Geflüch­te­ter auf Schutz und Sicher­heit in Euro­pa dra­ma­tisch ver­schlech­tern. Denn es eröff­net den EU-Staa­ten die Mög­lich­keit, geflüch­te­te Men­schen unab­hän­gig von ihrem Schutz­be­darf abzu­leh­nen, weil die­se angeb­lich in einem außer­eu­ro­päi­schen Dritt­staat hät­ten Schutz fin­den kön­nen. Ein Asyl­an­trag wird als »unzu­läs­sig« ein­ge­stuft und – soweit mög­lich – eine Abschie­bung ein­ge­lei­tet, ohne dass die Betrof­fe­nen ihre Flucht­grün­de hät­ten vor­tra­gen kön­nen. Das Bünd­nis Istan­bul-Kon­ven­ti­on for­dert, die­se Form der Zusam­men­ar­beit mit nicht-demo­kra­ti­schen und nicht gen­der­sen­si­blen soge­nann­ten »Siche­ren Dritt­staa­ten« einzustellen.

Die Bun­des­re­gie­rung hat dar­auf ver­wie­sen, in den Ver­hand­lun­gen im EU-Rat erreicht zu haben, dass eine »Ver­bin­dung« der Per­son zum »Siche­ren Dritt­staat« bestehen müs­se. Die Defi­ni­ti­on und Aus­le­gung, was ein »Siche­rer Dritt­staat« ist, steht den ein­zel­nen Staa­ten aller­dings weit­ge­hend frei. Erwart­bar ist, dass Staa­ten das Kri­te­ri­um der Durch­rei­se fest­le­gen: Ob z.B. Frau­en aus dem Iran oder vor den Tali­ban in Afgha­ni­stan geflo­hen sind, spielt kei­ne Rol­le mehr, sobald ein »Siche­rer Dritt­staat« auf ihrer Flucht­rou­te lag.

Auch berück­sich­ti­gen die EU-Plä­ne nicht, ob in den soge­nann­ten Siche­ren Dritt­staa­ten die Anwen­dung der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) garan­tiert ist, sodass auch eine Ket­ten­ab­schie­bung aus dem Dritt­staat in den Ver­fol­ger­staat nicht aus­ge­schlos­sen ist. Die­se Aus­he­be­lung des Asyl­rechts über das Kon­strukt der »Siche­ren Dritt­staa­ten« bricht ekla­tant mit den Vor­schrif­ten der Istan­bul-Kon­ven­ti­on, wel­che die GFK bekräf­tigt und Deutsch­land und die EU in Arti­kel 61 ver­pflich­tet, das völ­ker­recht­li­che Ver­bot der Zurück­wei­sung ein­zu­hal­ten und ins­be­son­de­re Frau­en und Mäd­chen mit Gewalt­er­fah­run­gen nicht in Län­der abzu­schie­ben, in denen ihnen wei­te­re Gewalt droht.

Selbst wenn die Flucht­grün­de der Schutz­su­chen­den an der EU-Gren­ze einer inhalt­li­chen Prü­fung unter­zo­gen wer­den, dro­hen die Grenz-Schnell­ver­fah­ren dazu zufüh­ren, dass der Schutz­be­darf spe­zi­fisch vul­nerabler Men­schen uner­kannt bleibt. Mit Arti­kel 60 ver­pflich­tet die Istan­bul-Kon­ven­ti­on die unter­zeich­nen­den Staa­ten und die EU dazu, geschlech­ter­sen­si­ble Auf­nah­me­ver­fah­ren und Hilfs­diens­te für Asyl­su­chen­de sowie geschlechts­spe­zi­fi­sche Leit­li­ni­en und geschlech­ter­sen­si­ble Asyl­ver­fah­ren aus­zu­ar­bei­ten. In den Haft­la­gern even­tu­ell erfol­gen­de Asyl­ver­fah­ren sol­len aber schon kurz nach der Ankunft der Geflüch­te­ten im Schnell­ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den. Eine sen­si­ble Prü­fung indi­vi­du­el­ler Schutz­grün­de durch geschul­tes Per­so­nal, wie von der Istan­bul-Kon­ven­ti­on gefor­dert, wird so ver­hin­dert. Dies erschwert es enorm, dass Betrof­fe­ne geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt eben­die­se als geschlechts­spe­zi­fi­schen Flucht­grund gel­tend machen kön­nen. Damit Frau­en etwa erlit­te­ne geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt offen­ba­ren kön­nen, braucht es Zeit, Sen­si­bi­li­tät und eine unter­stüt­zen­de Umgebung.

Auch que­er­feind­li­che Ver­fol­gung und Unter­drü­ckung las­sen sich als Flucht­grund nicht gel­tend machen, wenn die Umstän­de der Antrag­stel­lung um Asyl ein Outing in siche­rer Umge­bung nicht gewähr­leis­ten. Die­se siche­re Umge­bung ist in Mas­sen­un­ter­künf­ten außer­halb der EU-Gren­zen nicht gege­ben. Dar­über hin­aus wäre unter die­sen Umstän­den der Zugang zu fach­kun­di­ger Unter­stüt­zung durch Rechts­ver­tre­tung, Fach­be­ra­tung und Com­mu­ni­ty de fac­to abge­schnit­ten. Die­ses Ver­fah­ren steht in direk­tem Wider­spruch zu den im Koali­ti­ons­ver­trag ange­kün­dig­ten Vor­ha­ben der Bun­des­re­gie­rung, LSBTIQA*-Geflüchtete als beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Grup­pe anzu­er­ken­nen und zu schützen.

Eine gute Vor­be­rei­tung auf das Asyl­ver­fah­ren und die Anhö­rung sowie eine früh­zei­ti­ge recht­li­che Unter­stüt­zung ist bei geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt sehr wich­tig. Denn vie­len Betrof­fe­nen fällt es sehr schwer, über Gewalt­er­fah­run­gen, ins­be­son­de­re sexua­li­sier­te Gewalt zu spre­chen und sich ande­ren, zudem frem­den Per­so­nen gegen­über zu öff­nen. Aus Stu­di­en ist bekannt, dass vie­le betrof­fe­ne Frau­en aus ver­schie­de­nen Grün­den lan­ge Zeit schweigen.

Anstatt bestehen­de Men­schen­rechts­ab­kom­men wie die Istan­bul-Kon­ven­ti­on umzu­set­zen – wie im Koali­ti­ons­ver­trag ver­spro­chen – miss­ach­tet die Bun­des­re­gie­rung ihre Ver­pflich­tung, alles zu unter­neh­men, um Frau­en, Mäd­chen und que­e­re Men­schen vor geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt zu schützen.

Mit dem »Asyl­kom­pro­miss« wird das gan­ze Kapi­tel VII (Migra­ti­on & Asyl) der Istan­bul-Kon­ven­ti­on unter­lau­fen. Um den Schutz von geflüch­te­ten Frau­en, Müt­tern, Mäd­chen und LSBTIQA*-Personen euro­pa­weit zu gewähr­leis­ten, müs­sen bestehen­de Richt­li­ni­en um geschlechts­spe­zi­fi­sche und inter­sek­tio­na­le Mecha­nis­men wei­ter­ent­wi­ckelt und nicht aus­ge­he­belt werden.

Sowohl die EU als auch die Bun­des­re­gie­rung wer­den auf­ge­for­dert, Art. 60 IK sowie die EU-Richt­li­nie 2013/33370 ein­zu­hal­ten. Die­se ver­pflich­ten zur Ein­rich­tung eines Ver­fah­rens zur Iden­ti­fi­zie­rung und Auf­nah­me beson­ders schutz­be­dürf­ti­ger Men­schen (Art. 21 RL 2013/33/EU) sowie dazu, die beson­de­ren Bedürf­nis­se die­ser Men­schen im Asyl­ver­fah­ren zu berück­sich­ti­gen. Zu die­ser Grup­pe gehö­ren schwan­ge­re Frau­en, allein­rei­sen­de Frau­en mit Kin­dern, Men­schen mit Behin­de­run­gen, sowie die­je­ni­gen, die schwe­re For­men psy­chi­scher, phy­si­scher oder sexu­el­ler Gewalt erlit­ten haben.

Juli 2023

In Kennt­nis der aktu­ell statt­fin­den­den Rechts­brü­che und Dra­men an den EU-Außen­gren­zen sagen wir: Kei­ne EU-Reform ist bes­ser als die nun im Raum ste­hen­de Reform. Das Bünd­nis Istan­bul-Kon­ven­ti­on for­dert die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen drin­gend auf, sich dafür ein­zu­set­zen, dass ein künf­ti­ges EU-Asyl­recht im Ein­klang mit men­schen- und völ­ker­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen steht.

Ber­li­ner Initia­ti­ve gegen Gewalt an Frau­en – BIG e.V.

Bun­de­ar­beits­ge­mein­schaft Auto­no­me Mädchenhäuser

Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Femi­nis­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen gegen Sexu­el­le Gewalt an Mäd­chen und Frau­en e.V.

Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Täter­ar­beit Häus­li­che Gewalt e.V.

Bun­des­fach­ber­band Femi­nis­ti­sche Selbst­be­haup­tung und Selbst­ver­tei­di­gung e.V.

Bun­des­ver­band Trans* e.V.

Bun­des­ver­band Frau­en­be­ra­tungs­stel­len und Frau­en­not­ru­fe – Frau­en gegen Gewalt (bff)

Bro­ken Rain­bow e.V.

DaMi­gra e.V.

Deut­scher Frau­en­rat – Lob­by der Frau­en in Deutsch­land e.V. (DF)

Deut­scher Juris­tin­nen­bund e.V. (djb)

Frau­en­haus­ko­or­di­nie­rung e.V.

GESINE Inter­ven­ti­on

JUMEN e.V.

KOK – Bun­des­wei­ter Koor­di­nie­rungs­kreis gegen Men­schen­han­del e.V.

medi­ca mon­dia­le e.V.

MIA – Müt­ter­initia­ti­ve für Allein­er­zie­hen­de e.V.

PRO ASYL Bun­des­wei­te Arbeits­ge­mein­schaft für Flücht­lin­ge e.V.

S.I.G.N.A.L. e.V. – Inter­ven­ti­on im Gesund­heits­be­reich gegen häus­li­che und sexua­li­sier­te Gewalt

Wei­ber­netz e.V. – Bun­des­netz­werk von Frau­en­Les­ben und Mäd­chen mit Beeinträchtigung

Zen­tra­le Infor­ma­ti­ons­stel­le Auto­no­mer Frauenhäuser