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Flüchtlinge aus Tschetschenien: Zu Hause gefährdet, in Deutschland von Abschiebung bedroht

Die nackte Angst vor staatlicher Willkür und Gewalt beherrscht das Leben in Tschetschenien. Statt einen Schutzstatus zu erhalten droht tschetschenischen Asylsuchenden die Abschiebung nach Polen.
Flüchtlinge wie Ruslan M. berichten von staatlicher Willkür und Gewalt. „Ich habe Angst, dass sie mich wieder holen und foltern werden. Ich bin mir sicher, dass ich nicht zurück kann“, sagte er bei seiner Ankunft in Deutschland. Tausende Flüchtlinge aus Tschetschenien sind in den letzten Monaten vor der Skrupellosigkeit des tschetschenischen Machtapparats geflohen. Nach einem Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) drohen mutmaßlichen Gegnern des Kadyrow-Regimes und deren Verwandten „Verschwindenlassen“ und Folter in Haftanstalten oder an geheimen Orten.
EGMR urteilt zu Tschetschenien
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hat am 22. Januar 2013 im Fall eines verschwundenen Tschetschenen entschieden, der von Kadyrows Sicherheitskräften entführt und misshandelt worden war. Da es zu keinerlei Strafverfolgung der Tat gekommen war, stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest – also eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Am 5. September 2013 erklärte der EGMR eine drohende Abschiebung aus Schweden nach Tschetschenien für menschenrechtswidrig. Das tschetschenische Ehepaar war ebenfalls gefoltert und entführt worden.
Situation von Frauen zunehmend verschlechtert
Unter Kadyrow hat sich auch die Situation der Frauen in Tschetschenien zunehmend verschlechtert, wie etwa Amnesty International berichtet. Gewalt und sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen nehmen zu und werden von staatlicher Seite nicht geahndet. Die Unterdrückung von Frauen wird – etwa durch halboffizielle Bekleidungsvorschriften – vom Kadyrow-Regime goutiert.
In Deutschland liegt die Russische Förderation seit Februar 2013 konstant an der Spitze der Herkunftsländer von Asylsuchenden, noch vor Syrien und Afghanistan. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren rund 90 Prozent der Menschen mit russischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland zwischen Januar und April 2013 Asyl beantragt hatten, Tschetschenen. Behauptungen, dass sie aus asylfremden Gründen kämen, rechtfertigen sich nicht: Im ersten Halbjahr 2013 lag die Schutzquote bei rund 20 Prozent – statistisch gesehen rund jeder Fünfte Asylsuchende aus der russischen Föderation bekam einen positiven Asylbescheid.
Sinkende Schutzquote
Die Schutzquote ist zuletzt allerdings wieder leicht gesunken. Das spricht dafür, dass die Behörden ihren Kurs gegenüber tschetschenischen Flüchtlingen verschärfen: Seit Jahresbeginn schrumpfte die Bearbeitungsdauer für Asylanträge aus der Russischen Föderation von ehemals über neun auf nur noch knapp über sechs Monate – in einer Zeit, in der die durchschnittliche Verfahrensdauer insgesamt länger wurde.
Nur ein Bruchteil der Asylverfahren für Menschen aus der Russischen Föderation wird überhaupt inhaltlich entschieden, da in der Regel eine Rücküberstellung nach Polen – wegen der EU-internen Zuständigkeitsregelung (Dublin-Verordnung) – angestrebt wird. Das Bundesamt prüft dann keine Asylgründe, sondern nur den Reiseweg – und der führt die meisten Tschtschenen über Polen nach Deutschland. Nach dem Dublin-System ist der EU-Staat zuständig, über den die Einreise in die EU stattfand. Auch in Bezug auf die Dublin-Fälle zeigt sich ein verschärfter Kurs der deutschen Behörden: Während im Januar 2013 noch 43 Prozent der Entscheidungen formell – in der Regel sind dies Dublin-Fälle – getroffen wurden, waren es im August bereits fast doppelt so viele (82 Prozent).
Zynismus beim Amtsgericht Eisenhüttenstadt
Schlagzeilen machte in den letzten Monaten das Amtsgericht Eisenhüttenstadt, das in den letzten Monaten immer wieder Asylsuchende kriminalisierte, die aus Polen nach Deutschland gekommen sind. Wegen des Vorwurfs der „illegalen Einreise“ wurden sogar Freiheitsstrafen ausgesprochen. Mit einem Rechtsstaat hat es nur noch wenig zu tun, wenn die Richterin in ihren Urteilen feststellt: Die Flüchtlinge seien „Asyltouristen“, die zu einem „Heer der Illegalen“ gehören. Deren Lebensunterhalt würde „in der Regel durch Straftaten“ verdient, meist „Schwarzarbeit“. Das führe dazu, dass es in „Ballungsgebieten immer mehr zu Spannungen“ komme, die sich „durch weitere Straftaten entladen“ würden. Der Juraprofessor Fischer-Lescano bezeichnet diese Kriminalisierung nicht nur als völkerrechtswidrig, sondern als zynisch. Die Rechtswidrigkeit der Strafurteile sei ganz offensichtlich.
Die tschetschenischen Asylsuchenden müssen sich nicht nur gegen die Kriminalisierung, sondern auch gegen die Abschiebungen nach Polen wehren und machen systemische Mängel des Asylsystems geltend. Sie beklagen die mangelhafte Gesundheitsversorgung und Therapie für Traumata. Weiterhin müssen nach Polen abgeschobene Asylsuchende damit rechnen, inhaftiert zu werden. Ob dann eine schnelle Überprüfung der Haft stattfindet, hängt von den Zugängen zu einer unabhängigen Beratung ab.
Drohende Obdachlosigkeit in Polen
Weiterhin sind vor allem anerkannte Flüchtlinge von Obdachlosigkeit betroffen. In einer Untersuchung (2013) zur Obdachlosigkeit und Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden kommt UNHCR zum Ergebnis, dass nur 20 Prozent der als schutzbedürftig Anerkannten sicher und angemessen untergebracht sind. Dreißig bis 40 Prozent landen in der Obdachlosigkeit, fünf bis zehn Prozent sogar auf der Straße.
Als Ursache nennt UNHCR verschiedene Gründe, darunter die vom Land selbst erklärten geringen Versorgungskapazitäten in den meisten Regionen und fehlende Konzepte gegen Obdachlosigkeit generell. Die Helsinki Foundation for Human Rights (HFHR) bestätigt zudem, dass es keinen hinreichenden effektiven Rechtsschutz in Asylverfahren gibt, so dass eine Verletzung des Zurückweisungsverbots – bis in den Verfolgerstaat – droht. Einige Verwaltungsgerichte haben dies zum Anlass genommen, die Abschiebungen nach Polen zu stoppen und die Lage in Polen genauer zu überprüfen.
Medienbericht: spiegel-online
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