28.10.2021
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Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt. Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul

Schläge, Kälte, Angst um ihre Kinder - und Freude darüber, es geschafft zu haben. Die Schutzsuchenden, die über Belarus und Polen nach Deutschland kommen, haben viel durchgemacht. Einige sprechen darüber mit Josephine Furian, seit zweieinhalb Jahren Seelsorgerin in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt. Im Interview berichtet sie.

Seit eini­gen Wochen kom­men vie­le Schutz­su­chen­de zu Ihnen und Ihren Kol­le­gen in den Seel­sor­ge­raum der Erst­auf­nah­me in Eisen­hüt­ten­stadt, die über Bela­rus und Polen nach Deutsch­land geflo­hen sind. Was bewegt die­se Schutz­su­chen­den am meisten?

Ein gro­ßes The­ma ist der Flucht­weg mit allem, was auf dem Weg pas­siert ist. Dabei gibt es ganz unter­schied­li­che Erleb­nis­se und Gefüh­le: Freu­de, Stolz, Dank­bar­keit, Scham, Angst, Wut. Vie­le sind froh, dass sie die Flucht über­stan­den haben und zunächst dank­bar, dass sie eine Unter­kunft haben. Und manch­mal auch stolz, so wie ein Mann, der es trotz sei­ner  Bein­pro­the­se durch den Wald über die Gren­zen geschafft hat.

War­um schä­men sich manche?

Zum Bei­spiel der Vater, der mir erzählt hat, dass er sich schämt, weil er vor den Augen sei­ner Kin­der von pol­ni­schen Uni­for­mier­ten zusam­men­ge­schla­gen wur­de und sich nun schwach fühlt  gegen­über sei­nen Kin­dern. Dazu muss ich sagen: Fast alle männ­li­chen Geflüch­te­ten, mit denen ich rede und die über Polen kamen, haben Häma­to­me am Kör­per. Und teil­wei­se haben die Men­schen auch Erfrie­run­gen, zum Bei­spiel  an den Füßen, weil sie in der Käl­te durch sump­fi­ges Gebiet gelau­fen sind oder in der Käl­te cam­pie­ren mussten.

Das alles löst Ängs­te und Wut aus?

Ja. Zum Bei­spiel erzähl­ten Eltern mir, dass ihre Kin­der beim Durch­que­ren des Flus­ses von der Strö­mung weg­ge­ris­sen wur­den. Sie haben sich erst eini­ge Tage spä­ter wie­der­ge­fun­den, ein Bekann­ter hat­te die Kin­der ent­deckt und zu ihnen gebracht. Wütend berich­ten vie­le Geflüch­te­te mir, dass ihnen nach dem Über­que­ren der pol­nisch-deut­schen Gren­ze in Deutsch­land die Han­dys weg­ge­nom­men wor­den sei­en. Das ist wirk­lich schlimm, denn die Han­dys sind wie Lebens­adern für sie. Fotos, Vide­os, Ermu­ti­gun­gen,  Kon­tak­te sind dar­in. Ver­bin­dun­gen zu Men­schen in der Hei­mat, aber auch zu Men­schen, die sie auf der Flucht getrof­fen haben. Und sie brau­chen auch die­se neu­en Bekann­ten, um sich in der Frem­de neue Netz­wer­ke auf­bau­en zu kön­nen, denn ihre Fami­lie haben sie zurückgelassen.

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Jose­phi­ne Furi­an ist Pfar­re­rin für Migra­ti­on und Inte­gra­ti­on im Spren­gel Gör­litz der EKBO (Evan­ge­li­schen Kir­che Ber­lin-Bran­den­burg-schle­si­sche Ober­lau­sitz) und Seel­sor­ge­rin in der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung Eisen­hüt­ten­stadt an der Gren­ze zu Polen.

Sie sind seit zwei­ein­halb Jah­ren als Seel­sor­ge­rin in der Erst­auf­nah­me Eisen­hüt­ten­stadt. Was ist anders bei denen, die jetzt ankom­men und seel­sor­ger­li­chen Rat bei Ihnen suchen?

Alle Geflüch­te­ten lei­den unter den gro­ßen Gefah­ren, denen sie bei der Über­win­dung der Gren­zen  aus­ge­setzt waren. Oft waren sie in Lebens­ge­fahr und hat­ten Todes­er­fah­run­gen! Jetzt berich­ten die Geflüch­te­ten von der Bedro­hung durch den Wald und die Uni­for­mier­ten. Bei Men­schen, die über ande­re Flucht­we­ge kamen,  ging die Bedro­hung vom Meer oder von den Gefäng­nis­sen in Liby­en aus.

»Aktu­ell gibt es Eng­päs­se bei der Klei­dung und auch beim Essen. Die Letz­ten in der Essen­schlan­ge haben eini­ge Tage nicht genug oder nichts mehr bekommen.«

Wie vie­le Män­ner, Frau­en und Kin­der  kom­men der­zeit in Eisen­hüt­ten­stadt an nach Ihrer Beobachtung?

Im ver­gan­ge­nen Jahr waren es etwa zehn Men­schen pro Tag, seit eini­gen Wochen sind es auch mal 100 am Tag.

Aus wel­chen Ländern?

Vie­le sind Kur­din­nen und Kur­den aus dem Irak, eini­ge aus dem Iran oder aus Syri­en. Auch aus Afgha­ni­stan sind ein paar Men­schen dabei, sie haben oft einen lan­gen Weg über Russ­land und Bela­rus hin­ter sich. Weni­ge kom­men aus Kenia oder Kamerun.

 Wer­den sie gut ver­sorgt in Deutschland?

Nach dem, was die Geflüch­te­ten mir berich­ten, nicht immer. Aktu­ell gibt es Eng­päs­se bei der Klei­dung und auch beim Essen. Die Letz­ten in der Essens­schlan­ge haben eini­ge Tage nicht genug oder nichts mehr bekom­men. Eine pol­ni­sche Jour­na­lis­tin, die das mit­be­kom­men hat, schickt jetzt drei gro­ße Pake­te mit Klei­dung. Und eine loka­le femi­nis­ti­sche Grup­pe dis­ku­tiert dar­über, eine Küfa, Küche für alle, zu orga­ni­sie­ren.  Denn in dem neu­en Gebäu­de, das von den Behör­den in den ver­gan­ge­nen Wochen eröff­net  wur­de,  gibt es teil­wei­se kei­ne Koch­mög­lich­keit. Und auch gar kein Inter­net oder so gut wie kei­nes. Das heißt, die Geflüch­te­ten kön­nen kei­nen Kon­takt auf­neh­men zu Fami­lie, neu­en Bekann­ten oder Orga­ni­sa­tio­nen, die Bera­tung anbieten.

Geflüch­te­te wer­den in einem ehe­ma­li­gen Gefäng­nis unter­ge­bracht. Das kann retrau­ma­ti­sie­rend wirken.

Muss­ten noch mehr neue Unter­künf­te eröff­net werden?

Ja, auch gro­ße, beheiz­ba­re Zel­te, Con­tai­ner und das ehe­ma­li­ge Abschiebegefängnis.

Geflüch­te­te wer­den in einem ehe­ma­li­gen Gefäng­nis untergebracht?

Das ist ganz schlimm, die Gefäng­nis­at­mo­sphä­re ist zu spü­ren und die  Fens­ter sind ver­git­tert. Das kann retrau­ma­ti­sie­rend wir­ken für Men­schen, die aus ihrer Hei­mat flie­hen, weil sie dort bedroht sind, oder die auf der Flucht miss­han­delt wurden.

Was kön­nen Sie als christ­li­che Seel­sor­ge­rin für die Schutz­su­chen­den tun?

Wir, das heißt mei­ne katho­li­sche Kol­le­gin und ein kop­ti­scher Kol­le­ge vom Jesui­ten Flücht­lings­dienst, haben einen eige­nen Seel­sor­ge­raum in der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung. In die­sem Schutz­raum kön­nen wir Seel­sor­ge und damit auch Ent­las­tungs­ge­sprä­che  anbie­ten.  Zu uns kom­men Gläu­bi­ge aller Reli­gio­nen, eben­so auch nicht-gläu­bi­ge Men­schen. Mei­ner Erfah­rung nach kann der Glau­be Men­schen hel­fen, die Resi­li­enz  zu stär­ken und schreck­li­che Erleb­nis­se auf der Flucht zu ver­ar­bei­ten. Sie sagen zum Bei­spiel: Im Meer bin ich fast gestor­ben, aber Gott hat mich geret­tet, ich bin auf­er­stan­den. Oder: Gott ist in mir. Und wirkt stär­ker als die Dämo­nen des Rassismus.

 

(wr)