28.01.2012
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Die griechische Haftanstalt Tychero, Zelle eins: Zum Zeitpunkt der Aufnahme im Frühling 2011 waren hier etwa 170 Flüchtlinge auf engstem Raum eingesperrt.

Verdrehung der Tatsachen: Nach einem EU-Innenministertreffen bezeichnet Innenstaatssekretär Schröder den Abschiebestopp nach Griechenland als „Geste der Solidarität“.

Am Don­ners­tag dis­ku­tier­ten die EU-Innen­mi­nis­ter in Kopen­ha­gen über „Soli­da­ri­tät“ in Hin­blick auf die euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik. Das Signal, das hier­bei von Deutsch­land aus­ging, ist ein­deu­tig: Ein soli­da­ri­sches Sys­tem zur Auf­nah­me von Flücht­lin­gen in der EU wird es mit Deutsch­land nicht geben. Innen­staats­se­kre­tär Ole Schrö­der bekräf­tig­te, die Bun­des­re­gie­rung wer­de auf jeden Fall an der Dub­lin-II-Ver­ord­nung fest­hal­ten. Die­se sieht vor, dass Flücht­lin­ge  in der Regel dort ihren Asyl­an­trag stel­len müs­sen, wo sie euro­päi­schen Boden betre­ten haben.

Dass die Dub­lin-Ver­ord­nung unso­li­da­risch ist und in der Pra­xis zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen führt, ist offen­sicht­lich. Die Ver­ord­nung sorgt dafür, dass die Ver­ant­wor­tung für die Flücht­lin­ge den EU-Staa­ten an den Außen­gren­zen auf­ge­bür­det wird. 

Grie­chen­land, Ita­li­en, Mal­ta, Ungarn und ande­re Staa­ten am Ran­de der EU ver­wei­gern sich jedoch einer men­schen­wür­di­gen Auf­nah­me von Flücht­lin­gen oder sehen sich außer Stan­de die­se zu gewähr­leis­ten. Der Man­gel an Soli­da­ri­tät unter den EU-Mit­glied­staa­ten führt so zu orga­ni­sier­ter Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit gegen­über schutz­su­chen­den Menschen.

Der Euro­päi­sche Men­schen­rechts­ge­richts­hof (EMGR) hat daher schon wie­der­holt Abschie­bun­gen in Län­der an den EU-Außen­gren­zen unter­sagt. Bereits im Janu­ar 2011 ver­ur­teil­te er Grie­chen­land auf­grund der men­schen­un­wür­di­gen Inhaf­tie­rungs­pra­xis von Schutz­su­chen­den sowie Bel­gi­en, da das Land Asyl­su­chen­de nach Grie­chen­land abge­scho­ben hat­te. Seit dem Urteil des EMGR exis­tiert fak­tisch ein euro­pa­wei­ter Über­stel­lungs­stopp nach Grie­chen­land. In einem Urteil am 21.Dezember 2011 hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof in Luxem­burg – eben­falls am Bei­spiel Grie­chen­land – klar­ge­stellt: Ein blin­des Abschie­ben der Ver­ant­wor­tung ist nicht im Ein­klang mit den Men­schen­rech­ten und der EU-Grundrechtecharta.

Für die Bun­des­re­gie­rung ist dies aller­dings kein Anlass, end­lich das Ver­sa­gen des Dub­lin-Sys­tems ein­zu­ge­ste­hen und sich in der EU für eine soli­da­ri­sche und huma­ne Flücht­lings­po­li­tik ein­zu­set­zen. Viel­mehr zeig­te Staats­se­kre­tär Ole Schrö­der ange­sichts des durch die bei­den euro­päi­schen Gerichts­hö­fe erzwun­ge­nen Abschie­be­stopps nach Grie­chen­land außer­or­dent­li­che Krea­ti­vi­tät: Gegen­über der Nach­rich­ten­agen­tur dpa ließ er ver­lau­ten, der Abschie­be­stopp nach Grie­chen­land sei eine „Ges­te der Soli­da­ri­tät“. Dass Deutsch­land im Jahr 2011 rund 5000 Asyl­su­chen­de, die aus Grie­chen­land ein­reis­ten, nicht zurück­ge­schickt habe, zei­ge, „dass wir unse­rer huma­ni­tä­ren Ver­ant­wor­tung gerecht wer­den“, wird  Schrö­der in den Medi­en zitiert. Eine beacht­li­che Ver­dre­hung der Tatsachen.

Walls of Shame: Accounts from the Insi­de. The Detenti­on Cen­tres in Evros (eng­lisch­spra­chi­ger Bericht), April 2012

Über­le­ben im Tran­sit: Zur Situa­ti­on von Flücht­lin­gen in der Tür­kei, März 2012

 Zehn Jah­re Dub­lin-II – zehn Jah­re geschei­ter­te Asyl­po­li­tik in Euro­pa (22.02.13)

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