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Breites Bündnis fordert: Nein zu Dublin IV!
In einem gemeinsamen Aufruf fordern Menschenrechtsorganisationen, Richter- und Anwaltsvereinigungen sowie in der Flüchtlingsarbeit tätigen Verbände vom Europäischen Rat, die Reformvorschläge der EU-Kommission, die sogenannte Dublin IV-Verordnung, zu stoppen.
Heute und am morgigen Freitag tagen in Brüssel die 28 europäischen Staats- und Regierungschefs. Beraten wird unter anderem über die europäische Asylrechtsreform und damit auch über die Zukunft des individuellen Rechts auf Asyl in Europa. Ein breites Bündnis appelliert in einem Aufruf an den Europäischen Rat, die Pläne zur Dublin-Reform, die Dublin IV-Verordnung, zu stoppen.
Das Dublin-System regelt, welcher EU-Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die auf dem Tisch liegenden Vorschläge der EU-Kommission verstoßen eklatant gegen Flüchtlingsrecht und Menschenrecht und sind ein Frontalangriff auf das Recht auf Asyl in Europa. Mit der geplanten Dublin IV-Reform rückt ein Europa der Solidarität in weite Ferne.
Der Schutz von Flüchtlingen wird auf die Staaten außerhalb Europas abgewälzt. Die Ersteinreisestaaten am Rande Europas bleiben auf ewig zuständig.
Das Bündnis kritisiert vor allem:
Die neue Dublin-Verordnung führt verpflichtend die Prüfung von Anträgen auf Unzulässigkeit ein. Im Rahmen dieses neuen Verfahrens soll geprüft werden, ob der Antragssteller in einen dritten Staat abgeschoben werden kann. Erfüllt der Antragsteller ein solches Kriterium, darf er nicht im Rahmen des Dublin-Verfahrens in einen anderen EU-Staat verteilt werden. Dies bedeutet, dass hauptsächlich die Staaten an den Außengrenzen der EU die Verantwortung für die Prüfung und ggf. Rückführung abgelehnter Asylsuchender innehaben werden.
Die Unzulässigkeitsverfahren führen dazu, dass eigentliche Fluchtgründe nicht mehr geprüft werden, sondern die Prüfung auf einen Drittstaat außerhalb der EU übergeht, der nicht die europarechtlichen Verfahrens- und Aufnahmegarantien erfüllt. Dadurch wird das individuelle Recht auf Asyl in der Europäischen Union vielfach ausgehebelt werden. Es droht zu Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen zu kommen, wenn die eigentlich bestehenden Kriterien für »erste Asylstaaten« oder »sichere Drittstaaten« in der Praxis missachtet werden und Flüchtlinge in Länder abgeschoben werden, in denen sie keinen effektiven Schutz bekommen und nicht angemessen versorgt werden.
Zum anderen würde sich die EU damit ihrer Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme entziehen. Dabei übernehmen bereits jetzt die ärmsten Staaten weltweit die meiste Verantwortung. Laut UNHCR halten sich 86% der weltweiten Flüchtlinge in sogenannten Entwicklungsländern auf. Die EU hat weiterhin eine Verantwortung, auch selbst Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Schutz zu bieten.
Das Ziel der EU, einen einheitlichen Raum der Schutzgewährung zu schaffen, wird grundsätzlich durch den Vorschlag der Kommission unterlaufen. Am Zuständigkeitskriterium der Ersteinreise wird trotz der breiten öffentlichen Kritik festgehalten. Wieder werden die Ersteinreisestaaten der EU überwiegend für die Aufnahme der Flüchtlinge verantwortlich sein. Der neue »Fairnessmechanismus« wird daran nichts Grundsätzliches ändern. Der Schlüssel basiert auf einer rein rechnerischen Quote und verpflichtende Unzulässigkeitsverfahren werden Staaten wie Griechenland oder Italien in noch größere Schwierigkeiten bringen, ein rechtsstaatliches Asylverfahren zu gewährleisten. Einige EU-Staaten sind zudem nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Auch durch die Verabschiedung neuer Verordnungen im Bereich des Asylverfahrenssystems wird sich an diesem Problem nichts ändern.
Verschärft wird die bereits bestehende Überforderung der EU-Außenstaaten durch die Abschaffung von Regelungen zum Zuständigkeitswechsel innerhalb der Mitgliedstaaten. Bislang hatten die EU-Staaten die Möglichkeit, aus humanitären oder politischen Gründen Asylanträge von Schutzsuchenden zu bearbeiten, für die sie ursprünglich nach den Zuständigkeitsregelungen von Dublin nicht zuständig gewesen sind. Aufgrund des Selbsteintrittsrechts hatten die EU-Staaten daher die Möglichkeit, flexibel auf extreme Situationen zu reagieren und schutzbedürftigen Flüchtlingen Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat z.B. in der Vergangenheit bei besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden, die in Bulgarien registriert wurden, das Selbsteintrittsrecht ausgeübt. Die EU-Kommission beschränkt das Selbsteintrittsrecht auf Familienkonstellationen und macht es daher unmöglich, adäquat und menschenwürdig auf humanitäre Notlagen zu reagieren. Auf eine solche Situation in Ungarn haben Deutschland und Österreich im September 2015 reagiert. Die Rechtsgrundlage dafür war Art. 17 der Dublin-Verordnung, der nun massiv eingeschränkt werden soll.
Mit der Einführung des Dublin-Systems sollte verhindert werden, dass Asylanträge über Monate und Jahre hinweg nicht geprüft werden und sich kein Staat für zuständig hält. Ziel war es, schnell die Zuständigkeit des Staates zu bestimmen, der inhaltlich den Asylantrag prüft. Damit dies gewährleistet wird, muss aktuell der Staat, in dem sich der Asylsuchende tatsächlich aufhält, im Rahmen verbindlicher Fristen die Überstellung in den anderen Mitgliedstaat durchführen oder danach selbst das Asylverfahren durchführen. Diese verbindlichen Fristen sollen nunmehr ersatzlos abgeschafft werden.
Mit dem Wegfall der Fristen und einem Scheitern der Überstellung haben betroffene Asylsuchende zukünftig auch über Jahre keine Möglichkeit mehr, im Staat ihres tatsächlichen Aufenthalts Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten, in dem ihre Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Der Staat, der als zuständiger Staat bestimmt wird, bleibt zuständig – auch wenn EU-Standards hinsichtlich der Aufnahmebedingen und der verfahrensrechtlichen Garantien nicht eingehalten werden. Schon jetzt untersagen zahlreiche Verwaltungsgerichte in Deutschland Überstellungen nach Bulgarien, Ungarn oder Italien in spezifischen Fallkonstellationen aus menschenrechtlichen Gründen. Diejenigen, die heute in Deutschland erfolgreich eine Klage führen, werden nach den Vorschlägen der Dublin-IV Verordnung zukünftig hier keinen Zugang zum Asylverfahren erhalten und stattdessen bestenfalls den Status einer Duldung erlangen.
Erschwerend kommt hinzu, dass weitergewanderte Schutzsuchende nach ihrer Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedstaat keinen Zugang zu einem regulären Asylverfahren haben werden, sondern allenfalls zu einem beschleunigten bzw. Folgeverfahren. Dies birgt die Gefahr, dass die eigentlichen Schutzgründe überhaupt nicht geprüft werden. Ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind in hohem Maße schutzbedürftig. Der Europäische Gerichtshof hat deshalb am 6. Juni 2013 im Falle von unbegleiteten Minderjährigen entschieden, dass diese grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedsstaat zur Durchführung des Asylverfahrens überstellt werden dürfen. Das Verfahren zur Bestimmung eines zuständigen Staates darf sich nicht länger als unbedingt nötig hinziehen, da der unbegleitete Minderjährige zu den besonders gefährdeten Personen zähle. Das Kindeswohl gebietet es nach Rechtsprechung des EuGH den Asylantrag in dem Staat durchzuführen, in dem sich der unbegleitete Minderjährige tatsächlich aufhält. Auch diese Vorschrift will die Europäische Kommission aufheben. Damit droht die Überstellung der am stärksten des Schutzes bedürftigen Flüchtlingsgruppe. Die Änderung der Dublin-IV-Verordnung verstößt gegen den Grundsatz des Vorrangs des Kindeswohls und gegen die Rechtsprechung des EuGH.
In den Vorschlägen findet zudem ein Ausschluss von materiellen Leistungen Eingang. Halten sich Asylsuchende nicht im Staat ihrer Zuweisung auf, sollen sie von »materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme« mit Ausnahme der »medizinischen Notversorgung« ausgeschlossen werden. Mit Hilfe dieser Sanktionierungen sollen Asylsuchende gezwungen werden, unabhängig von den Aufnahme- und Verfahrensbedingungen im zuständigen Mitgliedstaat zu verbleiben. Selbst das physische Existenzminimum soll nicht gewährt werden. Dieser Vorschlag verstößt gegen Menschenrechte und widerspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland. Dies ist menschenunwürdig.
Der Aufruf »Nein zu Dublin IV« wurde unterzeichnet von: PRO ASYL, Amnesty International, Diakonie Deutschland, der Paritätische Gesamtverband, Arbeiterwohlfahrt, Neue Richtervereinigung, die Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht des Deutschen Anwaltsvereins, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und der Republikanische Anwaltsverein.