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Ein Flüchtlingsjunge vor dem ungarischen Grenzzaun. Nach der geplanten Dublin-IV-Verordnung läuft künftig jeder Flüchtling Gefahr, ohne Prüfung der Fluchtgründe in einen Nicht-EU-Staat abgeschoben zu werden, über den er eingereist ist. Foto: UNHCR /Zsolt Balla

In einem gemeinsamen Aufruf fordern Menschenrechtsorganisationen, Richter- und Anwaltsvereinigungen sowie in der Flüchtlingsarbeit tätigen Verbände vom Europäischen Rat, die Reformvorschläge der EU-Kommission, die sogenannte Dublin IV-Verordnung, zu stoppen.

Heu­te und am mor­gi­gen Frei­tag tagen in Brüs­sel die 28 euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs. Bera­ten wird unter ande­rem über die euro­päi­sche Asyl­rechts­re­form und damit auch über die Zukunft des indi­vi­du­el­len Rechts auf Asyl in Euro­pa. Ein brei­tes Bünd­nis appel­liert in einem Auf­ruf an den Euro­päi­schen Rat, die Plä­ne zur Dub­lin-Reform, die Dub­lin IV-Ver­ord­nung, zu stoppen.

Das Dub­lin-Sys­tem regelt, wel­cher EU-Mit­glied­staat für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens zustän­dig ist. Die auf dem Tisch lie­gen­den Vor­schlä­ge der EU-Kom­mis­si­on ver­sto­ßen ekla­tant gegen Flücht­lings­recht und Men­schen­recht und sind ein Fron­tal­an­griff auf das Recht auf Asyl in Euro­pa. Mit der geplan­ten Dub­lin IV-Reform rückt ein Euro­pa der Soli­da­ri­tät in wei­te Ferne.

Der Schutz von Flücht­lin­gen wird auf die Staa­ten außer­halb Euro­pas abge­wälzt. Die Erst­ein­rei­se­staa­ten am Ran­de Euro­pas blei­ben auf ewig zuständig.

Das Bünd­nis kri­ti­siert vor allem:

Die neue Dub­lin-Ver­ord­nung führt ver­pflich­tend die Prü­fung von Anträ­gen auf Unzu­läs­sig­keit ein. Im Rah­men die­ses neu­en Ver­fah­rens soll geprüft wer­den, ob der Antrags­stel­ler in einen drit­ten Staat abge­scho­ben wer­den kann. Erfüllt der Antrag­stel­ler ein sol­ches Kri­te­ri­um, darf er nicht im Rah­men des Dub­lin-Ver­fah­rens in einen ande­ren EU-Staat ver­teilt wer­den. Dies bedeu­tet, dass haupt­säch­lich die Staa­ten an den Außen­gren­zen der EU die Ver­ant­wor­tung für die Prü­fung und ggf. Rück­füh­rung abge­lehn­ter Asyl­su­chen­der inne­ha­ben werden.

Die Unzu­läs­sig­keits­ver­fah­ren füh­ren dazu, dass eigent­li­che Flucht­grün­de nicht mehr geprüft wer­den, son­dern die Prü­fung auf einen Dritt­staat außer­halb der EU über­geht, der nicht die euro­pa­recht­li­chen Ver­fah­rens- und Auf­nah­me­ga­ran­tien erfüllt. Dadurch wird das indi­vi­du­el­le Recht auf Asyl in der Euro­päi­schen Uni­on viel­fach aus­ge­he­belt wer­den. Es droht zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Flücht­lin­gen zu kom­men, wenn die eigent­lich bestehen­den Kri­te­ri­en für »ers­te Asyl­staa­ten« oder »siche­re Dritt­staa­ten« in der Pra­xis miss­ach­tet wer­den und Flücht­lin­ge in Län­der abge­scho­ben wer­den, in denen sie kei­nen effek­ti­ven Schutz bekom­men und nicht ange­mes­sen ver­sorgt werden.

Zum ande­ren wür­de sich die EU damit ihrer Ver­ant­wor­tung für die Flücht­lings­auf­nah­me ent­zie­hen. Dabei über­neh­men bereits jetzt die ärms­ten Staa­ten welt­weit die meis­te Ver­ant­wor­tung. Laut UNHCR hal­ten sich 86% der welt­wei­ten Flücht­lin­ge in soge­nann­ten Ent­wick­lungs­län­dern auf. Die EU hat wei­ter­hin eine Ver­ant­wor­tung, auch selbst Flücht­lin­ge auf­zu­neh­men und ihnen Schutz zu bieten.

Das Ziel der EU, einen ein­heit­li­chen Raum der Schutz­ge­wäh­rung zu schaf­fen, wird grund­sätz­lich durch den Vor­schlag der Kom­mis­si­on unter­lau­fen. Am Zustän­dig­keits­kri­te­ri­um der Erst­ein­rei­se wird trotz der brei­ten öffent­li­chen Kri­tik fest­ge­hal­ten. Wie­der wer­den die Erst­ein­rei­se­staa­ten der EU über­wie­gend für die Auf­nah­me der Flücht­lin­ge ver­ant­wort­lich sein. Der neue »Fair­ness­me­cha­nis­mus« wird dar­an nichts Grund­sätz­li­ches ändern. Der Schlüs­sel basiert auf einer rein rech­ne­ri­schen Quo­te und ver­pflich­ten­de Unzu­läs­sig­keits­ver­fah­ren wer­den Staa­ten wie Grie­chen­land oder Ita­li­en in noch grö­ße­re Schwie­rig­kei­ten brin­gen, ein rechts­staat­li­ches Asyl­ver­fah­ren zu gewähr­leis­ten. Eini­ge EU-Staa­ten sind zudem nicht bereit, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men. Auch durch die Ver­ab­schie­dung neu­er Ver­ord­nun­gen im Bereich des Asyl­ver­fah­rens­sys­tems wird sich an die­sem Pro­blem nichts ändern.

Ver­schärft wird die bereits bestehen­de Über­for­de­rung der EU-Außen­staa­ten durch die Abschaf­fung von Rege­lun­gen zum Zustän­dig­keits­wech­sel inner­halb der Mit­glied­staa­ten. Bis­lang hat­ten die EU-Staa­ten die Mög­lich­keit, aus huma­ni­tä­ren oder poli­ti­schen Grün­den Asyl­an­trä­ge von Schutz­su­chen­den zu bear­bei­ten, für die sie ursprüng­lich nach den Zustän­dig­keits­re­ge­lun­gen von Dub­lin nicht zustän­dig gewe­sen sind. Auf­grund des Selbst­ein­tritts­rechts hat­ten die EU-Staa­ten daher die Mög­lich­keit, fle­xi­bel auf extre­me Situa­tio­nen zu reagie­ren und schutz­be­dürf­ti­gen Flücht­lin­gen Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren zu gewäh­ren. Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) hat z.B. in der Ver­gan­gen­heit bei beson­ders schutz­be­dürf­ti­gen Asyl­su­chen­den, die in Bul­ga­ri­en regis­triert wur­den, das Selbst­ein­tritts­recht aus­ge­übt. Die EU-Kom­mis­si­on beschränkt das Selbst­ein­tritts­recht auf Fami­li­en­kon­stel­la­tio­nen und macht es daher unmög­lich, adäquat und men­schen­wür­dig auf huma­ni­tä­re Not­la­gen zu reagie­ren. Auf eine sol­che Situa­ti­on in Ungarn haben Deutsch­land und Öster­reich im Sep­tem­ber 2015 reagiert. Die Rechts­grund­la­ge dafür war Art. 17 der Dub­lin-Ver­ord­nung, der nun mas­siv ein­ge­schränkt wer­den soll.

Mit der Ein­füh­rung des Dub­lin-Sys­tems soll­te ver­hin­dert wer­den, dass Asyl­an­trä­ge über Mona­te und Jah­re hin­weg nicht geprüft wer­den und sich kein Staat für zustän­dig hält. Ziel war es, schnell die Zustän­dig­keit des Staa­tes zu bestim­men, der inhalt­lich den Asyl­an­trag prüft. Damit dies gewähr­leis­tet wird, muss aktu­ell der Staat, in dem sich der Asyl­su­chen­de tat­säch­lich auf­hält, im Rah­men ver­bind­li­cher Fris­ten die Über­stel­lung in den ande­ren Mit­glied­staat durch­füh­ren oder danach selbst das Asyl­ver­fah­ren durch­füh­ren. Die­se ver­bind­li­chen Fris­ten sol­len nun­mehr ersatz­los abge­schafft werden.

Mit dem Weg­fall der Fris­ten und einem Schei­tern der Über­stel­lung haben betrof­fe­ne Asyl­su­chen­de zukünf­tig auch über Jah­re kei­ne Mög­lich­keit mehr, im Staat ihres tat­säch­li­chen Auf­ent­halts Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren zu erhal­ten, in dem ihre Flucht­grün­de inhalt­lich geprüft wer­den. Der Staat, der als zustän­di­ger Staat bestimmt wird, bleibt zustän­dig – auch wenn EU-Stan­dards hin­sicht­lich der Auf­nah­me­be­din­gen und der ver­fah­rens­recht­li­chen Garan­tien nicht ein­ge­hal­ten wer­den. Schon jetzt unter­sa­gen zahl­rei­che Ver­wal­tungs­ge­rich­te in Deutsch­land Über­stel­lun­gen nach Bul­ga­ri­en, Ungarn oder Ita­li­en in spe­zi­fi­schen Fall­kon­stel­la­tio­nen aus men­schen­recht­li­chen Grün­den. Die­je­ni­gen, die heu­te in Deutsch­land erfolg­reich eine Kla­ge füh­ren, wer­den nach den Vor­schlä­gen der Dub­lin-IV Ver­ord­nung zukünf­tig hier kei­nen Zugang zum Asyl­ver­fah­ren erhal­ten und  statt­des­sen bes­ten­falls den Sta­tus einer Dul­dung erlangen.

Erschwe­rend kommt hin­zu, dass wei­ter­ge­wan­der­te Schutz­su­chen­de nach ihrer Rück­über­stel­lung in den zustän­di­gen Mit­glied­staat kei­nen Zugang zu einem regu­lä­ren Asyl­ver­fah­ren haben wer­den, son­dern allen­falls zu einem beschleu­nig­ten bzw. Fol­ge­ver­fah­ren. Dies birgt die Gefahr, dass die eigent­li­chen Schutz­grün­de über­haupt nicht geprüft wer­den. Ein Ver­stoß gegen das Refou­le­ment-Ver­bot der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on droht.

Unbe­glei­te­te min­der­jäh­ri­ge Flücht­lin­ge sind in hohem Maße schutz­be­dürf­tig. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof hat des­halb am 6. Juni 2013 im Fal­le von unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen ent­schie­den, dass die­se grund­sätz­lich nicht in einen ande­ren Mit­glieds­staat zur Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens über­stellt wer­den dür­fen. Das Ver­fah­ren zur Bestim­mung eines zustän­di­gen Staa­tes darf sich nicht län­ger als unbe­dingt nötig hin­zie­hen, da der unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge zu den beson­ders gefähr­de­ten Per­so­nen zäh­le. Das Kin­des­wohl gebie­tet es nach Recht­spre­chung des EuGH den Asyl­an­trag in dem Staat durch­zu­füh­ren, in dem sich der unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge tat­säch­lich auf­hält. Auch die­se Vor­schrift will die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on auf­he­ben. Damit droht die Über­stel­lung  der am stärks­ten des Schut­zes bedürf­ti­gen Flücht­lings­grup­pe. Die Ände­rung der Dub­lin-IV-Ver­ord­nung ver­stößt gegen den Grund­satz des Vor­rangs des Kin­des­wohls und gegen die Recht­spre­chung des EuGH.

In den Vor­schlä­gen fin­det zudem ein Aus­schluss von mate­ri­el­len Leis­tun­gen Ein­gang. Hal­ten sich Asyl­su­chen­de nicht im Staat ihrer Zuwei­sung auf, sol­len sie von »mate­ri­el­len Leis­tun­gen im Rah­men der Auf­nah­me« mit Aus­nah­me der »medi­zi­ni­schen Not­ver­sor­gung« aus­ge­schlos­sen wer­den. Mit Hil­fe die­ser Sank­tio­nie­run­gen sol­len Asyl­su­chen­de gezwun­gen wer­den, unab­hän­gig von den Auf­nah­me- und Ver­fah­rens­be­din­gun­gen im zustän­di­gen Mit­glied­staat  zu ver­blei­ben. Selbst das phy­si­sche Exis­tenz­mi­ni­mum soll nicht gewährt wer­den. Die­ser Vor­schlag ver­stößt gegen Men­schen­rech­te und wider­spricht der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts in Deutsch­land. Dies ist menschenunwürdig.

Der Auf­ruf »Nein zu Dub­lin IV« wur­de unter­zeich­net von: PRO ASYL, Amnes­ty Inter­na­tio­nal, Dia­ko­nie Deutsch­land, der Pari­tä­ti­sche Gesamt­ver­band, Arbei­ter­wohl­fahrt, Neue Rich­ter­ver­ei­ni­gung, die Arbeits­ge­mein­schaft Migra­ti­ons­recht des Deut­schen Anwalts­ver­eins, der Jesui­ten-Flücht­lings­dienst und der Repu­bli­ka­ni­sche Anwaltsverein.