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Blinde Flecken: Flüchtlingsfeindliche Gewalt taucht in vielen Polizeistatistiken nicht auf
Bis 2018 war Gewalt gegen Geflüchtete ein Thema, das immer wieder in den Schlagzeilen war. Und heute? Ist es still geworden darum. So als ob es das alles nicht mehr gäbe. Doch das Gegenteil ist der Fall!
Es ist noch gar nicht so lange her, als erschreckende Bilder über die Fernsehbildschirme in deutschen Wohnzimmern flimmerten: Da sah man brennende Flüchtlingsunterkünfte oder einen wütenden Mob, der einen Bus mit Schutzsuchenden angriff. Freital, Dresden, Tröglitz, Chemnitz und viele weitere Städte – nicht nur im Osten Deutschlands – sind für viele Menschen zu Orten der Angst und Gewalt geworden.
Seit 2015 dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung flüchtlingsfeindliche Vorfälle in einer gemeinsamen Chronik mit PRO ASYL. Mehr als 11.000 Vorfälle, davon 284 Brandanschläge und 1.981 Körperverletzungen, listet die öffentlich zugängliche Chronik seitdem. Eine aktuelle Auswertung offenbart nun eine eklatante Verzerrung im Vergleich zur offiziellen Kriminalstatistik, die die Delikte nur mangelhaft und mit großer zeitlicher Verzögerung erfasst.
Laut Bundeskriminalamt (BKA) kam es im Jahr 2021 deutschlandweit jeden Tag zu durchschnittlich zwei flüchtlingsfeindlichen Vorfällen, wobei die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegen dürfte. Die Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL haben in einer Langzeitauswertung zusammengetragen, dass täglich fünf Menschen rassistisch angegriffen oder beleidigt werden; allein für das Jahr 2020 erfasst die Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle mehr als 1600 Angriffe gegen Geflüchtete.
»»Fast jeder, den ich kenne, wurde schon einmal beschimpft, bedroht oder geschlagen. Die Angst vor solchen Erfahrungen ist unser täglicher Begleiter««
Angst als täglicher Begleiter
»Die Bedrohungssituation gegen Geflüchtete hat nicht abgenommen: Wir fühlen uns allein gelassen. Ich kenne keinen, der nicht auch ein Lied davon singen kann, wie es sich anfühlt immer auf der Hut zu sein, ganz egal ob beim Einkaufen oder beim Spazieren gehen«, berichtet die Studentin und Autorin Naya Fahd. »Fast jeder, den ich kenne, wurde schon einmal beschimpft, bedroht oder geschlagen. Die Angst vor solchen Erfahrungen ist unser täglicher Begleiter«, sagt Fahd, die 2016 nach Deutschland kam und sich in Mecklenburg-Vorpommern für Geflüchtete engagiert. Sie hat als Autorin an der Langzeitauswertung mitgearbeitet, die Mitte Dezember veröffentlicht wurde.
Darin wird deutlich: Attacken mit Kampfhunden, Elektroschockern, Messern, Schlagstöcken, Glasflaschen, Schusswaffen, mit Schlagringen oder mit bloßen Fäusten zählen für Schutzsuchende in Deutschland zur brutalen Realität. Von rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen über Hakenkreuz-Schmierereien und Nazi-Runen an Asylunterkünften bis hin zu Hetzjagden und Anschlägen mit Sprengstoff oder Molotov-Cocktails reicht die Gewalt.
Der Täter konnte später von der eintreffenden Polizei identifiziert werden, er ist der Neonazi-Szene zuzurechnen. Die Polizei will jedoch keinen rechtsextremen Hintergrund in der Tat sehen.
Verprügelt mit Baseballschläger – nicht im »öffentlichen Interesse«
Dass ein Großteil dieser Fälle in den offiziellen Polizeistatistiken gar nicht auftaucht, ist skandalös. Zu ihnen zählen Schutzsuchende, die mit Baseballschlägern verprügelt werden oder Kinder, die auf dem Weg in die Schule bespuckt und geschlagen werden. Doch selbst krasse Fälle von Körperverletzung oder versuchtem Totschlag werden durch die Eingangsstatistiken der Polizei häufig nicht erfasst. Grund hierfür ist, dass diese Gewalt einigen Polizeidienststellen zufolge nicht im »öffentlichen Interesse« liege. Die Konsequenz ist, dass die Polizei keine Pressemitteilung dazu verfasst – und so weder Opferberatungs-stellen noch Journalist*innen davon erfahren, wenn die angegriffenen Menschen sich nicht selbst dazu äußern, was viele aus Angst oder Resignation nicht tun. Eine Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle listet verschiedene Fälle auf – wir stellen vier Beispiele vor.
17.09.2921, Eberswalde, Brandenburg: Zwei Männer und eine Frau beschimpften am Abend auf offener Straße einen 36-jährigen Mann aus Syrien und seine fünfjährige Tochter zunächst rassistisch, dann griffen sie körperlich an. Dabei wurde das Kind laut Polizei leicht an der Nase verletzt. Der Vater alarmierte den Rettungsdienst, der das Mädchen noch am Ort des Geschehens versorgte. Die Täter flüchteten unerkannt. Die Polizei ermittelt wegen des Verdachts der Volksverhetzung und der Körperverletzung. Obwohl die Polizei vor Ort war, fehlt ein Eintrag in der BKA-Statistik.
9.1.2018, Dresden, Sachsen: Eine Asylsuchende wurde an einer Straßenbahnhaltestelle im Stadtteil Gorbitz zunächst aus einer Gruppe heraus beschimpft. Zu der Gruppe gehörte laut Polizei auch eine Hundehalterin, die ihr Tier schließlich von der Leine machte und auf die Frau gehetzt habe. Als die 19-Jährige fliehen wollte, habe der Hund sie von hinten angefallen und zu Boden gerissen. Beim Versuch, das Tier abzuwehren, sei sie gebissen worden. Erst ein Passant habe die Hundehalterin dazu gebracht, den Hund zurückzurufen. In der BKA-Statistik findet sich zu diesem Datum in Dresden kein Eintrag für gefährliche Körperverletzung oder ähnliches.
19.08.2021, Grefrath, Nordrhein-Westfalen: Ein Unbekannter hat in der Nacht gegen 1.30 Uhr einen laut Polizei »rauchenden Gegenstand« durch ein Fenster einer Asylbewerberunterkunft im Ortsteil Oedt geworfen. Ein Brand entstand dabei laut Polizeiangaben nicht, aber »geringfügiger Sachschaden«. Verletzt wurde bei dem Vorfall den ersten Angaben zufolge niemand. Um was genau es sich bei dem Gegenstand handelte, wird nun ermittelt. Die Ermittlungen führt der Staatsschutz der Polizei Mönchengladbach, da ein rassistisches Tatmotiv nicht auszuschließen ist. In der Eingangsstatistik der Polizei wurde der Fall nicht als Brandanschlag gelistet, sondern als »geringfügiger Sachschaden«. Später tauchte er allerdings in der BKA-Statistik als »gefährliche Körperverletzung« auf. Was zu dieser veränderten Sachlage führte, lässt sich für Journalisten und Beratungsstellen kaum mehr nachvollziehen.
22.05.2020, Guben, Brandenburg: Zwei Geflüchtete waren mit dem Fahrrad in der Nähe eines Supermarktes unterwegs, als ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf sie zuraste. Es gelang ihnen, auszuweichen, wobei einer der beiden sich auf den Bürgersteig rettete und dabei leicht verletzte. Nach dem ersten, missglückten Versuch legte der Fahrer den Rückwärtsgang ein, um die Geflüchteten zu überfahren. Diese retteten sich in ihre Unterkunft. Kurze Zeit später widerfuhr einem anderen Geflüchteten aus der Unterkunft dasselbe. Der Täter konnte später von der eintreffenden Polizei identifiziert werden, er ist der Neonazi-Szene zuzurechnen. Die Polizei will jedoch keinen rechtsextremen Hintergrund in der Tat sehen – der Fall fehlt bis heute in der BKA-Statistik.
»Es kann nicht sein, dass wir zwar wissen, wie viele Handtaschen 2020 gestohlen werden, aber schwere Körperverletzungen, Anfeindungen und Mordversuche gegen Geflüchtete in der offiziellen Statistik nicht auftauchen. Es fehlt bei der Polizei an Sensibilität, Aufmerksamkeit und Ressourcen, diese Straftaten zu verfolgen. Gewalt gegen Geflüchtete bleibt ein massives Problem«, sagt Tahera Ameer, Leiterin der Arbeit gegen Rassismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Für sie zeigt das ein Versagen des Rechtsstaates. »Wer die Gewalt durch massive Untererfassung unsichtbar macht, macht auch die Menschen unsichtbar«, erklärt Ameer.
Ob eine rassistische Straftat als solche erfasst wird, hängt nicht allein von der politischen Einstellung, sondern auch von der Ausbildung der einzelnen Polizeibeamt*innen ab. »Die Ausbildung in diesem Bereich der statistischen Erfassung ist aber häufig nicht besonders ausgeprägt«, sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Ruhr-Universität Bochum. Weil sowohl journalistische als auch zivilgesellschaftliche Untersuchungen zu einer deutlich höheren Zahl kommen, als derzeit von offizieller Seite erfasst ist, spricht der Wissenschaftler von »einer doppelten Verzerrung«. Es sei nicht nur die Frage, ob Straftaten der Polizei überhaupt bekannt werden und damit in die Statistik kommen, sondern auch, »ob diese von ihrem politischen Hintergrund her richtig bewertet werden. Da haben wir aus kriminologischer Sicht eine deutliche Untererfassung« (siehe Auswertung S. 73).
Re-Traumatisierung von Schutzsuchenden
Die tägliche Bedrohung und Gewalt wirkt sich nachhaltig auf die Psyche der Betroffenen aus. Lukas Welz, geschäftsführender Leiter des Bundesverbands psychosozialer Zentren für Überlebende von Folter, Krieg und Flucht, weiß das aus langjähriger Erfahrung: »Viele Geflüchtete haben schmerzliche Erfahrungen mit Gewalt und Verfolgung in ihrem Heimatland gemacht. Wenn sie dann alltäglich mit Rassismus konfrontiert sind, mit ständiger Bedrohung und Gewalt auf der Straße, wie können wir da von Sicherheit, von einem menschenwürdigen Asyl sprechen?«
»Nach 20 Uhr gehe ich nicht alleine raus.«
Supermärkte und Bushaltestellen, Spielplätze und Bäckereien werden für Geflüchtete zu Angst-Räumen, wenn sie dort rassistische Erfahrungen gemacht haben. »Nach 20 Uhr gehe ich nicht alleine raus. Ich denke, dass es besser so ist, denn ich will keine Probleme mit den Deutschen«, zitiert die Studie Betroffene.
Dass Menschen, die in ihrem Sozialraum mehrheitlich als »fremd« markiert werden, sich abends nicht mehr auf die Straße trauen, ist in Deutschland im Jahr 2021 in vielen Orten Realität. Das sollte die Mehrheitsgesellschaft schockieren und aufrütteln. Doch stattdessen wird darüber geschwiegen. »Am Umgang mit der alltäglichen Gewalt gegen Geflüchtete zeigt sich immer wieder, wie hartnäckig sich die Muster des Wegguckens und Leugnens in unserer Gesellschaft halten. Sowohl in der praktischen Arbeit vor Ort als auch in der breiteren gesellschaftlichen Debatte fehlt es an der Bereitschaft, sich mit den Zuständen auseinanderzusetzen, mit denen Menschen tagtäglich in der Nachbarschaft konfrontiert sind«, schreibt Tahera Ameer in der Studie.
Was sich ändern muss – fünf Forderungen
Die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat den Kampf gegen Rechtsextremismus zur Priorität erklärt. Das ist ein wichtiges Signal, auf das nun konkrete Schritte folgen müssen. Hinsichtlich des Umgangs mit flüchtlingspolitischer Gewalt stellen PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung folgende Forderungen:
- Die Polizei muss flüchtlingsfeindliche Gewalt als politisch motivierte Kriminalität einstufen. Bisher kommt es immer wieder vor, dass die Ermittlungsbehörden einzelne Fälle nicht als »politisch motivierte Kriminalität – rechts« einordnen, obwohl teils eindeutige Indizien für eine rassistische Tat vorliegen. Wenn Betroffene einer Straftat oder deren Angehörige Rassismus oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Motiv vermuten, muss diesem in den weiteren Ermittlungen zwingend nachgegangen werden. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit muss als Motiv aktiv ausgeschlossen werden, wie es etwa in Großbritannien Praxis ist.
- Die Innenministerien von Bund und Ländern müssen Fälle flüchtlingsfeindlicher Gewalt vollständig und transparent auflisten und zeitnah veröffentlichen. Präzise Zahlen und Daten sind unerlässlich. Sie machen das Ausmaß des täglichen rechten Terrors als statistische Größe fassbar, mit konkreten Daten lässt sich der akute Handlungsbedarf aufzeigen.
- Massenunterkünfte wie Anker-Zentren gehören abgeschafft, denn sie fördern weitere Gewalt. Immer wieder kommt es zu Pogromen
- Menschen, die Opfer von rassistischer Gewalt wurden, müssen ein Bleiberecht erhalten. Nur so kann sichergestellt werden, dass sie vor Gericht aussagen und die Täter*innen verfolgt werden können. Denn wenn Schutzsuchende rassistisch bedroht, beleidigt oder tätlich angegriffen werden, dann jedoch abgeschoben werden, erfährt niemand von den tragischen Vorfällen – und die Täter*innen laufen weiterhin straffrei herum. Der Staat muss den Täter*innen zeigen, dass er sich ihrem schändlichen Anliegen, Menschen aus dem Land zu vertreiben, entgegenstellt.
- Die Sensibilität für rassistische Gewalt muss steigen. Gerade Polizeibeamt*innen der mittleren Dienstebene, die im Alltag Anzeigen aufnehmen und Vernehmungen durchführen, müssen noch während der Ausbildung verbindlich zu Hassgewalt und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geschult und sensibilisiert werden. Ebenso sollten Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als fester Bestandteil in die juristische Ausbildung integriert und systematische Weiterbildungsformate für Richter*innen angeboten werden.
(er)