25.08.2015
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Überall in Deutschland bilden sich Initiativen, in denen sich Menschen ehrenamtlich für Flüchtlinge engagieren. Foto: Theo Schneider

Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen sprießen deutschlandweit aus dem Boden. Sprachkurse, Hausaufgabenhilfe, Kinderbetreuung, Fahrdienste, Begleitung zu Ärzten und Behörden – dies alles wird mit ungeheurem Einsatz gestemmt. Die Politik freut’s. Hauptamtliche Unterstützung aber erfahren freiwillig Helfende kaum irgendwo. Überzeugten Unterstützer/innen wird viel abverlangt.

7:00 Uhr

Der Wecker klin­gelt, bin aber schon wach. Beim Kaf­fee­ko­chen den­ke ich an ges­tern, in der Flücht­lings­un­ter­kunft. Hat­te kurz bei Suna vor­bei­schau­en wol­len. Kehr­te zwei Stun­den spä­ter zurück, mit einer lan­gen To-Do-Lis­te: Für Miche­le einen Deutsch­kurs für Fort­ge­schrit­te­ne fin­den. Farid will mit sei­ner Fami­lie in der­sel­ben Stadt leben. Die Kin­der ver­mis­sen ihn… Ich soll­te Rechts­be­ra­tung orga­ni­sie­ren. Sara ist extrem unglück­lich, weil sie in die­ser Unter­kunft kei­ne Lands­leu­te hat… Muss die Sozi­al­ar­bei­te­rin kon­tak­tie­ren. Suna kann nicht schla­fen… Wann und wo kann ich mich mit ihr tref­fen, um Bal­dri­an zu besorgen?

Heu­te will ich mit Abdul in die Klei­der­kam­mer fah­ren. Zie­he mich an. Che­cke mei­ne 30 E‑Mails seit dem Vor­abend. Eine Kol­le­gin schreibt, sie füh­le sich wie Stern­ta­ler. Seit sie sich ent­schie­den habe, für Flücht­lin­ge da zu sein, fie­len die frei­gie­bi­gen Hil­fen wie Gold­stü­cke vom Him­mel. Das kann ich nach­voll­zie­hen: Eine Grup­pe Stu­die­ren­der plant den Auf­bau eines Dol­met­scher­pools; ein Mit­ar­bei­ter einer Behör­de bie­tet Hil­fe beim Aus­fül­len von For­mu­la­ren an. Jemand moch­te einen Lap­top spen­den. Ein Zahn­arzt behan­delt Flücht­lin­ge auch ohne Kos­ten­er­stat­tung. Großartig!

9:00 Uhr

Gera­de als ich los will, kommt ein Anruf: Eine Dame moch­te ger­ne bei uns mit­ma­chen. Ich neh­me mir Zeit, die ich eigent­lich nicht habe, und über­le­ge mit ihr: Wie kann sie sich ein­brin­gen? Wel­che Fra­gen bewe­gen sie? Mag sie eines der vie­len Pro­jek­te auf­grei­fen, die mei­ne Ideen­ma­schi­ne manch­mal minüt­lich und oft bis in die tie­fe Nacht hin­ein aus­spuckt? Sport­ver­ei­ne anspre­chen! Eine Info­ver­an­stal­tung für Flücht­lin­ge zum The­ma Arbeits­su­che orga­ni­sie­ren! Frei­kar­ten für Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen beschaf­fen… Beschlie­ße, auch für mich eine Packung Bal­dri­an­pil­len mit­zu­neh­men, wenn ich mit Suna einkaufe.

10:00 Uhr

War­ten auf Abdul. Im Büro der Erst­auf­nah­me erfah­re ich: Er muss drin­gend noch heu­te zum Sozi­al­amt, ein Papier abge­ben. Ges­tern hat­te der Mit­ar­bei­ter die Aus­zah­lung von Leis­tun­gen ver­wei­gert, wegen einer unle­ser­li­chen Kopie. Wegen – was?! Abdul kommt auf mich zu, ein zier­li­cher jun­ger Mann mit unsi­che­ren Bewe­gun­gen und auf­merk­sa­mem, fast ängst­li­chem Blick. Er lächelt schüch­tern. Nie­mand vor Ort spricht sei­ne Spra­che, er ist noch neu hier. Die Papie­re, die nun sein Leben bestim­men, pas­sen in eine zer­knit­ter­te Klar­sicht­hül­le. Ich wer­fe einen Blick auf die Kopie dar­in. Sie ist ein­wand­frei les­bar. Ich schlu­cke mei­nen Grimm her­un­ter und erklä­re, dass ich selbst­ver­ständ­lich mit Abdul zum Amt fah­re. Doch erst­mal zur Klei­der­kam­mer. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen mus­tern Abdul, der einen dün­nen Ano­rak ohne Kapu­ze und Halb­schu­he trägt: „Ande­re kom­men ohne Schu­he her“ – ver­ach­ten­de Bli­cke, aber wir dür­fen blei­ben. Eine der Frau­en nimmt beim Sor­tie­ren der Klei­dung einen bedruck­ten Kapu­zen­pul­li hoch, hält ihn Abdul vor den Ober­kör­per: „Der ist doch gut.“ Sie druckt den Pul­li in Abduls Hän­de. Dann zeigt sie ihm ein paar creme­far­be­ne, klo­bi­ge Halb­schu­he: „Die sind doch gut.“ Als Abdul die Sachen lie­gen lässt, schau­en sich die bei­den Frau­en mit hoch­ge­zo­ge­nen Augen­brau­en an. Abdul nimmt nur eine Hose mit. Ich drü­cke aufs Gaspedal.

Das Sozi­al­amt liegt am ande­ren Ende der Stadt. Der Beam­te blickt streng auf sei­ne Wand­uhr, die auf Fei­er­abend steht. Ach ja: Es ist Frei­tag. Aus mir platzt es unsor­tiert her­aus: „Sie wol­len uns weg­schi­cken? Wis­sen Sie, wie lan­ge ich unter­wegs bin, um Ihnen eine Kopie zu besor­gen?“ Der Beam­te: „Wol­len Sie mir unter­stel­len, ich arbei­te weni­ger als Sie?“ Mür­risch über­reicht er Abdul ein For­mu­lar. Abdul schaut mich fra­gend an. Ich zei­ge ihm, wie er es am Kas­sen­schal­ter gegen Schei­ne und Mün­zen tau­schen kann. End­lich wirkt Abdul gelöst. Die Crois­sants und den Kaf­fee in der Eis­die­le neben­an lässt er mich nicht bezah­len. Die Rech­nung kos­tet ihn rund ein Drit­tel des Gel­des, das er gera­de bekom­men hat – alles, was er besitzt. Er will sich bedan­ken, unbe­dingt. Beschämt ver­staue ich mein Porte­mon­naie wie­der in der Tasche. Ich hät­te das nicht zulas­sen dür­fen. Oder doch?

14.30 Uhr

Zurück zu Hau­se soll­te ich eigent­lich wenigs­tens zwei Stun­den arbei­ten. Aber damit soll es nichts wer­den: Bir­git ruft an. Sie und Gise­la sit­zen mit Mary im Auto, die „Trans­fer“ bekom­men hat. Offen­bar soll sie mor­gen um acht Uhr mit ihrem Klein­kind und gepack­ten Kof­fern am ande­ren Ende der Stadt erschei­nen, um in ein ande­res Bun­des­land gebracht zu wer­den. Mary ist mit den Ner­ven am Ende. Auch für uns ist der plötz­li­che Trans­fer­be­scheid ein Schock. Marys Schwan­ger­schaft ver­lauft pro­ble­ma­tisch. Sie fühlt sich ein­sam, zer­mürbt von ihren vie­len Sor­gen, von der Unge­wiss­heit ihrer Zukunft. Gera­de beginnt sie, hier Anschluss zu fin­den und erhält Hil­fe. Bir­git und Gise­la haben schon Iris ange­ru­fen und gemein­sam einen Plan gefasst: Sie wol­len Ärz­te, Anwäl­te und die Kir­chen­ge­mein­de abklap­pern. Aber was kann das brin­gen? Über die recht­li­chen Chan­cen muss ich mich unbe­dingt noch­mal schlau machen. Wäh­rend die ande­ren rotie­ren, ent­wer­fe ich schon mal eine alar­mie­ren­de Pressemitteilung.

Es ist 18:30 Uhr

Zum Arbei­ten bin ich nun doch nicht gekom­men. Jeden­falls nicht für mei­nen Job als Selbst­stän­di­ge. Naja – das muss nun eben am Wochen­en­de pas­sie­ren. Heu­te habe ich noch Luft für einen E‑Mail-Check: Eine unse­rer „Eta­gen­pa­tin­nen“ schreibt: Nächs­te Woche laden die Flücht­lin­ge uns Ehren­amt­li­che zum Essen ein. Auf­ge­deckt wird im Gemein­schafts­raum der Unter­kunft, auch die Betrei­ber sind mit ein­ge­la­den. Die Flücht­lin­ge möch­ten sich für die Unter­stüt­zung bedan­ken und über ihre Anlie­gen spre­chen. Die wich­tigs­ten ken­ne ich:  Qua­li­fi­zier­ten Deutsch­un­ter­richt für alle und die Zusam­men­füh­rung mit ihren Fami­li­en, die in ande­ren Tei­len Deutsch­lands leben. Außer­dem bit­ten sie unse­re Deutsch­leh­ren­den um Nach­sicht für ihre Unpünkt­lich­keit. Und das in einer Lebens­si­tua­ti­on, in der nichts mehr ver­läss­lich erscheint. Plötz­lich fühlt mein Herz sich weich an. Ich set­ze zu einer Ant­wort an, aber gebe auf. Für die Freu­de über das Ver­trau­en, das unse­re neu­en Nach­ba­rin­nen und Nach­barn uns ent­ge­gen­brin­gen, gibt es kei­ne Worte.

Autorin: Ange­li­ka Cal­mez (aktiv bei „Will­kom­men in der Mosel­stra­ße“ in Köln)

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