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Aus dem Alltag einer Ehrenamtlichen. Ein Erfahrungsbericht
Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen sprießen deutschlandweit aus dem Boden. Sprachkurse, Hausaufgabenhilfe, Kinderbetreuung, Fahrdienste, Begleitung zu Ärzten und Behörden – dies alles wird mit ungeheurem Einsatz gestemmt. Die Politik freut’s. Hauptamtliche Unterstützung aber erfahren freiwillig Helfende kaum irgendwo. Überzeugten Unterstützer/innen wird viel abverlangt.
7:00 Uhr
Der Wecker klingelt, bin aber schon wach. Beim Kaffeekochen denke ich an gestern, in der Flüchtlingsunterkunft. Hatte kurz bei Suna vorbeischauen wollen. Kehrte zwei Stunden später zurück, mit einer langen To-Do-Liste: Für Michele einen Deutschkurs für Fortgeschrittene finden. Farid will mit seiner Familie in derselben Stadt leben. Die Kinder vermissen ihn… Ich sollte Rechtsberatung organisieren. Sara ist extrem unglücklich, weil sie in dieser Unterkunft keine Landsleute hat… Muss die Sozialarbeiterin kontaktieren. Suna kann nicht schlafen… Wann und wo kann ich mich mit ihr treffen, um Baldrian zu besorgen?
Heute will ich mit Abdul in die Kleiderkammer fahren. Ziehe mich an. Checke meine 30 E‑Mails seit dem Vorabend. Eine Kollegin schreibt, sie fühle sich wie Sterntaler. Seit sie sich entschieden habe, für Flüchtlinge da zu sein, fielen die freigiebigen Hilfen wie Goldstücke vom Himmel. Das kann ich nachvollziehen: Eine Gruppe Studierender plant den Aufbau eines Dolmetscherpools; ein Mitarbeiter einer Behörde bietet Hilfe beim Ausfüllen von Formularen an. Jemand mochte einen Laptop spenden. Ein Zahnarzt behandelt Flüchtlinge auch ohne Kostenerstattung. Großartig!
9:00 Uhr
Gerade als ich los will, kommt ein Anruf: Eine Dame mochte gerne bei uns mitmachen. Ich nehme mir Zeit, die ich eigentlich nicht habe, und überlege mit ihr: Wie kann sie sich einbringen? Welche Fragen bewegen sie? Mag sie eines der vielen Projekte aufgreifen, die meine Ideenmaschine manchmal minütlich und oft bis in die tiefe Nacht hinein ausspuckt? Sportvereine ansprechen! Eine Infoveranstaltung für Flüchtlinge zum Thema Arbeitssuche organisieren! Freikarten für Kulturveranstaltungen beschaffen… Beschließe, auch für mich eine Packung Baldrianpillen mitzunehmen, wenn ich mit Suna einkaufe.
10:00 Uhr
Warten auf Abdul. Im Büro der Erstaufnahme erfahre ich: Er muss dringend noch heute zum Sozialamt, ein Papier abgeben. Gestern hatte der Mitarbeiter die Auszahlung von Leistungen verweigert, wegen einer unleserlichen Kopie. Wegen – was?! Abdul kommt auf mich zu, ein zierlicher junger Mann mit unsicheren Bewegungen und aufmerksamem, fast ängstlichem Blick. Er lächelt schüchtern. Niemand vor Ort spricht seine Sprache, er ist noch neu hier. Die Papiere, die nun sein Leben bestimmen, passen in eine zerknitterte Klarsichthülle. Ich werfe einen Blick auf die Kopie darin. Sie ist einwandfrei lesbar. Ich schlucke meinen Grimm herunter und erkläre, dass ich selbstverständlich mit Abdul zum Amt fahre. Doch erstmal zur Kleiderkammer. Die Mitarbeiterinnen mustern Abdul, der einen dünnen Anorak ohne Kapuze und Halbschuhe trägt: „Andere kommen ohne Schuhe her“ – verachtende Blicke, aber wir dürfen bleiben. Eine der Frauen nimmt beim Sortieren der Kleidung einen bedruckten Kapuzenpulli hoch, hält ihn Abdul vor den Oberkörper: „Der ist doch gut.“ Sie druckt den Pulli in Abduls Hände. Dann zeigt sie ihm ein paar cremefarbene, klobige Halbschuhe: „Die sind doch gut.“ Als Abdul die Sachen liegen lässt, schauen sich die beiden Frauen mit hochgezogenen Augenbrauen an. Abdul nimmt nur eine Hose mit. Ich drücke aufs Gaspedal.
Das Sozialamt liegt am anderen Ende der Stadt. Der Beamte blickt streng auf seine Wanduhr, die auf Feierabend steht. Ach ja: Es ist Freitag. Aus mir platzt es unsortiert heraus: „Sie wollen uns wegschicken? Wissen Sie, wie lange ich unterwegs bin, um Ihnen eine Kopie zu besorgen?“ Der Beamte: „Wollen Sie mir unterstellen, ich arbeite weniger als Sie?“ Mürrisch überreicht er Abdul ein Formular. Abdul schaut mich fragend an. Ich zeige ihm, wie er es am Kassenschalter gegen Scheine und Münzen tauschen kann. Endlich wirkt Abdul gelöst. Die Croissants und den Kaffee in der Eisdiele nebenan lässt er mich nicht bezahlen. Die Rechnung kostet ihn rund ein Drittel des Geldes, das er gerade bekommen hat – alles, was er besitzt. Er will sich bedanken, unbedingt. Beschämt verstaue ich mein Portemonnaie wieder in der Tasche. Ich hätte das nicht zulassen dürfen. Oder doch?
14.30 Uhr
Zurück zu Hause sollte ich eigentlich wenigstens zwei Stunden arbeiten. Aber damit soll es nichts werden: Birgit ruft an. Sie und Gisela sitzen mit Mary im Auto, die „Transfer“ bekommen hat. Offenbar soll sie morgen um acht Uhr mit ihrem Kleinkind und gepackten Koffern am anderen Ende der Stadt erscheinen, um in ein anderes Bundesland gebracht zu werden. Mary ist mit den Nerven am Ende. Auch für uns ist der plötzliche Transferbescheid ein Schock. Marys Schwangerschaft verlauft problematisch. Sie fühlt sich einsam, zermürbt von ihren vielen Sorgen, von der Ungewissheit ihrer Zukunft. Gerade beginnt sie, hier Anschluss zu finden und erhält Hilfe. Birgit und Gisela haben schon Iris angerufen und gemeinsam einen Plan gefasst: Sie wollen Ärzte, Anwälte und die Kirchengemeinde abklappern. Aber was kann das bringen? Über die rechtlichen Chancen muss ich mich unbedingt nochmal schlau machen. Während die anderen rotieren, entwerfe ich schon mal eine alarmierende Pressemitteilung.
Es ist 18:30 Uhr
Zum Arbeiten bin ich nun doch nicht gekommen. Jedenfalls nicht für meinen Job als Selbstständige. Naja – das muss nun eben am Wochenende passieren. Heute habe ich noch Luft für einen E‑Mail-Check: Eine unserer „Etagenpatinnen“ schreibt: Nächste Woche laden die Flüchtlinge uns Ehrenamtliche zum Essen ein. Aufgedeckt wird im Gemeinschaftsraum der Unterkunft, auch die Betreiber sind mit eingeladen. Die Flüchtlinge möchten sich für die Unterstützung bedanken und über ihre Anliegen sprechen. Die wichtigsten kenne ich: Qualifizierten Deutschunterricht für alle und die Zusammenführung mit ihren Familien, die in anderen Teilen Deutschlands leben. Außerdem bitten sie unsere Deutschlehrenden um Nachsicht für ihre Unpünktlichkeit. Und das in einer Lebenssituation, in der nichts mehr verlässlich erscheint. Plötzlich fühlt mein Herz sich weich an. Ich setze zu einer Antwort an, aber gebe auf. Für die Freude über das Vertrauen, das unsere neuen Nachbarinnen und Nachbarn uns entgegenbringen, gibt es keine Worte.
Autorin: Angelika Calmez (aktiv bei „Willkommen in der Moselstraße“ in Köln)
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