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Alle Jahre wieder: Gefährliche Debatte über Abschiebungsstopp nach Syrien
Erneut wird vor der Innenministerkonferenz eine Debatte über den Abschiebungsstopp nach Syrien angestoßen, obwohl dort weiterhin Folter und Verfolgung droht und der Bürgerkrieg nicht vorbei ist. Eine sichere Rückkehr nach Syrien gibt es nicht.
Die Wochen vor einer Innenministerkonferenz gleichen mittlerweile einer Episode aus »Täglich grüßt das Murmeltier«. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass einige Tage vor Beginn der Konferenz der eine oder andere Innenminister darauf drängt, den bestehenden Abschiebungsstopp aufzuweichen. Dieses Mal hat sich Bundesinnenminister Seehofer zu Wort gemeldet und eben dies gefordert. Besonders entlarvend: Der neue Lagebericht, den die Innenminister und –senator*innen mittlerweile halbjährig vom Auswärtigen Amt verlangen, liegt noch nicht einmal vor. Damit wird besonders deutlich: Bundesinnenminister Seehofer geht es nicht um die Lage vor Ort, sondern um ein politisches Signal nach Rechts.
Bundesinnenminister Seehofer geht es nicht um die Lage vor Ort, sondern um ein politisches Signal nach Rechts.
In Syrien hat sich nämlich nichts geändert. Diktator Assad, der seit neun Jahren Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begeht (Quellen: Amnesty International, Human Rights Watch) und in dessen Foltergefängnissen unzählige Menschen verschwinden und entweder schwer gezeichnet oder nie wieder auftauchen, ist immer noch an der Macht. Doch anstatt ihn und sein Regime zu ächten, streben einige Innenpolitiker*innen ganz offenbar eine Zusammenarbeit mit genau diesem Regime an – denn diese ist nötig, um Abschiebungen zu ermöglichen.
Syrien – Folterstaat
Laut Berichten von Amnesty International und vielen anderen unabhängigen Beobachtern wurden allein im Zeitraum 2011 und 2015 mehr als 17.000 Menschen in Hafteinrichtungen hingerichtet, starben unter Folter oder aufgrund der Haftbedingungen.
Bereits 2014 veröffentlichte eine Gruppe um einen desertierten syrischen Militärfotografen unter dem Decknamen „Caesar“ 55.000 Fotos, die mindestens 6.700 Leichen zeigen, die Spuren von Folter, Misshandlung oder Verhungern aufweisen. Der Militärfotograf hatte die Bilder auf Befehl der syrischen Regierung zu Dokumentationszwecken anfertigen müssen. Laut französischen Berichten, wurde im Saydnaya-Gefängnis ein Krematorium gebaut, um die Tausenden zu Tode gebrachten Gefangenen zu verbrennen.
Durch den Beitritt eines deutschen Staatsbürgers zur Klage von 13 syrischen Folterüberlebenden gegen das syrische Regime ist im November erneut ein Schlaglicht auf den Folterstaat Syrien geworfen worden. Die Klage wurde 2017 beim Generalbundesanwalt eingereicht. Gegenüber der Tagesschau (10.11.2020) beschreibt Martin Lautwein seine unvorstellbaren Erlebnisse:
»Demnach fanden die brutalen Verhöre von Häftlingen auf den Fluren statt. Lautwein, der in den ersten Tagen in einer Einzelzelle im ersten Stock untergebracht war, konnte hören und zum Teil auch sehen, wie Menschen mit Kabeln oder Rohren geschlagen wurden – manchmal stundenlang. Auch vom Einsatz eines sogenannten „Deutschen Stuhls“, auf denen der Oberkörper auf einem Stuhl ohne Lehne so weit nach hinten gebogen wird, bis das Rückgrat zu brechen droht, berichtet Lautwein. Die Folterungen seien den ganzen Tag lang durchgeführt worden, in den Pausen habe ein Putztrupp das Blut aufgewischt«.
Die Verfolgungshandlungen des Assad-Regimes sind durch ein hohes Maß an Willkür gekennzeichnet. Jede Person, die auch nur verdächtigt wird, dem Regime gegenüber illoyal gesinnt zu sein, kann Opfer der oben geschilderten Verfolgungshandlungen werden.
Die Verfolgungshandlungen des Assad-Regimes sind durch ein hohes Maß an Willkür gekennzeichnet. Jede Person, die auch nur verdächtigt wird, dem Regime gegenüber illoyal gesinnt zu sein, kann Opfer der oben geschilderten Verfolgungshandlungen werden. Der Verdacht kann sich hierbei etwa auf den Herkunftsort, auf die Zugehörigkeit zu einer konfessionellen oder ethnischen Gruppe, zu einer Familie, auf Bekanntschaften mit anderen Verdächtigen oder auf andere Faktoren stützen, die für die Betroffenen in vielen Fällen intransparent sind.
Syrien – Bürgerkriegsland
Im März 2011 begann in Syrien im Zuge des sogenannten »Arabischen Frühling« Proteste gegen den Diktator Assad. Damals konnte sich wohl kaum jemand vorstellen, zu welchen Grauen es im syrischen Bürgerkrieg kommen würde und wie lange sich dieser hinziehen würde.
Über neun Jahre nach Beginn des Konfliktes ist die Bilanz bitter: Über 5,6 Millionen Menschen mussten aus dem Land fliehen, über 6,6 Millionen sind im eigenen Land vertrieben (Quelle: UNHCR). Von allen Seiten wurden Kriegsverbrechen begangen, mit Verlauf des Bürgerkriegs wurde der Konflikt auch immer mehr zum Stellvertreterkrieg unter Beteiligung bzw. Unterstützung der unterschiedlichen Seiten von Russland, dem Iran, den USA, der Türkei und von Saudi-Arabien. Das Leid der Bevölkerung ist immens, große Teile des Landes sind vom Krieg verwüstet.
Eine der letzten besonders blutigen Episoden ist der Kampf um die Region Idlib, die das syrische Regime gegen Ende 2019 mit seinem Bündnispartner Russland begann. Wie ein Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu Syrien feststellte, wurde die Region willkürlich bombardiert, wodurch Zivilist*innen getötet wurde und zivile Infrastruktur zerstört wurde, z.B. Krankenhäuser und Schulen. Fast eine Million Menschen wurden durch die Kampfhandlungen vertrieben. Auch in diesem Jahr kommt es weiterhin zu Kampfhandlungen.
Wer sich an diesem brutalen Krieg nicht beteiligen will, hat in Syrien schlechte Karten. In Syrien sind Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren wehrpflichtig, doch es kommt auch zum Einzug von jüngeren oder älteren Männern. Die Wehrdienstentziehung ist eine Straftat und wird laut UNHCR von der Regierung »wahrscheinlich als politische, regierungsfeindliche Handlung angesehen« was zu schärferen Strafen als den regulär vorgesehenen Sanktionen führen kann. Dies kann Haft sein, in der Folter und andere Misshandlung droht, oder der Einsatz an vorderster Front ohne ausreichende militärische Ausbildung. Mit Beginn des Bürgerkriegs kam es zu massenhafter Zwangsrekrutierung. Deserteuren drohen lange Haftstrafen oder sogar die Todesstrafe – in der Praxis kam es oft zu direkten Erschießungen von gefassten Deserteuren (Quellen: UNHCR, Schweizerische Flüchtlingshilfe, adopt a revolution). Wie der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem Urteil vom 19. November 2020 feststellte, steht syrischen Kriegsdienstverweigerern deswegen in der Regel Flüchtlingsstatus zu. Viele haben in Deutschland aber in den letzten Jahren nur den sogenannten subsidiären Schutz bekommen. Sie sollten sich jetzt dringend über einen Folgeantrag beraten lassen (siehe hierzu auch die Hinweise von PRO ASYL).
Keine sichere Rückkehr möglich
Wenn Deutschland eine Person abschieben will, dann besteht die Verpflichtung für Deutschland sicherzustellen, dass der Person in dem Land keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Denn sonst wäre eine solche Abschiebung ein Verstoß gegen das Folterverbot, wie es z. B. in Art. 3 EMRK normiert ist. Da das Folterverbot absolut ist, gilt diese Verpflichtung unabhängig vom Verhalten der in Frage kommenden Person – also auch bei Straftäter*innen und Gefährder*innen (siehe diese Übersicht vom UNHCR zu Art. 3 EMRK und der dazugehörigen Rechtsprechung und dieses Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages). Doch genau eine solche Behandlung droht Menschen, die nach Syrien zurückkehren bzw. die zurückgeschickt werden.
»Wir als UNHCR rufen alle Staaten auf, keinerlei Abschiebungen nach Syrien durchzuführen. Das gilt für die von der Regierung kontrollierten Gebiete genauso wie für die übrigen.«
Dies machte auch der UNHCR-Direktor für den Nahen Osten im Interview mit der Welt deutlich (30.10.2020):
»Wir als UNHCR rufen alle Staaten auf, keinerlei Abschiebungen nach Syrien durchzuführen. Das gilt für die von der Regierung kontrollierten Gebiete genauso wie für die übrigen. […] Unsere Einschätzung gilt für ausnahmslos alle Regionen, weil zurückgeführten Personen vielfältige Sicherheitsrisiken drohen«.
Wie gefährlich eine Rückkehr sein kann, zeigen Berichte wie vom Syrischen Netzwerk für Menschenrechte. Von Januar 2014 bis August 2019 dokumentierte das Netzwerk 1.916 Fälle willkürlicher Inhaftierungen von Personen, die aus dem Ausland nach Syrien zurückgekehrten, darunter 219 Minderjährige und 157 Frauen. 1.132 der Inhaftierten seien wieder freigelassen worden, 784 blieben inhaftiert, 638 davon seien Opfer von »Verschwinden-Lassen« geworden, 15 der Inhaftierten seien unter Folter gestorben. Manche der »Freigelassenen« seien später erneut inhaftiert oder zwangsrekrutiert worden.
Die Nachrichtenseite Foreign Policy veröffentlichte im Februar 2019 die Geschichte zweier Syrer, die aus Deutschland zurückgingen, weil ihnen der Familiennachzug verwehrt blieb. Einer der beiden wurde zwei Wochen nach seiner Ankunft in Damaskus zur Befragung durch den Geheimdienst bestellt – und kehrte nicht wieder zu seiner Familie zurück. Über einen Vermittler konnten die Eltern schließlich herausfinden, dass er inhaftiert wurde. Der andere wurde ebenfalls nach der Rückkehr verhaftet.
Auch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, während der Deutschland nach Abschluss eines Rückübernahmeabkommens 2008 mit Syrien in das Land abschob, sind solche Fälle bekannt. Zum Beispiel ein Fall aus Niedersachsen, bei dem Vater und Sohn im Februar 2011 nach Syrien abgeschoben wurden – eine der letzten Abschiebungen vor dem Bürgerkrieg. Noch am Flughafen in Damaskus werden sie inhaftiert, der 15-jährige Sohn wird misshandelt.
Dass jede Rückkehr ein enormes Gefahrenpotential bietet und deswegen Abschiebungen rechtswidrig sind, zeigt der Beitrag »Es kann jeden treffen« aus der aktuellen Ausgabe des Magazins Der Schlepper mit weiteren Beispielen.
Was würde eine Lockerung des Abschiebungsstopps für Syrer*innen in Deutschland bedeuten?
Sollte die Innenministerkonferenz bei ihrer Tagung keine Verlängerung des kompletten Abschiebungsstopps beschließen und stattdessen Ausnahmen für Straftäter*innen und Gefährder*innen vorsehen, würde dies also die tatsächliche Lage im Land ignorieren und ein fatales Signal der Normalisierung des Assad-Regimes senden.
Die absolute Mehrheit der syrischen Geflüchteten in Deutschland würde dies aber aktuell nicht betreffen, da sie zum einen nicht in diese zwei Kategorien fallen und weil sie zum anderen mit einem Flüchtlingsstatus oder einem subsidiärem Schutz nicht ausreisepflichtig sind sondern einen sicheren Status in Deutschland haben. Adopt a Revolution hat hierzu auch eine hilfreiche Übersicht gemacht.
(wj)