28.11.2020
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Foto: Szene aus Idlib. picture alliance / ZUMAPRESS.com | Omar Albam

Erneut wird vor der Innenministerkonferenz eine Debatte über den Abschiebungsstopp nach Syrien angestoßen, obwohl dort weiterhin Folter und Verfolgung droht und der Bürgerkrieg nicht vorbei ist. Eine sichere Rückkehr nach Syrien gibt es nicht.

Die Wochen vor einer Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz glei­chen mitt­ler­wei­le einer Epi­so­de aus »Täg­lich grüßt das Mur­mel­tier«. Mit Sicher­heit kann man davon aus­ge­hen, dass eini­ge Tage vor Beginn der Kon­fe­renz der eine oder ande­re Innen­mi­nis­ter dar­auf drängt, den bestehen­den Abschie­bungs­stopp auf­zu­wei­chen. Die­ses Mal hat sich Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer zu Wort gemel­det und eben dies gefor­dert. Beson­ders ent­lar­vend: Der neue Lage­be­richt, den die Innen­mi­nis­ter und –senator*innen mitt­ler­wei­le halb­jäh­rig vom Aus­wär­ti­gen Amt ver­lan­gen, liegt noch nicht ein­mal vor. Damit wird beson­ders deut­lich: Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer geht es nicht um die Lage vor Ort, son­dern um ein poli­ti­sches Signal nach Rechts.

Bun­des­in­nen­mi­nis­ter See­ho­fer geht es nicht um die Lage vor Ort, son­dern um ein poli­ti­sches Signal nach Rechts.

In Syri­en hat sich näm­lich nichts geän­dert. Dik­ta­tor Assad, der seit neun Jah­ren Kriegs­ver­bre­chen an der Zivil­be­völ­ke­rung begeht (Quel­len: Amnes­ty Inter­na­tio­nal, Human Rights Watch) und in des­sen Fol­ter­ge­fäng­nis­sen unzäh­li­ge Men­schen ver­schwin­den und ent­we­der schwer gezeich­net oder nie wie­der auf­tau­chen, ist immer noch an der Macht. Doch anstatt ihn und sein Regime zu äch­ten, stre­ben eini­ge Innenpolitiker*innen ganz offen­bar eine Zusam­men­ar­beit mit genau die­sem Regime an – denn die­se ist nötig, um Abschie­bun­gen zu ermöglichen.

Syrien – Folterstaat

Laut Berich­ten von Amnes­ty Inter­na­tio­nal und vie­len ande­ren unab­hän­gi­gen Beob­ach­tern wur­den allein im Zeit­raum 2011 und 2015 mehr als 17.000 Men­schen in Haft­ein­rich­tun­gen hin­ge­rich­tet, star­ben unter Fol­ter oder auf­grund der Haftbedingungen.

Bereits 2014 ver­öf­fent­lich­te eine Grup­pe um einen deser­tier­ten syri­schen Mili­tär­fo­to­gra­fen unter dem Deck­na­men „Cae­sar“ 55.000 Fotos, die min­des­tens 6.700 Lei­chen zei­gen, die Spu­ren von Fol­ter, Miss­hand­lung oder Ver­hun­gern auf­wei­sen. Der Mili­tär­fo­to­graf hat­te die Bil­der auf Befehl der syri­schen Regie­rung zu Doku­men­ta­ti­ons­zwe­cken anfer­ti­gen müs­sen. Laut fran­zö­si­schen Berich­ten, wur­de im Sayd­na­ya-Gefäng­nis ein Kre­ma­to­ri­um gebaut, um die Tau­sen­den zu Tode gebrach­ten Gefan­ge­nen zu verbrennen.

Durch den Bei­tritt eines deut­schen Staats­bür­gers zur Kla­ge von 13 syri­schen Fol­ter­über­le­ben­den gegen das syri­sche Regime ist im Novem­ber erneut ein Schlag­licht auf den Fol­ter­staat Syri­en gewor­fen wor­den. Die Kla­ge wur­de 2017 beim Gene­ral­bun­des­an­walt ein­ge­reicht. Gegen­über der Tages­schau (10.11.2020) beschreibt Mar­tin Laut­wein sei­ne unvor­stell­ba­ren Erlebnisse:

»Dem­nach fan­den die bru­ta­len Ver­hö­re von Häft­lin­gen auf den Flu­ren statt. Laut­wein, der in den ers­ten Tagen in einer Ein­zel­zel­le im ers­ten Stock unter­ge­bracht war, konn­te hören und zum Teil auch sehen, wie Men­schen mit Kabeln oder Roh­ren geschla­gen wur­den – manch­mal stun­den­lang. Auch vom Ein­satz eines soge­nann­ten „Deut­schen Stuhls“, auf denen der Ober­kör­per auf einem Stuhl ohne Leh­ne so weit nach hin­ten gebo­gen wird, bis das Rück­grat zu bre­chen droht, berich­tet Laut­wein. Die Fol­te­run­gen sei­en den gan­zen Tag lang durch­ge­führt wor­den, in den Pau­sen habe ein Putz­trupp das Blut auf­ge­wischt«.

Die Ver­fol­gungs­hand­lun­gen des Assad-Regimes sind durch ein hohes Maß an Will­kür gekenn­zeich­net. Jede Per­son, die auch nur ver­däch­tigt wird, dem Regime gegen­über illoy­al gesinnt zu sein, kann Opfer der oben geschil­der­ten Ver­fol­gungs­hand­lun­gen werden.

Die Ver­fol­gungs­hand­lun­gen des Assad-Regimes sind durch ein hohes Maß an Will­kür gekenn­zeich­net. Jede Per­son, die  auch nur ver­däch­tigt wird, dem Regime gegen­über illoy­al gesinnt zu sein, kann Opfer der oben geschil­der­ten Ver­fol­gungs­hand­lun­gen wer­den. Der Ver­dacht kann sich hier­bei etwa auf den Her­kunfts­ort, auf die Zuge­hö­rig­keit zu einer kon­fes­sio­nel­len oder eth­ni­schen Grup­pe, zu einer Fami­lie, auf Bekannt­schaf­ten mit ande­ren Ver­däch­ti­gen oder auf ande­re Fak­to­ren stüt­zen, die für die Betrof­fe­nen in vie­len Fäl­len intrans­pa­rent sind.

Syrien – Bürgerkriegsland

Im März 2011 begann in Syri­en im Zuge des soge­nann­ten »Ara­bi­schen Früh­ling« Pro­tes­te gegen den Dik­ta­tor Assad. Damals konn­te sich wohl kaum jemand vor­stel­len, zu wel­chen Grau­en es im syri­schen Bür­ger­krieg kom­men wür­de und wie lan­ge sich die­ser hin­zie­hen würde.

Über neun Jah­re nach Beginn des Kon­flik­tes ist die Bilanz bit­ter: Über 5,6 Mil­lio­nen Men­schen muss­ten aus dem Land flie­hen, über 6,6 Mil­lio­nen sind im eige­nen Land ver­trie­ben (Quel­le: UNHCR). Von allen Sei­ten wur­den Kriegs­ver­bre­chen began­gen, mit Ver­lauf des Bür­ger­kriegs wur­de der Kon­flikt auch immer mehr zum Stell­ver­tre­ter­krieg unter Betei­li­gung bzw. Unter­stüt­zung der unter­schied­li­chen Sei­ten von Russ­land, dem Iran, den USA, der Tür­kei und von Sau­di-Ara­bi­en. Das Leid der Bevöl­ke­rung ist immens, gro­ße Tei­le des Lan­des sind vom Krieg verwüstet.

Eine der letz­ten beson­ders blu­ti­gen Epi­so­den ist der Kampf um die Regi­on Idlib, die das syri­sche Regime gegen Ende 2019 mit sei­nem Bünd­nis­part­ner Russ­land begann. Wie ein Bericht der Unter­su­chungs­kom­mis­si­on der Ver­ein­ten Natio­nen zu Syri­en fest­stell­te, wur­de die Regi­on will­kür­lich bom­bar­diert, wodurch Zivilist*innen getö­tet wur­de und zivi­le Infra­struk­tur zer­stört wur­de, z.B. Kran­ken­häu­ser und Schu­len. Fast eine Mil­li­on Men­schen wur­den durch die Kampf­hand­lun­gen ver­trie­ben. Auch in die­sem Jahr kommt es wei­ter­hin zu Kampf­hand­lun­gen.

Wer sich an die­sem bru­ta­len Krieg nicht betei­li­gen will, hat in Syri­en schlech­te Kar­ten. In Syri­en sind Män­ner im Alter von 18 bis 42 Jah­ren wehr­pflich­tig, doch es kommt auch zum Ein­zug von jün­ge­ren oder älte­ren Män­nern. Die Wehr­dienst­ent­zie­hung ist eine Straf­tat und wird laut UNHCR von der Regie­rung »wahr­schein­lich  als  poli­ti­sche,  regie­rungs­feind­li­che  Hand­lung ange­se­hen« was zu schär­fe­ren Stra­fen als den regu­lär vor­ge­se­he­nen Sank­tio­nen füh­ren kann. Dies kann Haft sein, in der Fol­ter und ande­re Miss­hand­lung droht, oder der Ein­satz an vor­ders­ter Front ohne aus­rei­chen­de mili­tä­ri­sche Aus­bil­dung. Mit Beginn des Bür­ger­kriegs kam es zu mas­sen­haf­ter Zwangs­re­kru­tie­rung. Deser­teu­ren dro­hen lan­ge Haft­stra­fen oder sogar die Todes­stra­fe – in der Pra­xis kam es oft zu direk­ten Erschie­ßun­gen von gefass­ten Deser­teu­ren (Quel­len: UNHCR, Schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­hil­fe, adopt a revo­lu­ti­on). Wie der Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on (EuGH) in einem Urteil vom 19. Novem­ber 2020 fest­stell­te, steht syri­schen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern des­we­gen in der Regel Flücht­lings­sta­tus zu. Vie­le haben in Deutsch­land aber in den letz­ten Jah­ren nur den soge­nann­ten sub­si­diä­ren Schutz bekom­men. Sie soll­ten sich jetzt drin­gend über einen Fol­ge­an­trag bera­ten las­sen (sie­he hier­zu auch die Hin­wei­se von PRO ASYL).

Keine sichere Rückkehr möglich

Wenn Deutsch­land eine Per­son abschie­ben will, dann besteht die Ver­pflich­tung für Deutsch­land sicher­zu­stel­len, dass der Per­son in dem Land kei­ne Fol­ter oder unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Behand­lung droht. Denn sonst wäre eine sol­che Abschie­bung ein Ver­stoß gegen das Fol­ter­ver­bot, wie es z. B. in Art. 3 EMRK nor­miert ist. Da das Fol­ter­ver­bot abso­lut ist, gilt die­se Ver­pflich­tung unab­hän­gig vom Ver­hal­ten der in Fra­ge kom­men­den Per­son – also auch bei Straftäter*innen und Gefährder*innen (sie­he die­se Über­sicht vom UNHCR zu Art. 3 EMRK und der dazu­ge­hö­ri­gen Recht­spre­chung und die­ses Gut­ach­ten des Wis­sen­schaft­li­chen Diens­tes des Bun­des­ta­ges). Doch genau eine sol­che Behand­lung droht Men­schen, die nach Syri­en zurück­keh­ren bzw. die zurück­ge­schickt werden.

»Wir als UNHCR rufen alle Staa­ten auf, kei­ner­lei Abschie­bun­gen nach Syri­en durch­zu­füh­ren. Das gilt für die von der Regie­rung kon­trol­lier­ten Gebie­te genau­so wie für die übrigen.«

Ayman Gha­rai­beh, UNHCR-Direk­tor für den Nahen Osten

Dies mach­te auch der UNHCR-Direk­tor für den Nahen Osten im Inter­view mit der Welt deut­lich (30.10.2020):

»Wir als UNHCR rufen alle Staa­ten auf, kei­ner­lei Abschie­bun­gen nach Syri­en durch­zu­füh­ren. Das gilt für die von der Regie­rung kon­trol­lier­ten Gebie­te genau­so wie für die übri­gen. […] Unse­re Ein­schät­zung gilt für aus­nahms­los alle Regio­nen, weil zurück­ge­führ­ten Per­so­nen viel­fäl­ti­ge Sicher­heits­ri­si­ken dro­hen«.

1.916

Fäl­le will­kür­li­cher Inhaf­tie­rung von Rückkehrer*innen sind seit 2014 protokolliert.

Wie gefähr­lich eine Rück­kehr sein kann, zei­gen Berich­te wie vom Syri­schen Netz­werk für Men­schen­rech­te. Von Janu­ar 2014 bis August 2019 doku­men­tier­te das Netz­werk 1.916 Fäl­le will­kür­li­cher Inhaf­tie­run­gen von Per­so­nen, die aus dem Aus­land nach Syri­en zurück­ge­kehr­ten, dar­un­ter 219 Min­der­jäh­ri­ge und 157 Frau­en. 1.132 der Inhaf­tier­ten sei­en wie­der frei­ge­las­sen wor­den, 784 blie­ben inhaf­tiert, 638 davon sei­en Opfer von »Ver­schwin­den-Las­sen« gewor­den, 15 der Inhaf­tier­ten sei­en unter Fol­ter gestor­ben. Man­che der »Frei­ge­las­se­nen« sei­en spä­ter erneut inhaf­tiert oder zwangs­re­kru­tiert worden.

Die Nach­rich­ten­sei­te For­eign Poli­cy ver­öf­fent­lich­te im Febru­ar 2019 die Geschich­te zwei­er Syrer, die aus Deutsch­land zurück­gin­gen, weil ihnen der Fami­li­en­nach­zug ver­wehrt blieb. Einer der bei­den wur­de zwei Wochen nach sei­ner Ankunft in Damas­kus zur Befra­gung durch den Geheim­dienst bestellt – und kehr­te nicht wie­der zu sei­ner Fami­lie zurück. Über einen Ver­mitt­ler konn­ten die Eltern schließ­lich her­aus­fin­den, dass er inhaf­tiert wur­de. Der ande­re wur­de eben­falls nach der Rück­kehr verhaftet.

Auch aus der Zeit vor dem Bür­ger­krieg, wäh­rend der Deutsch­land nach Abschluss eines Rück­über­nah­me­ab­kom­mens 2008 mit Syri­en in das Land abschob, sind sol­che Fäl­le bekannt. Zum Bei­spiel ein Fall aus Nie­der­sach­sen, bei dem Vater und Sohn im Febru­ar 2011 nach Syri­en abge­scho­ben wur­den – eine der letz­ten Abschie­bun­gen vor dem Bür­ger­krieg. Noch am Flug­ha­fen in Damas­kus wer­den sie inhaf­tiert, der 15-jäh­ri­ge Sohn wird misshandelt.

Dass jede Rück­kehr ein enor­mes Gefah­ren­po­ten­ti­al bie­tet und des­we­gen Abschie­bun­gen rechts­wid­rig sind, zeigt der Bei­trag »Es kann jeden tref­fen« aus der aktu­el­len Aus­ga­be des Maga­zins Der Schlep­per mit wei­te­ren Beispielen.

Was würde eine Lockerung des Abschiebungsstopps für Syrer*innen in Deutschland bedeuten?

Soll­te die Innen­mi­nis­ter­kon­fe­renz bei ihrer Tagung kei­ne Ver­län­ge­rung des kom­plet­ten Abschie­bungs­stopps beschlie­ßen und statt­des­sen Aus­nah­men für Straftäter*innen und Gefährder*innen vor­se­hen, wür­de dies also die tat­säch­li­che Lage im Land igno­rie­ren und ein fata­les Signal der Nor­ma­li­sie­rung des Assad-Regimes senden.

Die abso­lu­te Mehr­heit der syri­schen Geflüch­te­ten in Deutsch­land wür­de dies aber aktu­ell nicht betref­fen, da sie zum einen nicht in die­se zwei Kate­go­rien fal­len und weil sie zum ande­ren mit einem Flücht­lings­sta­tus oder einem sub­si­diä­rem Schutz nicht aus­rei­se­pflich­tig sind son­dern einen siche­ren Sta­tus in Deutsch­land haben. Adopt a Revo­lu­ti­on hat hier­zu auch eine hilf­rei­che Über­sicht gemacht.

(wj)