25.05.2023
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Im November 1992 protestierten Hunderttausende in Bonn - kurz bevor die SPD auf ihrem Sonderparteitag über die Grundgesetzänderung debattierte. Foto: imago / Jürgen Eis

CDU/CSU, FDP und SPD schlossen vor rund 30 Jahren den sogenannten »Asylkompromiss« - trotz aller Proteste aus der Zivilgesellschaft. Eine Rückschau auf die Debatten in den Jahren 1992 und 1993.

Am 26. Mai 1993 ver­ab­schie­de­te der Deut­sche Bun­des­tag eine Ände­rung in Arti­kel 16 des Grund­ge­set­zes (heu­te Art. 16a). Das Asyl­recht für poli­tisch Ver­folg­te wur­de damit aus­ge­höhlt. Fort­an soll­te nie­mand, der sich vor­her in einem »siche­ren Dritt­staat« auf­ge­hal­ten hat, dar­auf Anspruch erhe­ben kön­nen. Da Deutsch­land umge­ben von sol­chen Staa­ten ist, besteht die­se Mög­lich­keit also bei einer Ein­rei­se auf dem Land­weg de fac­to nicht mehr.

Vor­an­ge­gan­gen waren dem »Asyl­kom­pro­miss« mona­te­lan­ge Debat­ten, da für eine Ver­fas­sungs­än­de­rung die Stim­men der Regie­rungs­ko­ali­ti­on aus CDU / FDP nicht aus­reich­ten, son­dern auch die Stim­men der SPD benö­tigt wur­den. Nach vie­len inner­par­tei­li­chen Strei­tig­kei­ten beschlos­sen die Sozi­al­de­mo­kra­ten schließ­lich im Dezem­ber 1992 auf einem Son­der­par­tei­tag, dem zuzustimmen.

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Die Situa­ti­on 1992: Die CSU hetzt, die FDP schwenkt nach rechts, die SPD strei­tet – und ein pro­mi­nen­ter Sozi­al­de­mo­krat kün­digt sei­nen Aus­tritt an.

Widerstand aus der Zivilgesellschaft

»Es gab über Jah­re hin­weg auf poli­ti­scher Ebe­ne eine Het­ze gegen Asyl­su­chen­de, gegen Flücht­lin­ge. Gekop­pelt mit einem Hass auf der Stra­ße, der sich bis zu Brand­an­schlä­gen mit Toten stei­ger­te. Es gab aber auch eine Zivil­ge­sell­schaft, die gegen Gewalt und Ras­sis­mus auf­stand und sich orga­ni­sier­te. Hun­dert­tau­sen­de waren auf der Stra­ße, um das Recht auf Asyl zu ver­tei­di­gen«, erin­nert sich Gün­ter Burk­hardt, damals schon Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL im Interview.

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»Wir haben damals als deut­sche Bür­ger­rechts­be­we­gung mas­siv vor der Auf­ga­be eines Grund­rechts gewarnt, wel­ches ange­sichts der Flucht von Hun­dert­tau­sen­den Men­schen aus Nazi­deutsch­land eine his­to­ri­sche Bedeu­tung hat.«

Gün­ter Burk­hardt, 1993 Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL

»Wir waren auf meh­re­ren Ebe­nen aktiv. Wir haben mit gro­ßen Pro­test-Anzei­gen in Zei­tun­gen gear­bei­tet, unse­re Spre­cher waren als Sach­ver­stän­di­ge im Bun­des­tag gela­den, es gab die gro­ßen Demons­tra­tio­nen in Bonn. Und wir haben mehr als 100.000 Unter­schrif­ten gegen die Ent­ker­nung des Asyl­rechts gesam­melt, auch vie­le Pro­mi­nen­te haben unse­ren Auf­ruf damals unterstützt.«

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Anzei­gen­ak­tio­nen von PRO ASYL

Prominente für das Recht auf Asyl

Die gesell­schaft­li­che Debat­te damals war rie­sig. Gro­ße Pro/Contra – Dis­kus­sio­nen in Zei­tun­gen, par­tei­in­ter­ne Strei­tig­kei­ten und auch vie­le Pro­mi­nen­te, die sich damals dem Auf­ruf von PRO ASYL ange­schlos­sen hat­ten. Her­bert Grö­ne­mey­er, Gün­ter Grass, Wolf­gang Nie­de­cken, Dr. Jür­gen Haber­mas, Hel­la von Sin­nen… um nur eini­ge der Erstunterzeichner*innen des Auf­rufs »Nein zum Bon­ner Asyl­kom­pro­miss« zu nen­nen, der letzt­lich von rund 100.000 Men­schen unter­schrie­ben wurde.

Debat­te in der ZEIT. Für das Asyl­recht sprach sich unter ande­rem Schrift­stel­le­rin Doris Dör­rie aus…
…anders ihr Kol­le­ge Mar­cel Reich-Rani­cki, der von »Miß­brauch des Asyl­rechts« schrieb
Die Erst­un­ter­zeich­nen­den des Auf­rufs gegen den Asylkompromiss

Die großen Demonstrationen

Am 14.11. rief ein Bünd­nis aus der Frie­dens­be­we­gung, von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und von PRO ASYL zu einer gro­ßen Demons­tra­ti­on vor dem anste­hen­den Son­der­par­tei­tag der SPD auf. Im Bon­ner Hof­gar­ten kamen Hun­dert­tau­sen­de, auf der Kund­ge­bung sag­te PRO ASYL – Spre­cher Her­bert Leu­nin­ger in sei­ner Abschlussrede:

»Wir sind der Ver­fas­sungs­schutz! Weh­ren wir uns mit allen rechts­staat­li­chen Mit­teln gegen jeden Abbau von Grundrechten!«

Her­bert Leu­nin­ger, 1993 Spre­cher von PRO ASYL

»Seit Juli 1991 (!) hat es kei­ne fünf Tage gege­ben, in denen das Asyl­the­ma nicht in den Medi­en behan­delt wur­de. Was Wun­der, wenn das »Volk« glau­ben muß, es sei das wich­tigs­te The­ma die­ser Repu­blik und in den Flücht­lin­gen läge die Bedro­hung unse­res Staa­tes. Von der Bun­des­re­gie­rung wird gegen Flücht­lin­ge der Staats­not­stand auf­ge­ru­fen. Staats­streich­ar­tig wer­den Asyl­ge­set­ze ange­droht, auch auf die Gefahr hin, dass sie ver­fas­sungs­wid­rig sind. […] Am Tag nach der Ver­fas­sungs­än­de­rung haben wir eine ande­re Repu­blik. Dann gibt es für den Abbau wei­te­rer Rech­te kein hal­ten mehr. Wir sind der Ver­fas­sungs­schutz! Weh­ren wir uns gegen den Abbau von Grundrechten!«

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Demo am 14.11.1992 in Bonn. Ima­go / Sepp Spiegl

Die Pro­tes­te waren ver­geb­lich: Auf ihrem Son­der­par­tei­tag stimm­te die SPD dem Asyl­kom­pro­miss letzt­lich zu.

Die fina­le Abstim­mung im Bun­des­tag fand am 26. Mai 1993 statt. Dort wur­de der aus­ge­han­del­te Asyl­kom­pro­miss nach 14-stün­di­ger Debat­te mit den Stim­men vie­ler SPD-Abge­ord­ne­ter beschlos­sen. Auch an jenem Tag gab es aber etli­che Pro­tes­te vor dem Par­la­ment, die Zugangs­we­ge zum Bun­des­tag wur­den blo­ckiert, eini­ge Parlamentarier*innen muss­ten gar per Hub­schrau­ber ein­ge­flo­gen wer­den oder kamen nur per Schiff zum Tagungsort.

Rita Kan­t­emir-Tho­mä, Grün­de­rin des Ber­li­ner Flücht­lings­ra­tes und damals Abge­ord­ne­te der »Alter­na­ti­ven Lis­te« in Ber­lin erin­nert sich: »Die Ände­rung von Arti­kel 16 Grund­ge­setz 1993 war eine von zahl­rei­chen Maß­nah­men zur Ein­schrän­kung des Rechts auf Asyl und zur Abschre­ckung von Flücht­lin­gen. Die erhoff­te Wir­kung erfüll­te sich nicht. Men­schen, die unter poli­ti­scher Ver­fol­gung lei­den oder die in ihrer Hei­mat kei­ne Mög­lich­keit mehr sehen, sich und ihre Fami­li­en ernäh­ren zu kön­nen, deren Leben in einem Krieg oder Bür­ger­krieg gefähr­det ist oder die durch Natur­ka­ta­stro­phen mit­tel­los gewor­den sind, las­sen sich nicht abhal­ten, ihr Leben und das ihrer engs­ten Fami­li­en­mit­glie­der zu ret­ten. Sie haben ein Recht auf Schutz ihres Lebens«.

»Die erhoff­te Wir­kung der Grund­ge­setz­än­de­rung erfüll­te sich nicht. Men­schen las­sen sich nicht abhal­ten, ihr Leben und das ihrer engs­ten Fami­li­en­mit­glie­der zu ret­ten. Sie haben ein Recht auf Schutz.«

Rita Kan­t­emir-Tho­mä, Grün­de­rin Ber­li­ner Flüchtlingsrat
Durch Blockaden aller Zufahrstsstraßen versperrten rund 10 000 Demonstranten den Zugang zum Regierungsviertel. 260 Abgeordnete mußten per Schiff und 130 Parlamentarier mit dem Hubschrauber zur Debatte gebracht werden.
Durch Blo­cka­den aller Zufahrts­stra­ßen ver­sperr­ten rund 10 000 Demons­tran­ten am 26. Mai 1993 den Zugang zum Regie­rungs­vier­tel. 260 Abge­ord­ne­te muss­ten per Schiff, 130 mit dem Hub­schrau­ber zur Debat­te gebracht wer­den. Foto: pic­tu­re­al­li­ance / dpa
Auch auf dem Was­ser wur­de pro­tes­tiert. Foto: pic­tu­re alli­ance / dpa
Demons­tra­ti­on am 26. Mai 1993. Foto: pic­tu­re alli­ance / dpa

Was danach geschah

Weni­ge Tage nach der Grund­ge­setz­än­de­rung brann­te in Solin­gen das Haus der tür­ki­schen Fami­lie Genç. Fünf Men­schen star­ben bei die­sem ras­sis­ti­schen Brand­an­schlag. Hei­ko Kauff­mann war damals für PRO ASYL nach der Tat in Solin­gen. Auch heu­te sagt er: »Mit der Instru­men­ta­li­sie­rung des Asyl­rechts zulas­ten von Flücht­lin­gen und der Zer­schla­gung des Art. 16 GG sand­te die Poli­tik ein fata­les Signal an die rech­te Sze­ne aus. Der Zusam­men­hang zwi­schen media­ler Mobi­li­sie­rung, poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen und rechts­ra­di­ka­ler Gewalt wur­de (und wird auch heu­te noch) immer weit­ge­hend ver­drängt oder beschö­nigt. Dabei machen der Dis­kurs und die erbit­ter­te Aus­ein­an­der­set­zung um den Erhalt bzw. die Abschaf­fung des Asyl-Grund­rechts die lan­ge Tra­di­ti­ons­li­nie und Kon­ti­nui­tät poli­ti­scher und media­ler Het­ze und Rhe­to­rik, die den Nähr­bo­den für Ras­sis­mus bil­den kön­nen, deutlich«

»Mit der Instru­men­ta­li­sie­rung des Asyl­rechts zulas­ten von Flücht­lin­gen und der Zer­schla­gung des Art. 16 GG sand­te die Poli­tik ein fata­les Signal an die rech­te Sze­ne aus.«

Hei­ko Kauff­mann, ehem. Spre­cher PRO ASYL

Der Kampf um die Rech­te von Geflüch­te­ten ging für PRO ASYL auch nach der Grund­ge­setz­än­de­rung wei­ter. »Zum einen haben wir die Recht­mä­ßig­keit die­ser Grund­ge­setz­än­de­rung bezwei­felt und in der Kon­se­quenz dann Schutz­su­chen­de auf ihrem Weg vor Gericht unter­stützt, Anwäl­te gesucht, Pro­zes­se geführt. Bis hin zum Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Das betraf vor allem auch das Flug­ha­fen­ver­fah­ren, wo inner­halb kür­zes­ter Zeit Men­schen abge­fer­tigt und abge­scho­ben wur­den, ohne Rechts­bei­stand« erzählt Gün­ter Burkhardt.

Und: »Als zwei­te Fol­ge hat sich PRO ASYL als Orga­ni­sa­ti­on umori­en­tiert. Die Aus­ein­an­der­set­zung um das deut­sche Grund­recht hat­ten wir ver­lo­ren. Seit­dem kon­zen­trie­ren wir uns auf die ver­bind­li­chen Nor­men der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on, der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on und auf das Euro­pa­recht. Das steht über dem deut­schen Recht und garan­tiert Schutz­su­chen­den auch heu­te noch ihre unver­äu­ßer­li­chen Rechte.«

Genau 30 Jah­re spä­ter wer­den jetzt aber, auch von deut­schen Politiker*innen, die­se Nor­men und Kon­ven­tio­nen in Fra­ge gestellt. Auch dage­gen pro­tes­tie­ren wir natür­lich scharf.

(mk)