Hintergrund
Traumatisierte Geflüchtete im Asylverfahren: Interview mit einer Psychologin
Geflüchtete mit traumatisierenden Gewalterfahrungen finden in Deutschland nur schwer therapeutische Unterstützung. Diplom-Psychologin Jenny Baron berichtet im Gespräch mit PRO ASYL von der schwierigen Situation traumatisierter Flüchtlinge im Asylverfahren.
Baron arbeitet in der Berliner Geschäftsstelle der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BafF). Diese vertritt als Dachverband 37 regionale Behandlungszentren für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und politischer Verfolgung.
INTERVIEW
PRO ASYL: Frau Baron, Asylsuchende müssen in ihrer Anhörung detailliert schildern, was ihnen passiert ist. Was bedeutet das für traumatisierte Menschen?
Jenny Baron: In der Anhörung müssen Asylsuchende die Glaubwürdigkeit ihrer Asylgründe untermauern, indem sie das Erlebte konkret, detailreich, ohne Lücken und im richtigen raumzeitlichen Kontext schildern – mitsamt den Gefühlen, Sorgen und Ängsten. Das heißt, sie müssen über genau diejenigen Dinge sprechen, die sie am liebsten für immer vergessen würden.
Ein Trauma ist immer eine Konfrontation mit Extremen: Es erschüttert unsere Grundüberzeugungen, unsere Sicht auf die Welt als prinzipiell sicheren Ort, auf andere Menschen als grundsätzlich vertrauenswürdig und auf die Zukunft als im Großen und Ganzen sinnvoll und lebenswert. In der Regel beschädigen traumatische Erfahrungen das Erinnerungsvermögen. Traumatisierte Menschen werden zwar oft von unwillkürlichen Erinnerungen gequält, haben aber meist große Schwierigkeiten, ihre Erlebnisse gewollt und kontrolliert zu verbalisieren. Traumatische Erfahrungen werden nicht ganzheitlich verarbeitet, sondern in getrennten Erinnerungsstücken abgespeichert. Dementsprechend sind sie nicht ohne Weiteres vollständig und in ihrer zeitlichen Chronologie erinnerbar. Vermeidung ist zudem eine der drei Hauptsymptomkomplexe einer Posttraumatischen Belastungsstörung: Alle Erinnerungen und Gedanken an die Vergangenheit werden unterdrückt.
Menschen mit traumatischen Erfahrungen sind in der Anhörung möglicherweise unruhig oder aggressiv, sie verschließen sich und wirken teilnahmslos, schweigsam und »unkooperativ«. Gleichzeitig droht die Gefahr der Reaktualisierung, also eine Überflutung mit der traumatischen Erfahrungswelt, als wäre sie im Hier und Jetzt wieder präsent. Viele Asylsuchende, die Traumatisches erlebt haben, brauchen Zeit und professionelle psychologische Unterstützung, um die Anhörung zu bewältigen – schlimmstenfalls erhalten sie sonst nicht den Schutz, den sie benötigen.
Welche zusätzlichen Stressfaktoren sind für traumatisierte Flüchtlinge mit dem Asylverfahren verbunden?
Einer der größten Stressfaktoren ist die Unsicherheit in allen Lebensbereichen. Eine Traumatisierung ist kein einmaliges Ereignis, das im Herkunftsland stattgefunden hat und nach der Flucht mit der Ankunft in Deutschland vorbei ist. Was traumatisierte Menschen nach der Flucht vor allem brauchen, ist innere und äußere Sicherheit. Unterschiedliche Risiko- und Schutzfaktoren im sozialen Kontext entscheiden ganz maßgeblich darüber mit, ob jemand, der Traumatisches erlebt hat, eine psychische Störung entwickelt oder nicht. Es ist schwer sich zu stabilisieren, wenn das Leben eine einzige Warteschleife ist. Durch den Kontrollverlust, der mit dem Asylverfahren verbunden ist, wiederholt sich für viele Menschen das Gefühl, der Umwelt hilflos ausgeliefert zu sein – ein Gefühl, wie sie es in extremster Form aus der traumatischen Situation kennen.
Flüchtlinge sollen künftig nach bayerischem Vorbild in sogenannten »AnkER-Zentren« isoliert für die Dauer des Asylverfahrens untergebracht werden. Welche Auswirkungen kann das auf traumatisierte Menschen haben?
Lebensbedingungen, Aufenthaltsstatus und Art der Unterbringung haben einen deutlichen Einfluss auf die Gesundheit von Geflüchteten. Je länger Menschen in ihrer Autonomie beschnitten werden, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von psychischen Störungen. Probleme bei der Arbeitssuche, die damit verbundene finanzielle Unsicherheit, Diskriminierungserfahrungen oder Probleme bei der Familienzusammenführung sind zusätzliche Risikofaktoren. Je mehr dieser Faktoren zusammenwirken, desto höher ist das Risiko zu erkranken. In den geplanten »AnkER-Zentren« treffen so ziemlich alle psychotraumatologisch bestätigten Risikofaktoren zusammen. Wir sollten sehr ernst nehmen, dass sich die Suizidversuche unter Geflüchteten in Bayern in den letzten Jahren verdreifacht haben.
Traumatisierte Asylsuchende sollen als besonders vulnerable Gruppe im Asylverfahren identifiziert und entsprechend unterstützt werden. Wird das Ihrer Erfahrung nach berücksichtigt?
Unserer Erfahrung nach werden Hinweise auf Traumatisierung nur dann wahrgenommen, wenn Geflüchtete auf ihrem Weg durch das Asylverfahren engagierten, sensiblen und erfahrenen Menschen begegnen, die sie dabei unterstützen, besondere Bedarfe geltend zu machen. Dabei spielen vor allem Glück, Zufall und Beharrlichkeit eine Rolle. Die Symptome von Traumafolgestörungen können zudem sehr unspezifisch sein. In der Regel fallen nur Personen auf, die sich auffällig verhalten oder ihre Belastung kommunizieren können. Menschen, die eher depressiv reagieren und sich zurückziehen, fallen fast immer durch das Netz. In einigen Regionen erhalten die Mitarbeiter*innen der Sozialdienste inzwischen spezielle Schulungen und arbeiten mit Psychosozialen Zentren (PSZ) oder Kliniken zusammen. Aber es gibt kein bundesweites Konzept, obwohl die Defizite nicht erst seit gestern bekannt sind.
»Es ist schwer, sich zu stabilisieren, wenn das ganze Leben eine Warteschleife ist.«
Unter welchen Voraussetzungen haben Schutzsuchende Zugang zu Therapieangeboten?
Asylsuchende sind in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland nicht krankenversichert. Für diese Zeit gelten die eingeschränkten Gesundheitsleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Psychotherapie ist dort nur eine Kann-Leistung im Ermessen der Sozialbehörde. Nach europäischem Recht müssten die Behörden eigentlich alle Therapien für Personen bewilligen, bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wurde. In der Praxis passiert das leider nicht. Der Großteil der psychisch erkrankten Geflüchteten wird in Deutschland in den fast gänzlich durch Spenden und Fördermittel finanzierten PSZ versorgt, rund 18.000 Menschen pro Jahr. Aber das ist nur ein Bruchteil derjenigen, die Unterstützung benötigen. Nicht zu wissen, ob und wann eine Therapie vom Kostenträger bewilligt wird, nehmen nur wenige, in freier Praxis tätige Kolleg*innen aus humanitären Gründen in Kauf. Gesundheitliche Versorgung sollte aber kein humanitärer Akt sein. Gesundheit ist ein Menschenrecht, das allen hier lebenden Personen diskriminierungsfrei gewährt werden muss.
Es gibt inzwischen auch von Universitäten unterstützte Initiativen, die in wenigen Wochen »Laien-Traumatherapeuten« ausbilden (Regensburger Konzept). Wie beurteilen Sie das?
Viele Menschen, die unter Traumafolgestörungen leiden, neigen zu Impulsdurchbrüchen, dissoziativen Symptomen, Substanzmissbrauch, Selbstverletzungen oder Suizidalität. Dass muss nach fachlichen Kriterien professionell abgeklärt und in der Behandlungsplanung berücksichtigt werden. Es ist fachlich, menschenrechtlich und ethisch inakzeptabel, hier mit zweierlei Maß zu messen. Laien-Traumatherapie-Projekte suggerieren, dass es aus strukturellen und Kostengründen nicht möglich sei, Geflüchtete bedarfsgerecht zu versorgen. Hier wird ein systemischer Mangel verwaltet, statt ihn auf struktureller Ebene zu beseitigen.
Das Gespräch führte Miriam Fehsenfeld, PRO ASYL.
(Dieses Interview erschien erstmals im Heft zum Tag des Flüchtlings 2018.)