Hintergrund
Beim Sterben zusehen: Von Mare Nostrum zur Frontex-Operation Triton

28.000 Menschen starben in den letzten 15 Jahren auf dem Weg nach Europa. Die italienische Seenotrettung »Mare Nostrum« wurde eingestellt, doch die europäische Folgeoperation »Triton« hat die Rettung von Menschenleben nicht zum Ziel. Der zehntausendfache Tod von Schutzsuchenden ist integraler Bestandteil europäischer Abwehrpolitik.
Die Zahl der Flüchtlinge, die den mörderischen Seeweg wählen müssen, nimmt dramatisch zu. Über 200.000 Schutzsuchende, davon 69.000 aus Syrien, nahmen 2014 dieses Martyrium der Überfahrt auf sich – über das zentrale Mittelmeer oder die griechische Ägäis. Mindestens 4.000 starben. Flüchtlinge steigen in die Boote, weil sie keine andere Wahl haben: Es gibt keine legalen Wege nach Europa. Und was macht Europa? Die Mittel für Seenotrettung werden reduziert, das Operationsgebiet verkleinert. Die Folgen waren vorher klar: Weniger Rettung heißt, dass noch mehr Menschen sterben. So einfach ist die Rechnung in der europäischen »Flüchtlings«-Politik.
Von Mare Nostrum zu Triton
Die italienische Seenotrettungsoperation Mare Nostrum hat binnen eines Jahres 130.000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet – und dennoch starben tausende Flüchtlinge. Den dramatischen Todeszahlen zum Trotz wurde diese Rettungsoperation nicht ausgeweitet, sondern Ende Oktober 2014 eingestellt. Die europäischen Regierungen hatten sich strikt geweigert, Mittel zur Verfügung zu stellen, um Mare Nostrum in eine europäische Seenotrettung zu überführen. Frontex- Interimsdirektor Gil Arias bestätigte bereits bei seiner Präsentation der neuen Operation Triton vor dem Europaparlament am 4. September 2014: »Weder die Mission noch die Ressourcen erlauben ein Ersetzen von Mare Nostrum.« Es bestehe ein »fundamentaler Unterschied« zwischen Triton und Mare Nostrum. Während letztere eine »Such- und Rettungsoperation« sei, fokussiere Triton auf Grenzkontrollen. Der bewusst drastisch reduzierte Einsatzradius und die geringere Mittelausstattung – ein Drittel des Budgets von Mare Nostrum – machen Triton zu einer Sterbebeobachtungsoperation.
»Weder die Mission noch die Ressourcen erlauben ein Ersetzen von Mare Nostrum.«
Antonio Guterres, UN-Flüchtlingshochkommissar, hat im Dezember 2014 die Haltung der europäischen Regierungen mit scharfen Worten kritisiert: »Einige Regierungen räumen der Abwehr von Flüchtlingen höhere Priorität ein als dem Recht auf Asyl.« Dies sei genau die »falsche Reaktion in einer Zeit, in der eine Rekordanzahl an Menschen vor Kriegen auf der Flucht ist«, so Guterres. Flüchtlingspolitik dürfe nicht »den Verlust von Menschenleben als Kollateralschaden akzeptieren.«
In der Tat: Der Club der EU- Innenminister nimmt diese Toten billigend in Kauf, weil die Seenotrettung einen Anreiz bilden könnte für weitere Fluchtbewegungen. »Mare Nostrum hat sich als Brücke nach Europa erwiesen«, kommentierte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière das Ende von Mare Nostrum. Um die Logik der Abschreckung aufrechtzuerhalten, wird einfach weniger gerettet. Nach kurzen Betroffenheitsbekundungen kennt Europa nur eine ritualisierte Antwort auf neue Todesopfer: Stets heißt es, »wir werden den Kampf gegen die Schlepper verstärken«. Anstatt legale Wege nach Europa für die Schutzsuchende zu eröffnen, werden nur die Symptome der Festung Europa bekämpft. Die Schlepperindustrie lebt prächtig mit den ausgeklügelten Abwehrmaßnahmen der EU. Sie offeriert den Zugang nach Europa für viel Geld und häufig unter menschenverachtenden Bedingungen.

Der Evergreen
Seit Herbst 2014 diskutieren die EU-Innenminister über Flüchtlingslager in Nordafrika. Schutzsuchende sollen bereits in Transitstaaten von der Überfahrt über das Mittelmeer abgehalten werden – angeblich um Tote zu verhindern. Bundesinnenminister Thomas de Maizière rühmt sich, die Debatte über diese »Willkommenszentren « initiiert zu haben. Der Evergreen »Lager irgendwo in Afrika« – revitalisiert zu einer Zeit, in der Europa die Seenotrettung bewusst zurückgefahren hat – ist zynisch, realitätsfern und geschwätziges Blendwerk, um Europas völlige Tatenlosigkeit angesichts des Massensterbens und des Flüchtlingselends auf der anderen Seite des Mittelmeers zu verdecken.
In einem zweiseitigen »Non-Paper« an die EU-Innenminister lässt die italienische Regierung im März 2015 dann auch jegliches humanitäres Beiwerk beiseite. Um Flüchtlinge effektiv abzuschrecken, sollen Seenotkapazitäten nicht in Europa, sondern in Tunesien und Ägypten ausgebaut, Flüchtlingsboote frühzeitig abgefangen und zurückverfrachtet werden. In anderen Worten: Die EU will diese Drittstaaten anheuern, um sich ihrer menschenrechtlichen Verpflichtungen zu entledigen. Was mit den Flüchtlingen in den nordafrikanischen Staaten passiert, spielt in diesem Szenario keine Rolle mehr. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Seenotrettung und legale Wege
Ginge es, wie behauptet, darum, das Leid der Flüchtlinge zu mindern, dann wäre die fatale Frontex-Operation Triton längst beendet, eine europäische Seenotrettung installiert und gleichzeitig ein großzügiges Flüchtlingsaufnahmeprogramm auf EU-Ebene aufgelegt. Das Mittelmeer ist unser gemeinsames Meer, die Rettung von Bootsflüchtlingen eine gesamteuropäische Aufgabe. Auf dem afrikanischen Kontinent und in den Nachbarstaaten Syriens und Iraks gibt es bereits zahlreiche Flüchtlingslager. Die Schutzkapazitäten sind dort schon lange erschöpft. EU-Kommissar Avramopoulos könnte seinen Job machen, indem er endlich eine europäische Flüchtlingsaufnahmekonferenz zu Syrien und Irak organisiert. Er sollte sich für die Nutzung existierender Instrumentarien wie humanitäre Aufnahme- und Resettlementprogramme, unbürokratische Visavergabe oder Aussetzung der Visumspflicht, erweiterte Familienzusammenführung einsetzen, um Hunderttausenden Flüchtlingen den lebensgefährlichen Seeweg zu ersparen.
Gestrandete aus Syrien, Eritrea, Somalia und andere kämpfen um ihr Überleben im anhaltenden libyschen Bürgerkrieg. Eine Evakuierung zu ihrer Rettung wäre ein Gebot der Menschlichkeit. Eigene Staatsangehörige hatten die EU-Staaten schnell und umsichtig außer Landes gebracht. Flüchtlinge dagegen waren schutzlos zurückgeblieben und fortan gezwungen, die häufig tödlich endende Bootspassage nach Europa anzutreten.
An den Außengrenzen der EU, in Bulgarien, Griechenland, Ceuta und Melilla werden systematisch Schutzsuchende völkerrechtswidrig zurückgewiesen. Die Einhaltung menschenrechtlicher Standards würde ihnen den Zugang zum Territorium der EU eröffnen. Den ankommenden Flüchtlingen muss dann die legale Weiterreise zu ihren Familien und Communities in anderen EU-Staaten ermöglicht werden.
Angesichts des nahenden grausamen »Flüchtlingssommers« kämpfen PRO ASYL und Menschenrechtsorganisationen in ganz Europa für einen europäischen Seenotrettungsdienst und legale Wege für Schutzsuchende, um dieses Massaker im Mittelmeer zu beenden. Es geht um Leben und Tod.
Karl Kopp