01.06.2016

Eine Randnotiz zum alltäglichen Sprachgebrauch

Mehr und mehr Enga­gier­te ver­wen­den den Begriff „Geflüch­te­te“. Denn das Wort „Flücht­ling“ ist ange­klagt. Der Vor­wurf lau­tet: Das Wort habe eine bedenk­li­che Wort­struk­tur, deren Endung ‑ling sich in vor­wie­gend nega­tiv kon­no­tier­ten Wör­tern (Fies­ling, Schrei­ber­ling) wie­der­fin­de. Aller­dings las­sen sich auch für die Aus­nah­me von der ver­meint­li­chen Regel leicht Bei­spie­le fin­den (Lieb­ling, Schmet­ter­ling). Auch wird – nicht wirk­lich zum ers­ten Argu­ment pas­send – moniert, die Endung hät­te ver­nied­li­chen­den Cha­rak­ter. Wer die Kri­tik an der Wort­struk­tur ver­ste­hen will, muss tie­fer in die in die Sprach­wis­sen­schaft einsteigen.

Zuge­ge­ben: Das Gen­dern des „Flücht­lings“ fällt schwer, denn eine expli­zit weib­li­che Form des Begriffs gibt es nicht. Und „Geflüchtete*r“ hat im Unter­schied zum Flücht­ling den Vor­zug, dass die Ablei­tung vom Par­ti­zip Per­fekt ein poten­zi­el­les Ende der Flucht schon inte­griert. Nie­mand will auf Dau­er ein Flücht­ling sein.

Doch schau­en wir in die sprach­li­che Pra­xis: Wird denn das Wort Flücht­ling vor allem in abwer­ten­der Wei­se gebraucht, von Zuhö­ren­den über­wie­gend nega­tiv ver­stan­den? Wer sich umhört, stellt fest, dass dem nicht so ist, auch wenn das Wort seit der Zuspit­zung der öffent­li­chen Debat­te ver­mehrt auch in nega­ti­ven Zusam­men­hän­gen zu fin­den ist.

Schon in den 1990er Jah­ren haben die Enga­gier­ten in der Flücht­lings­ar­beit, Ver­ei­ne wie PRO ASYL und die Flüchtlings(!)räte den Flücht­lings­be­griff bewusst dem ein­deu­tig abwer­ten­den „Asy­lan­ten“ gegen­über­ge­stellt, um klar zu machen: Die da kom­men nicht, weil sie es auf unser schö­nes Land abge­se­hen haben, son­dern weil sie auf der Flucht sind vor Hor­ror und Leid – und auf der Suche nach Schutz. Der Begriff der „Schutz­su­chen­den“ hat sich dem­entspre­chend in Fach­krei­sen als Alter­na­ti­ve etabliert.

Der Begriff „Asy­lant“ ist heu­te indis­ku­ta­bel, der des Flücht­lings hat es dage­gen in die Main­stream­m­e­di­en, in die Poli­tik und in die All­tags­ge­sprä­che geschafft.  Das ist ein Ver­dienst der alten Flücht­lings­in­itia­ti­ven und ein Sym­bol dafür, dass die­se Gesell­schaft nicht in den 1990ern ste­cken geblie­ben ist – auch wenn rech­te Populist*innen heu­te erneut erfolg­reich ihr rhe­to­ri­sches Gift verspritzen.

Die jeden­falls ärgert der Sie­ges­zug des „Flücht­lings“. In rech­ten Krei­sen wird gene­rell lie­ber von „ille­ga­len Ein­wan­de­rern“ gespro­chen, oft wer­den noch weit nega­ti­ve­re Begrif­fe ver­wen­det. Der „Flücht­ling“ ist offen­sicht­lich einer, der es einem schwer macht, her­ab­wür­di­gend über ihn zu reden.

Wer „Flücht­ling“ sagt, trans­por­tiert auch den his­to­ri­schen und recht­li­chen Bedeutungshorizont.

Außer­dem: „Flücht­lin­ge“ erin­nern an die Fol­gen der NS-Dik­ta­tur und damit an unse­re eige­ne kol­lek­ti­ve Geschich­te von Flucht und Ver­trei­bung. Flücht­lin­ge – das waren Ber­tolt Brecht, Kurt Tuchol­sky, Wil­ly Brandt, Else Las­ker-Schü­ler oder Albert Ein­stein. Flücht­lin­ge waren vor allem unse­re Eltern und Groß­el­tern, die nach dem Krieg ihr Eigen­tum ver­lo­ren, mit Kar­ren zu Fuß nach Wes­ten zogen und Schau­er­li­ches erleb­ten. Die Erin­ne­rung dar­an ist in vie­len Fami­li­en noch heu­te sehr leben­dig. Und nicht weni­ge Enga­gier­te erklä­ren heu­te ihr Tun auch mit dem Satz: „Mei­ne (Groß-)Eltern waren damals auch Flücht­lin­ge.“ Die Gemein­sam­kei­ten sol­cher Erfah­run­gen mit denen der Kriegs­flücht­lin­ge heu­te zu sehen, öff­net die Tür für Empathie.

Im juris­ti­schen Sinn ist ein Flücht­ling einer, der Rech­te hat. Durch einen inter­na­tio­na­len und euro­päi­schen Rechts­rah­men, des­sen Ent­wick­lung nach dem Zwei­ten Welt­krieg mit der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on begann. Die­ses Recht gesteht Flücht­lin­gen noch vor Fest­stel­lung des „Flücht­lings­sta­tus“ den Anspruch auf eine indi­vi­du­el­le Schutz­prü­fung zu. Inzwi­schen wird der Begriff der „aner­kann­ten Flücht­lin­ge“ teil­wei­se abge­löst durch die „Inter­na­tio­nal Schutz­be­rech­tig­ten“. Doch schon allein wegen des Hin­wei­ses auf die ver­bürg­ten Rech­te der „Flücht­lin­ge“ in der Gen­fer Kon­ven­ti­on kann er – zumin­dest vor­erst – nicht auf­ge­ge­ben werden.

Wer „Flücht­ling“ sagt, trans­por­tiert auch den his­to­ri­schen und recht­li­chen Bedeu­tungs­ho­ri­zont. „Geflüch­te­te“ zu sagen, ist hip­per, der Begriff in Wort­sinn und Wort­struk­tur wohl unpro­ble­ma­tisch, aber auch noch ohne his­to­ri­sche Bedeu­tung. Viel­leicht steht er ja ein­mal für all die Men­schen, die sich ab Som­mer 2015 in gro­ßer Viel­zahl nach Euro­pa auf­mach­ten, wor­auf­hin die Staa­ten Euro­pas den in sie gesetz­ten Hoff­nun­gen flugs ein Ende mach­ten. Sind die Geflüch­te­ten der Zukunft die­je­ni­gen, die vor den Toren Euro­pas dar­um bet­teln müs­sen, bei uns Flücht­lin­ge wer­den zu dür­fen? Hof­fent­lich nicht. Denn die­se Men­schen sind – auch – Flücht­lin­ge. Wor­um es aktu­ell gehen muss, bei aller Auf­merk­sam­keit für Spra­che, ist der gemein­sa­me Kampf gegen den Aus­ver­kauf der Flüchtlingsrechte.

Andrea Kothen

(Die­ser Bei­trag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flücht­lings 2016.)


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