Hintergrund
Leistungsanspruch und ‑umfang für Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Der Leistungsumfang der gesundheitlichen Versorgung für Flüchtlinge ist in den §§ 4, 6 AsylbLG geregelt. Das Team von »Gesundheit für Geflüchtete«, einem Informationsportal von Medibüros und Medinetzen, hat auf seiner Homepage ausführlich beschrieben, in welchem Umfang Flüchtlinge von Ärzt*innen behandelt werden können.
Die gesetzlich vorgesehene Gesundheitsversorgung ist für alle Gruppen geflüchteter Menschen im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt.
Allerdings gibt das Gesetz keine klare Definition über die konkret zu erbringenden medizinischen Leistungen, was in der Praxis oftmals zu Verunsicherungen und inkorrekter Auslegung führt. Inzwischen gibt es in der Rechtsinterpretation allerdings klare Hinweise und Konkretisierungen. Anhand des juristischen Wortlauts wird diese nachfolgend wiedergegeben.
1. Leistungsberechtigte Menschen
Leistungsberechtigt sind alle Menschen, die Grundleistungen nach dem §§ 1, 3 AsylbLG erhalten, das bedeutet in der Regel innerhalb der ersten 15 Monate des Aufenthalts in Deutschland. Danach besteht seit dem 01.03.2015 gemäß § 2 AsylbLG ein Anspruch auf Leistungen entsprechend der Sozialhilfe, was die reguläre gesetzliche Krankenversicherung einschließt. 1
Die nachfolgenden Ausführungen zum Leistungsumfang beziehen sich demnach nur auf Geflüchtete, die sich innerhalb der ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts in der BRD befinden.
2. Leistungsumfang
Der Leistungsumfang der gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter ist in den §§ 4, 6 AsylbLG geregelt. Eine medizinische Versorgung ist im Krankheitsfall (bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen) mit ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung zu gewährleisten, einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen. Zudem sind die amtlich empfohlenen Schutzimpfungen inbegriffen, ebenso wie alle Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt (Vgl. § 4 AsylbLG). Darüber hinaus können laut der Öffnungsklausel § 6 AsylbLG »sonstige Leistungen […] insbesondere […] wenn sie im Einzelfall zur Sicherung […] der Gesundheit unerläßlich« sind, abgerechnet werden.
Die zuständigen Sozialbehörden haben die Verpflichtung, die Leistungen sicherzustellen (sog. Sicherstellungsauftrag) (ergibt sich aus § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylbLG).
Die Definition der unbestimmten Rechtsbegriffe »akuter Erkrankungen« und »Schmerzzustände«, wie sie dem Wortlaut des § 4 AsylbLG zu entnehmen sind, stoßen in der Praxis regelmäßig auf Verunsicherungen. Daher folgt eine ausführliche juristische Zusammenstellung zur Auslegung der Norm, nach einer stichpunktartigen Zusammenfassung für die konkrete Behandlungspraxis.
- immer bei akuten Erkrankungen, d. h. plötzlich auftretende, schnell und heftige verlaufenden Erkrankungen
- immer bei akut behandlungsbedürftigen (insbesondere auch chronischen!) Erkrankungen,
- immer bei Erkrankungen, die mit Schmerzen verbunden sind,
- immer wenn die Behandlung der akuten Erkrankung oder der Schmerzzustände untrennbar eine Therapie des Grundleidens voraussetzt,
- ohne jede Einschränkung (entsprechend des SGB V) Leistungen bei Schwangerschaft und zur Entbindung, einschließlich Hebammenhilfe und Pflege,
- immer bei chronischen Erkankungen, die sonst akut werden würden
- ohne jede Einschränkung amtlich empfohlene Schutzimpfungen und medizinisch gebotene Vorsorgeuntersuchungen
- immer bei Erkrankungen, deren Behandlung zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist, dies können bspw. auch chronische und v. a. psychische Erkrankungen sein (§ 6 AsylbLG)
- alle erforderlichen Leistungen erfolgen ohne Kostenbeteiligung des Leistungsberechtigten (Zuzahlungen, Festbeträge o.ä.) 2
→ zusammengefasst entspricht dies weitgehend dem Leistungsumfangs des SGB V, der gesetzlichen Krankenversicherung, so wie es seit vielen Jahren im sog. Bremer Modell erfolgreich umgesetzt wird.
1) Leistungen nach § 4 AsylbLG
a) bei akuten Erkrankungen
Der Begriff der akuten Erkrankung ist im Gesetz nicht definiert, laut dem Klinischen Wörterbuch Pschyrembel und der Rechtsprechung 3 ist darunter eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung zu verstehen, im Gegensatz zur chronischen Erkrankung. Die Abgrenzung zwischen akuter und chronischer Erkrankungen hat unter medizinischen Gesichtspunkten und im Einzelfall zu erfolgen, dies kann nur eine behandelnde Ärzt*in beurteilen. 4 Die Behandlung einer chronischen Erkrankungen ist dann zu gewährleisten, wenn damit akute, konkret behandlungsbedürftige Krankheitszustände einhergehen. Auch kann eine Behandlung der chronischen Erkrankung (laut § 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG) beansprucht werden, wenn die Behandlung der akuten Erkrankung oder der Schmerzzustände untrennbar eine Therapie des Grundleidens voraussetzt. 5
b) bei Schmerzzuständen
Ebenso ist die Begrifflichkeit Schmerzzustände gesetzlich nicht definiert, die medizinische Terminologie versteht darunter eine »komplexe Sinneswahrnehmung unterschiedlicher Qualität (bspw. stechend, ziehend, brennend, drückend), die i.d.R. durch Störungen des Wohlbefindens als lebenswichtiges Symptom von Bedeutung ist«. 6 Im Sinne des § 4 Abs. 1. S. 1 AsylbLG ist darunter ein mit aktuellen oder potenziellen Gewebsschädigung verknüpfter unangenehmer Sinnes- und Gefühlszustand zu verstehen, der aus medizinischen Gründen der ärztlichen oder zahnärztlichen Behandlung bedarf. 7 Demnach sieht die Auslegung der Norm einen Behandlungsanspruch sowohl bei akuten (z. B. Aufgrund von Verletzungen oder Zahnschmerzen) als auch bei chronischen Schmerzzuständen (z. B. Bei Migräne oder Krebsleiden) vor, die Unterscheidung nach chronischem, d. h. langsam wachsendem oder unmittelbar auftretendem Schmerz kann bei Vorliegen der Symptome nicht maßgeblich sein. 8
Bei Schmerzzuständen besteht immer ein Anspruch auf die erforderliche Behandlung, unabhängig davon, ob die Schmerzen akut oder chronisch sind. »Akut« im Sinne der Norm bezieht sich nur auf Erkrankungen, nicht auf Schmerzzustände. 9
Bei chronischen Erkrankungen sollten neben den akuten und schmerzhaften Beschwerden auch die Schwere und das Ausmaß ermittelt werden, ebenso wie die drohenden Gesundheitsfolgen bei Ablehnung oder Behandlung (kurz- oder längerfristige Prognose). Entsprechend des Ergebnisses ist die Behandlung ausreichend zu erbringen. Eine Leistungsgrundlage kann sich neben dem § 4 Abs. 1 auch aus dem § 6 AsylbLG ergeben (siehe nachfolgend 2), Leistungen nach § 6 AsylbLG), was in der Praxis oftmals verkannt wird. 10
Grundsätzlich hat der Leistungsumfang den allgemeinen Regeln des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts zu entsprechen, wonach die Behandlung nach den Regeln ärztlicher Kunst, ausreichend und zweckgemäß (Vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V), erfolgen muss, wirtschaftlich zu sein hat und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten soll (§ 12 Abs. 1 SGB V).
c) Versorgung mit Arznei- und Verbandsmitteln
Es sind alle medizinisch notwendigen Arznei- und Verbandsmittel zu gewährleisten analog zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 31 SGB V). Zu beachten ist hierbei, dass alle erforderlichen Arznei- und Verbandmittel ohne Kostenbeteiligung des Leistungsberechtigten (Zuzahlungen, Festbeträge o. ä.) erfolgen. 11
d) bei sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen
Diese Leistungen können bspw. die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln (z. B. Rollstuhl, Brille, Prothese usw.), notwendige Heil- und Genesungskuren, Maßnahmen der häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation wie Kosten für die stationäre Unterbringung – z. B. eines schwer mehrfach behinderten Kindes in einer Behinderteneinrichtung 12 – sein. Ebenso gehören Fahrtkosten zur Krankenbehandlung 13, ebenso Dolmetscherkosten, was in der Praxis teilweise verkannt wird. 14
e) Zahnersatz
Eine Versorgung mit Zahnersatz ist gemäß Abs. 1 Satz 2 nur möglich, wenn diese unaufschiebbar, d. h. unmittelbar notwendig ist. Für die Notwendigkeit des Zahnersatzes sind allein medizinische Gründe relevant, die Entscheidung liegt bei der behandelnden Zahnärzt*in, nur formell bei der zuständigen Sozialbehörde; allerdings kann ein amtsärztliches Gutachten verlangt werden. 15
f) Versorgung bei Schwangerschaft und Geburt
Nach der Norm wird werdenden Müttern und Wöchnerinnen eine umfassende und wirksame Hilfe während der Schwangerschaft sowie bei der Geburt zuteil. Nach der Entstehung der Norm schließt dies alle Leistungen entsprechend der gesetzlichen Krankenversicherung ein: übliche medizinische Leistungen der niedergelassenen Ärzt*innen und stationärer Aufenthalte, sämtliche Vorsorgeuntersuchungen für Mutter und Kind, Hebammenhilfe sowie Medikamente und Heilmittel. 16
g) Schutzimpfungen
Die Versorgung mit amtlich empfohlenen Schutzimpfungen (nach den STIKO- Empfehlungen) sind vollständig in die zu gewährenden Leistungen eingeschlossen (§ 4 Abs. 3 Satz 1), und von der zuständigen Behörde anzubieten. Es besteht jedoch keine Impfpflicht für die Betroffenen, sie sind gleichgestellt mit allen Bürger*innen der BRD. 17
h) Vorsorgeuntersuchungen
Es sind die medizinisch gebotenen Vorsorgeuntersuchungen zu gewähren, worunter u. a. Krebsvorsorgeuntersuchungen (gemäß § 25 Abs. 2 SGB V) und Kinderuntersuchungen (laut § 26 SGB V) fallen. Untersuchungen zur Schwangerschaftsvorsorge und zur Feststellung der Schwangerschaft sind schon nach § 4 Abs. 2 AsylbLG zu leisten. 18
2) „Sonstige“ Leistungen nach § 6 AsylbLG
Neben der eingeschränkten Leistungsgewährung nach § 4 ist stets die Öffnungsklausel des § 6 AsylbLG zu beachten, wonach »sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlich sind.« Der unbestimmte Begriff der Gesundheit ist im biologisch-physiologischen Sinn zu verstehen und schließt ebenso das psychische Wohlbefinden mit ein. 19
a) chronische Erkrankungen
Im Einzelfall kann die Behandlung einer chronischen Erkrankung und die Versorgung mit Arzneimitteln als sonstige Leistung i.S.d. § 6 AsylbLG beansprucht werden, was in der Praxis teilweise wenig Beachtung findet. 20
b) psychische Erkrankungen
Die Beurteilung über das Ausmaß und die Intensität der Erkrankung bereitet in der juristischen Praxis meist Schwierigkeiten, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. Wenn eine psychische Erkrankung nicht bereits über § 4 AsylbLG abgerechnet werden kann (bei akuten und seelisch schmerzhafte psychischen Erkrankung), dann ist im Einzelfall die Anwendung des § 6 AsylbLG zu prüfen. Der medizinische Sachverhalt ist dann zu ermitteln bspw. durch die Einholung von Befundberichten bzw. Stellungnahmen der behandelnden Ärzt*in. Besonderes Gewicht bei der Auslegung der Norm kommt den drohenden Gesundheitsfolgen bei einer Leistungsablehnung zu. 21
c) Weitere sonstige Leistungen
Ebenso können als »sonstige Leistungen« erweiterte notwendige Hilfsmittel (i.S.d. § 33 Abs. 1 SGB V) beansprucht werden, wenn diese nicht bereits durch § 4 AsylbLG abgedeckt werden konnte. Voraussetzung für die Leistungsgewährung ist, dass die Hilfsmittel zur Vermeidung von Krankheitsfolgeschäden oder einer erhöhten Unfallgefahr (bspw. bei einem Hörgerät, Brillen, Körperersatzstücken und orthopädischen Hilfsmitteln) dringend erforderlich sind. 22
Die Kostenübernahme für den vorübergehenden Aufenthalt in einem Frauenhaus kommt als Leistung, die zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist, ebenso in Betracht, besonders dann, wenn die Betroffene ohne Obdach weiteren Gefährdungen durch den Täter ausgesetzt ist. Den von häuslicher und sexueller Gewalt betroffenen Frauen und ihren Kindern können zur Gewährung von anonymem Schutz vor weiteren Angriffen und Gefährdungen ihrer körperlichen Unversehrtheit nicht nur die Unterkunftskosten gewährt werden, sondern im Einzelfall auch die Kosten für weitergehende Hilfestellungen (therapeutische Maßnahmen,
Beratung etc.). 23
3. Fazit: Gesundheitsleistung weitgehend analog zur gesetzlichen Krankenversicherung
Besonders aufgrund der Entscheidung des BVerfG 24 auf ein menschenwürdiges Existenzminimum – in welches auch Gesundheitsleistungen einzuschließen sind – kommt der Öffnungsklausel des § 6 AsylbLG eine herausragende Bedeutung zu. 25 Wenn sich eine medizinische Versorgung nach § 4 AsylbLG als unzureichend erweist und eine Grundrechtsverletzung droht (körperliche Unversehrtheit), besteht zwingend der Anspruch auf Sonstige Leistungen, die zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind.
Abschließend kann konstatiert werden, dass zusammengeschlossen die §§ 4, 6 AsylbLG dahingehend verfassungskonform ausgelegt werden sollten, dass das Niveau der Gesundheitsleistungen weitgehend dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V entspricht. 26 Insbesondere für besonders schutzbedürftige Menschen – u. a. Minderjährige, schwangere Frauen und Menschen mit Behinderungen – ist nahezu der gesamte Umfang der medizinischen Behandlung analog zur gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen. 27 (alle Quellenangaben)
Dieser Text wurde zuerst auf dem Informationsportal Gesundheit für Geflüchtete veröffentlicht.