Hintergrund
Fluchtweg Ägäis: Humanitäre Krise im Urlaubsparadies
Die Ägäis ist seit Jahren eine zentrale Fluchtroute nach Europa. Durch die dramatischen Ereignisse im zentralen Mittelmeer – das Massensterben, die Auseinandersetzung um die Seenotoperation Mare Nostrum – ist dieser EU-Grenzabschnitt, zwischen der Türkei und Griechenland, etwas aus dem medialen Blick geraten. Dies wird sich im Jahr 2015 ändern.
Die griechischen Inseln entwickeln sich wieder zu den zentralen Einreiseorten in die EU. Unsere Projektpartnerinnen in Athen, auf den Inseln Lesbos und Chios sowie in Izmir befürchten eine dramatische humanitäre Krise in der griechisch-türkischen Ägäis. Es fehlt an allem: an trockener Kleidung, Decken, Schlafplätzen, Essen, basismedizinischer Versorgung für die ankommenden Flüchtlinge. Griechenland benötigt ad hoc tausende Aufnahmeplätze, mobile Versorgungseinheiten, um auch völlig erschöpfte Menschen an entlegenen Ankunftsorten versorgen zu können.
Im Jahr 2014 wurden 43.500 Flüchtlinge in der Ägäis registriert. 91 Prozent von ihnen kamen aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Eritrea. Bereits in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 10.445 Bootsflüchtlinge –2.865 davon aus Syrien – auf Lesbos, Samos, Chios, Leros und anderswo angekommen – das sind viermal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Allein die Insel Lesbos verzeichnete im März über 3.000 Flüchtlinge. Es braucht keine prophetischen Fähigkeiten, um für 2015 weit über 100.000 neuankommende Schutzsuchende im kleinen Griechenland zu prognostizieren.
Dieses Urlaubsparadies verzeichnete im flüchtlingspolitischen Bereich schon viele Krisen, Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen: Über 400 Männer, Frauen und Kinder starben bei Schiffsunglücken seit dem Sommer 2012, in den überfüllten Flüchtlingshaftlagern herrschen unmenschliche Bedingungen, an der griechischen See- und Landgrenze werden Flüchtlinge tausendfach gewaltsam zurückgedrängt. Das Land besitzt lediglich ein rudimentäres Asylsystem und hat de facto kein Aufnahmesystem für die dort strandenden Flüchtlinge, unter ihnen tausende unbegleitete Minderjährige.
Die inzwischen abgewählte konservative Regierung hatte in den letzten Jahren über 5.000 neue Haftplätze für Flüchtlinge und Migranten geschaffen, finanziert durch die EU. Ende 2014 existierten jedoch lediglich 1.063 offene Aufnahmeplätze für Schutzsuchende, davon sind 320 Plätze für alleinfliehende Minderjährige. Das zuständige National Centre for Social Solidarity wies Ende 2014 die Zahl von 1.664 Flüchtlingskindern aus, die dringend einen Unterkunftsplatz benötigten – der reale Bedarf dürfte viel höher liegen.
Neue Flüchtlingspolitik im Zeichen der Krise?
Der Ministerpräsident Griechenlands, Alexis Tsipras, hat sich vor seinem Amtsantritt Ende Januar 2015 unmissverständlich für eine andere, eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik ausgesprochen: Die gewaltsamen Zurückweisungen von Schutzsuchenden in der Ägäis und an der Landgrenze (push backs) sollten beendet werden. Griechenland und Europa müsse alles tun, um Menschenleben zu retten. Tsipras kritisierte das exzessive und unmenschliche Haftregime in seinem Land. Syriza hat sich wie keine andere Partei im Parlament für die Belange der Überlebenden der Flüchtlingskatastrophe von Farmakonisi eingesetzt. Und: Tsipras hat klargestellt, dass eine wirkliche europäische Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme nicht vereinbar ist mit dem unfairen Asylzuständigkeitssystem Dublin.
Auf Druck Europas hat Griechenland die Landgrenze zur Türkei im Sommer 2012 nahezu hermetisch abgeriegelt. Kamen im Jahr 2012 noch 30.433 Flüchtlinge (2011: 54.974) über die griechisch-türkische Landgrenze, so waren es im Jahr 2013 nur noch 1.122 Menschen. Die Folge: Die gefährlichen Fluchten über die Ägäis nehmen zu. 2011 waren es noch 1.030 Bootsflüchtlinge, ihre Zahl stieg 2012 sprunghaft auf 3.651, 2013 dann auf 11.447 und 2014 schließlich auf 43.500.
ERSTE MOMENTAUFNAHMEN DER POLITIK VON SYRIZA
Die neue griechische Regierung hat die im September 2012 begonnene Operation »Xenios Zeus« eingestellt, in deren Rahmen landesweit rassistische Razzien stattfanden und zehntausende Flüchtlinge festgenommen und inhaftiert wurden. »Wir sind fertig mit den Haftzentren«, erklärte der griechische Staatssekretär Yannis Panousis Mitte Februar 2015, nachdem sich ein Flüchtling im Haftlager Amygdaleza das Leben genommen hatte. Es war bereits der vierte Suizid innerhalb von wenigen Monaten. Seither werden sukzessive Flüchtlinge aus den Elendshaft – lagern entlassen – in die Obdachlosigkeit, weil offene Aufnahmeplätze fehlen. Anfang April 2015 hat es den Anschein, als gäbe es kaum noch Zurückschiebungsoperationen der Küstenwache in der Ägäis. Die Vertretungen der Küstenwache haben jedoch angesichts der steigenden Ankünfte in mehreren Stellungnahmen die Rückkehr zu einer härteren Gangart eingefordert.
»Wir sind fertig mit den Haftzentren«
Lässt Europa Flüchtlinge und Griechenland im Stich?
Ob die avisierte neue Flüchtlingspolitik tatsächlich substanziell eingelöst wird, darf weiterhin bezweifelt werden. Schließlich befindet sich Syriza in der Koalition mit den Unabhängigen Griechen, einer nationalistischen Partei mit klar flüchtlingsfeindlicher und antisemitischer Ausrichtung. Die Menschenrechtsorganisationen in Griechenland und Europa werden Ministerpräsident Tsipras und Syriza an ihren menschenrechtlichen Versprechungen messen.
Ein fundamentaler Wandel der griechischen Asyl- und Migrationspolitik ist vor allem nur unter einer Bedingung realisierbar: dass auch die Europäische Union einen Wandel ihrer Flüchtlingspolitik vollzieht. Die EU investierte im Zeitraum 2007 bis 2013 in Griechenland 208 Millionen Euro in Grenzaufrüstung und Haft. Und nur knapp 22 Millionen in die Aufnahme von Flüchtlingen. Anstatt repressive Abwehrmaßnahmen zu finanzieren, muss die EU ihre Mittel endlich in die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen investieren. Insbesondere für die große Zahl der in Griechenland gestrandeten alleinfliehenden Minderjährigen muss die EU Sondermittel bereitstellen.
Europa steht in der Pflicht, Griechenland bei der Bewältigung der humanitären Krise umfangreich zu unterstützen. Diese Solidarität muss neben der Erstversorgung in Griechenland auch die zügige legale Weiterreise der ankommenden Flüchtlinge zu ihren Verwandten oder Communities in anderen europäischen Ländern ermöglichen.
Karl Kopp