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Am 9. April 2015 stranden 157 Flüchtlinge aus Syrien, Somalia, Sudan, Eritrea und Irak auf der winzigen Insel Gavdos. Sie kamen aus Libyen und hatten ein tagelanges Martyrium hinter sich. An Bord waren auch 40 allein fliehende Kinder. Foto (c) Vassilis Mathioudakis

Die Ägäis ist seit Jahren eine zentrale Fluchtroute nach Europa. Durch die dramatischen Ereignisse im zentralen Mittelmeer – das Massensterben, die Auseinandersetzung um die Seenotoperation Mare Nostrum – ist dieser EU-Grenzabschnitt, zwischen der Türkei und Griechenland, etwas aus dem medialen Blick geraten. Dies wird sich im Jahr 2015 ändern.

Die grie­chi­schen Inseln ent­wi­ckeln sich wie­der zu den zen­tra­len Ein­rei­se­or­ten in die EU. Unse­re Pro­jekt­part­ne­rin­nen in Athen, auf den Inseln Les­bos und Chi­os sowie in Izmir befürch­ten eine dra­ma­ti­sche huma­ni­tä­re Kri­se in der grie­chisch-tür­ki­schen Ägä­is. Es fehlt an allem: an tro­cke­ner Klei­dung, Decken, Schlaf­plät­zen, Essen, basis­me­di­zi­ni­scher Ver­sor­gung für die ankom­men­den Flücht­lin­ge. Grie­chen­land benö­tigt ad hoc tau­sen­de Auf­nah­me­plät­ze, mobi­le Ver­sor­gungs­ein­hei­ten, um auch völ­lig erschöpf­te Men­schen an ent­le­ge­nen Ankunfts­or­ten ver­sor­gen zu können.

Im Jahr 2014 wur­den 43.500 Flücht­lin­ge in der Ägä­is regis­triert. 91 Pro­zent von ihnen kamen aus Syri­en, Afgha­ni­stan, Soma­lia und Eri­trea. Bereits in den ers­ten drei Mona­ten die­ses Jah­res sind 10.445 Boots­flücht­lin­ge –2.865 davon aus Syri­en – auf Les­bos, Samos, Chi­os, Leros und anders­wo ange­kom­men – das sind vier­mal so vie­le wie im Vor­jah­res­zeit­raum. Allein die Insel Les­bos ver­zeich­ne­te im März über 3.000 Flücht­lin­ge. Es braucht kei­ne pro­phe­ti­schen Fähig­kei­ten, um für 2015 weit über 100.000 neu­an­kom­men­de Schutz­su­chen­de im klei­nen Grie­chen­land zu prognostizieren.

208 Mio

Euro inves­tier­te die EU 2007 bis 2013 in Grie­chen­land in Grenz­auf­rüs­tung und Haft. 22 Mil­lio­nen in die Auf­nah­me von Flüchtlingen.

Die­ses Urlaubs­pa­ra­dies ver­zeich­ne­te im flücht­lings­po­li­ti­schen Bereich schon vie­le Kri­sen, Kata­stro­phen und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen: Über 400 Män­ner, Frau­en und Kin­der star­ben bei Schiffs­un­glü­cken seit dem Som­mer 2012, in den über­füll­ten Flücht­lings­haft­la­gern herr­schen unmensch­li­che Bedin­gun­gen, an der grie­chi­schen See- und Land­gren­ze wer­den Flücht­lin­ge tau­send­fach gewalt­sam zurück­ge­drängt. Das Land besitzt ledig­lich ein rudi­men­tä­res Asyl­sys­tem und hat de fac­to kein Auf­nah­me­sys­tem für die dort stran­den­den Flücht­lin­ge, unter ihnen tau­sen­de unbe­glei­te­te Minderjährige.

Die inzwi­schen abge­wähl­te kon­ser­va­ti­ve Regie­rung hat­te in den letz­ten Jah­ren über 5.000 neue Haft­plät­ze für Flücht­lin­ge und Migran­ten geschaf­fen, finan­ziert durch die EU. Ende 2014 exis­tier­ten jedoch ledig­lich 1.063 offe­ne Auf­nah­me­plät­ze für Schutz­su­chen­de, davon sind 320 Plät­ze für allein­flie­hen­de Min­der­jäh­ri­ge. Das zustän­di­ge Natio­nal Cent­re for Social Soli­da­ri­ty wies Ende 2014 die Zahl von 1.664 Flücht­lings­kin­dern aus, die drin­gend einen Unter­kunfts­platz benö­tig­ten – der rea­le Bedarf dürf­te viel höher liegen.

Neue Flüchtlingspolitik im Zeichen der Krise?

Der Minis­ter­prä­si­dent Grie­chen­lands, Alexis Tsi­pras, hat sich vor sei­nem Amts­an­tritt Ende Janu­ar 2015 unmiss­ver­ständ­lich für eine ande­re, eine men­schen­wür­di­ge Flücht­lings­po­li­tik aus­ge­spro­chen: Die gewalt­sa­men Zurück­wei­sun­gen von Schutz­su­chen­den in der Ägä­is und an der Land­gren­ze (push backs) soll­ten been­det wer­den. Grie­chen­land und Euro­pa müs­se alles tun, um Men­schen­le­ben zu ret­ten. Tsi­pras kri­ti­sier­te das exzes­si­ve und unmensch­li­che Haft­re­gime in sei­nem Land. Syri­za hat sich wie kei­ne ande­re Par­tei im Par­la­ment für die Belan­ge der Über­le­ben­den der Flücht­lings­ka­ta­stro­phe von Farm­a­ko­ni­si ein­ge­setzt. Und: Tsi­pras hat klar­ge­stellt, dass eine wirk­li­che euro­päi­sche Soli­da­ri­tät bei der Flücht­lings­auf­nah­me nicht ver­ein­bar ist mit dem unfai­ren Asyl­zu­stän­dig­keits­sys­tem Dublin.

Auf Druck Euro­pas hat Grie­chen­land die Land­gren­ze zur Tür­kei im Som­mer 2012 nahe­zu her­me­tisch abge­rie­gelt. Kamen im Jahr 2012 noch 30.433 Flücht­lin­ge (2011: 54.974) über die grie­chisch-tür­ki­sche Land­gren­ze, so waren es im Jahr 2013 nur noch 1.122 Men­schen. Die Fol­ge: Die gefähr­li­chen Fluch­ten über die Ägä­is neh­men zu. 2011 waren es noch 1.030 Boots­flücht­lin­ge, ihre Zahl stieg 2012 sprung­haft auf 3.651, 2013 dann auf 11.447 und 2014 schließ­lich auf 43.500.

ERSTE MOMENTAUFNAHMEN DER POLITIK VON SYRIZA

Die neue grie­chi­sche Regie­rung hat die im Sep­tem­ber 2012 begon­ne­ne Ope­ra­ti­on »Xeni­os Zeus« ein­ge­stellt, in deren Rah­men lan­des­weit ras­sis­ti­sche Raz­zi­en statt­fan­den und zehn­tau­sen­de Flücht­lin­ge fest­ge­nom­men und inhaf­tiert wur­den. »Wir sind fer­tig mit den Haft­zen­tren«, erklär­te der grie­chi­sche Staats­se­kre­tär Yan­nis Panou­sis Mit­te Febru­ar 2015, nach­dem sich ein Flücht­ling im Haft­la­ger Amyg­da­le­za das Leben genom­men hat­te. Es war bereits der vier­te Sui­zid inner­halb von weni­gen Mona­ten. Seit­her wer­den suk­zes­si­ve Flücht­lin­ge aus den Elends­haft – lagern ent­las­sen – in die Obdach­lo­sig­keit, weil offe­ne Auf­nah­me­plät­ze feh­len. Anfang April 2015 hat es den Anschein, als gäbe es kaum noch Zurück­schie­bungs­ope­ra­tio­nen der Küs­ten­wa­che in der Ägä­is. Die Ver­tre­tun­gen der Küs­ten­wa­che haben jedoch ange­sichts der stei­gen­den Ankünf­te in meh­re­ren Stel­lung­nah­men die Rück­kehr zu einer här­te­ren Gang­art eingefordert.

»Wir sind fer­tig mit den Haftzentren«

Yan­nis Panou­sis, grie­chi­sche Staatssekretär

Lässt Europa Flüchtlinge und Griechenland im Stich?

Ob die avi­sier­te neue Flücht­lings­po­li­tik tat­säch­lich sub­stan­zi­ell ein­ge­löst wird, darf wei­ter­hin bezwei­felt wer­den. Schließ­lich befin­det sich Syri­za in der Koali­ti­on mit den Unab­hän­gi­gen Grie­chen, einer natio­na­lis­ti­schen Par­tei mit klar flücht­lings­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Aus­rich­tung. Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen in Grie­chen­land und Euro­pa wer­den Minis­ter­prä­si­dent Tsi­pras und Syri­za an ihren men­schen­recht­li­chen Ver­spre­chun­gen messen.

Ein fun­da­men­ta­ler Wan­del der grie­chi­schen Asyl- und Migra­ti­ons­po­li­tik ist vor allem nur unter einer Bedin­gung rea­li­sier­bar: dass auch die Euro­päi­sche Uni­on einen Wan­del ihrer Flücht­lings­po­li­tik voll­zieht. Die EU inves­tier­te im Zeit­raum 2007 bis 2013 in Grie­chen­land 208 Mil­lio­nen Euro in Grenz­auf­rüs­tung und Haft. Und nur knapp 22 Mil­lio­nen in die Auf­nah­me von Flücht­lin­gen. Anstatt repres­si­ve Abwehr­maß­nah­men zu finan­zie­ren, muss die EU ihre Mit­tel end­lich in die men­schen­wür­di­ge Auf­nah­me von Flücht­lin­gen inves­tie­ren. Ins­be­son­de­re für die gro­ße Zahl der in Grie­chen­land gestran­de­ten allein­flie­hen­den Min­der­jäh­ri­gen muss die EU Son­der­mit­tel bereitstellen.

Euro­pa steht in der Pflicht, Grie­chen­land bei der Bewäl­ti­gung der huma­ni­tä­ren Kri­se umfang­reich zu unter­stüt­zen. Die­se Soli­da­ri­tät muss neben der Erst­ver­sor­gung in Grie­chen­land auch die zügi­ge lega­le Wei­ter­rei­se der ankom­men­den Flücht­lin­ge zu ihren Ver­wand­ten oder Com­mu­ni­ties in ande­ren euro­päi­schen Län­dern ermöglichen.

Karl Kopp


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