01.06.2016

Die Situation in der Ägäis ist ein menschliches Drama – für Flüchtlinge wie Helfende. Mitarbeitende des PRO ASYL-Projekts RSPA ringen in einem verzweifelten Kampf um das Leben und die Gesundheit der in Griechenland gestrandeten Menschen.

Der 28. Okto­ber 2015. An die­sem Tag kommt es in den Gewäs­sern nörd­lich der Insel Les­bos zum fol­gen­schwers­ten Schiffs­un­glück des Jah­res auf der grie­chi­schen Sei­te der Ägä­is. Es ster­ben 71 Men­schen – dar­un­ter vie­le Kin­der. 272 Schutz­su­chen­de wer­den geret­tet. Gemein­sam mit grie­chi­schen und tür­ki­schen Fischern, loka­len Akti­vis­ten und aus­län­di­schen Hel­fe­rin­nen und Hel­fern betei­li­gen sich die Mit­ar­bei­ten­den des PRO ASYL-Pro­jekts „Refu­gee Sup­port Pro­gram in the Aege­an“ (RSPA) an der ers­ten Not­ver­sor­gung der Über­le­ben­den. Eine staat­lich orga­ni­sier­te Unter­stüt­zung bleibt aus. RSPA-Anwäl­tin Natas­sa Strach­i­ni berichtet:

„Gegen 18 Uhr erfuh­ren wir von einem gro­ßen Schiffs­un­glück in der Nähe von Moly­vos. Man sag­te uns, das Meer sei vol­ler Leben­der und vol­ler Toter. Über­le­ben­de wür­den ins Kran­ken­haus von Myti­li­ni geschickt wer­den. Etwa andert­halb Stun­den spä­ter füll­te sich die Kli­nik mit unter­kühl­ten Klein­kin­dern und Babys, die Atem­be­schwer­den auf­zeig­ten. Es herrsch­te Panik, wie in einem Kriegs­ge­biet. Ärz­te und Kran­ken­schwes­tern hat­ten kaum Mit­tel, sie zu ver­sor­gen. Sie gaben uns Anwei­sun­gen, wie wir die blau­en klei­nen Kör­per wär­men soll­ten. Wir muss­ten ihre Klei­der wech­seln, sie in Decken wickeln, ihnen in der Mikro­wel­le gewärm­te Trop­fe ver­ab­rei­chen. Dann rie­ben wir stun­den­lang ihre Kör­per, die Wachs­fi­gu­ren gli­chen. (…) Nach zwei Stun­den ver­lo­ren wir ein klei­nes Mäd­chen. Jemand flüs­ter­te: Guck, der Arzt weint. Wir waren wie erstarrt. Drei Kin­der wur­den in die Inten­siv­sta­ti­on gebracht und muss­ten spä­ter nach Athen trans­por­tiert wer­den. Eines von ihnen starb am nächs­ten Tag dort.“

Den gan­zen Tag und die gan­ze Nacht ste­hen Rechts­an­wäl­tin­nen und Dolmetscher*innen von RSPA den Über­le­ben­den der Kata­stro­phe und ihren Ange­hö­ri­gen zur Sei­te. Sie spre­chen mit dem Kran­ken­haus­per­so­nal, Helfer*innen und Behör­den. Sie legen selbst Hand an bei der Ver­sor­gung der Men­schen, ver­su­chen Fami­li­en, die bei der Ankunft getrennt wur­den, wie­der zusam­men­zu­füh­ren, spen­den, so gut es geht, Trost und gehen dabei weit über ihre Belas­tungs­gren­zen hinaus.

Über 350 Tote in drei Monaten seit Jahresbeginn

791

Men­schen sind der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on zufol­ge im Jahr 2015 bei der Über­fahrt von der Tür­kei nach Grie­chen­land ertrun­ken oder verschwunden. 

Die Kata­stro­phe vom 28. Okto­ber war beson­ders tra­gisch, aber bei Wei­tem nicht die ein­zi­ge Tra­gö­die, die sich 2015 ereig­net hat. Inner­halb des ver­gan­ge­nen Jah­res sind knapp 860.000 Flücht­lin­ge über die Tür­kei nach Grie­chen­land  gekom­men. Allein auf der Insel Les­bos – dem Haupt­ein­satz­ort von RSPA – regis­trier­te UNHCR über 500.000 Neu­an­künf­te. Nach Daten der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) sind 791 Men­schen bei der Über­fahrt von der Tür­kei nach Grie­chen­land ertrun­ken oder ver­schwun­den. Trotz aller Bemü­hun­gen der EU, die Tür­kei dazu zu brin­gen, Schutz­su­chen­de von der Über­fahrt abzu­hal­ten, setzt sich die Ent­wick­lung auch 2016 fort: Von Janu­ar bis Mit­te März 2016 kamen laut UNHCR bereits mehr als 140.000 Schutz­su­chen­de – trotz der win­ter­li­chen Wet­ter­ver­hält­nis­se – hin­zu. Bereits mehr als 350 Tote und Ver­miss­te sind seit Beginn des Jah­res in der Ägä­is zu beklagen.

Schon im Früh­som­mer 2015 hat­ten PRO ASYL und die Mit­ar­bei­ten­den von RSPA auf­grund der hohen Zahl neu Ankom­men­der auf den grie­chi­schen Inseln vor einer huma­ni­tä­ren Kri­se gewarnt. Seit­dem haben die grie­chi­sche Regie­rung und Euro­pa kei­ne ange­mes­se­ne Ant­wort auf die kata­stro­pha­le Situa­ti­on gefun­den. Statt­des­sen sind es ein­hei­mi­sche Hel­fe­rin­nen und Hel­fer, Frei­wil­li­ge aus der gan­zen Welt sowie eine gro­ße Anzahl von Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen, wel­che die Schutz­su­chen­den so gut es geht versorgen.

Absolute Abwesenheit des Staates

Auch der Cha­rak­ter des PRO ASYL-Pro­jekts RSPA hat sich der anhal­ten­den Aus­nah­me­si­tua­ti­on ange­passt. Vor dem his­to­ri­schen Anstieg der Flücht­lings­zah­len bestand das Pro­jekt vor allem dar­in, schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen mit Rechts­hil­fe zu unter­stüt­zen und dabei beson­ders ekla­tan­te men­schen­recht­li­che Miss­stän­de auf­zu­de­cken, zu doku­men­tie­ren und zur Ankla­ge zu brin­gen. Nun unter­stüt­zen RSPA Mit­ar­bei­ten­de täg­lich vie­le beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Per­so­nen, die im Kran­ken­haus behan­delt wer­den oder in den soge­nann­ten Hot­spots auf ihre Regis­trie­rung war­ten. Die Zustän­de in die­sen Lagern sind wei­ter­hin untrag­bar, wes­we­gen RSPA-Mit­ar­bei­ten­de immer wie­der beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Men­schen von dort in das offe­ne, selbst­ver­wal­te­te Will­kom­mens­zen­trum PIKPA der loka­len Soli­da­ri­täts­grup­pe „Dorf der Gemein­schaft Aller“ bringen.

„Am meis­ten erschreckt mich die abso­lu­te Abwe­sen­heit des Staa­tes“, so RSPA Mit­ar­bei­ter Naiem Moham­m­e­di im Okto­ber 2015, der auch im PIKPA mit­wirkt. „Alle Men­schen, die wir hier­her gebracht haben, haben wir zufäl­lig getrof­fen: auf der Stra­ße, im Hafen, außer­halb der Lager von Moria und Kara Tepe. Manch­mal schi­cken die NGOs oder der UNHCR beson­ders ver­letz­li­che Fäl­le her, aber es ist alles Zufall. Vie­le Men­schen, die beson­de­rer Hil­fe bedür­fen, wer­den nicht iden­ti­fi­ziert – ihnen kann nicht gehol­fen wer­den. (…) Es macht mich jedes Mal wie­der fas­sungs­los, wenn ich Schwan­ge­re vor mir habe, Kran­ke, behin­der­te Men­schen oder Babys und sehe, wie sie ver­su­chen, sich durch die Pro­ze­du­ren auf Les­bos zu quä­len und die­se Etap­pe, die nur eine von vie­len auf ihrer Flucht ist, zu über­le­ben. Ich sehe unse­re Auf­ga­be dar­in, die­sen Men­schen zu hel­fen, und zwar ganz­heit­lich: durch das gan­ze Ver­fah­ren auf der Insel und nicht nur aus­schnitt­wei­se. Dar­in liegt unse­re Stär­ke, dass wir da wei­ter­ma­chen, wo alle ande­ren auf­hö­ren. Man muss den Men­schen auch nach ihrer Regis­trie­rung hel­fen oder nach dem Kran­ken­haus­be­such… und dann erlebt man auch manch­mal ein Hap­py End.“

Humanitäre Katastrophe mit Ansage

Trotz aller Abschre­ckungs- und Abschot­tungs­ver­su­che der Euro­päi­schen Uni­on ist nicht abzu­se­hen, dass in den nächs­ten Mona­ten weni­ger Schutz­su­chen­de die Flucht nach Grie­chen­land wagen wer­den. Bis zum 15. März 2016 sind bereits über 83.000 Flücht­lin­ge auf Les­bos gelan­det, über zwei Drit­tel davon sind Frau­en und Kin­der. Durch die Schlie­ßung der maze­do­ni­schen und bul­ga­ri­schen Gren­zen zu Grie­chen­land sit­zen die­se Men­schen fest. Die Flücht­lin­ge und die grie­chi­sche Bevöl­ke­rung wer­den von der Euro­päi­schen Uni­on im Stich gelas­sen. Dass dar­aus unwei­ger­lich wei­te­res Leid und Elend ent­ste­hen wer­den, ist für alle, die die Situa­ti­on sehen, unzwei­fel­haft. Die huma­ni­tä­re Kata­stro­phe in Grie­chen­land ist kei­ne Natur­ge­walt, son­dern das Resul­tat eines zyni­schen Kal­küls der EU Staa­ten. Um Flücht­lin­ge von Euro­pa fern­zu­hal­ten, scheint jedes Mit­tel recht zu sein, Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wer­den bil­li­gend in Kauf genommen.

Alex Sta­tho­pou­los

(Die­ser Bei­trag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flücht­lings 2016.)


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