Hintergrund
Absolute Abwesenheit des Staates – Die Arbeit der Helfer*innen in Griechenland
Die Situation in der Ägäis ist ein menschliches Drama – für Flüchtlinge wie Helfende. Mitarbeitende des PRO ASYL-Projekts RSPA ringen in einem verzweifelten Kampf um das Leben und die Gesundheit der in Griechenland gestrandeten Menschen.
Der 28. Oktober 2015. An diesem Tag kommt es in den Gewässern nördlich der Insel Lesbos zum folgenschwersten Schiffsunglück des Jahres auf der griechischen Seite der Ägäis. Es sterben 71 Menschen – darunter viele Kinder. 272 Schutzsuchende werden gerettet. Gemeinsam mit griechischen und türkischen Fischern, lokalen Aktivisten und ausländischen Helferinnen und Helfern beteiligen sich die Mitarbeitenden des PRO ASYL-Projekts „Refugee Support Program in the Aegean“ (RSPA) an der ersten Notversorgung der Überlebenden. Eine staatlich organisierte Unterstützung bleibt aus. RSPA-Anwältin Natassa Strachini berichtet:
„Gegen 18 Uhr erfuhren wir von einem großen Schiffsunglück in der Nähe von Molyvos. Man sagte uns, das Meer sei voller Lebender und voller Toter. Überlebende würden ins Krankenhaus von Mytilini geschickt werden. Etwa anderthalb Stunden später füllte sich die Klinik mit unterkühlten Kleinkindern und Babys, die Atembeschwerden aufzeigten. Es herrschte Panik, wie in einem Kriegsgebiet. Ärzte und Krankenschwestern hatten kaum Mittel, sie zu versorgen. Sie gaben uns Anweisungen, wie wir die blauen kleinen Körper wärmen sollten. Wir mussten ihre Kleider wechseln, sie in Decken wickeln, ihnen in der Mikrowelle gewärmte Tropfe verabreichen. Dann rieben wir stundenlang ihre Körper, die Wachsfiguren glichen. (…) Nach zwei Stunden verloren wir ein kleines Mädchen. Jemand flüsterte: Guck, der Arzt weint. Wir waren wie erstarrt. Drei Kinder wurden in die Intensivstation gebracht und mussten später nach Athen transportiert werden. Eines von ihnen starb am nächsten Tag dort.“
Den ganzen Tag und die ganze Nacht stehen Rechtsanwältinnen und Dolmetscher*innen von RSPA den Überlebenden der Katastrophe und ihren Angehörigen zur Seite. Sie sprechen mit dem Krankenhauspersonal, Helfer*innen und Behörden. Sie legen selbst Hand an bei der Versorgung der Menschen, versuchen Familien, die bei der Ankunft getrennt wurden, wieder zusammenzuführen, spenden, so gut es geht, Trost und gehen dabei weit über ihre Belastungsgrenzen hinaus.
Über 350 Tote in drei Monaten seit Jahresbeginn
Die Katastrophe vom 28. Oktober war besonders tragisch, aber bei Weitem nicht die einzige Tragödie, die sich 2015 ereignet hat. Innerhalb des vergangenen Jahres sind knapp 860.000 Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland gekommen. Allein auf der Insel Lesbos – dem Haupteinsatzort von RSPA – registrierte UNHCR über 500.000 Neuankünfte. Nach Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind 791 Menschen bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken oder verschwunden. Trotz aller Bemühungen der EU, die Türkei dazu zu bringen, Schutzsuchende von der Überfahrt abzuhalten, setzt sich die Entwicklung auch 2016 fort: Von Januar bis Mitte März 2016 kamen laut UNHCR bereits mehr als 140.000 Schutzsuchende – trotz der winterlichen Wetterverhältnisse – hinzu. Bereits mehr als 350 Tote und Vermisste sind seit Beginn des Jahres in der Ägäis zu beklagen.
Schon im Frühsommer 2015 hatten PRO ASYL und die Mitarbeitenden von RSPA aufgrund der hohen Zahl neu Ankommender auf den griechischen Inseln vor einer humanitären Krise gewarnt. Seitdem haben die griechische Regierung und Europa keine angemessene Antwort auf die katastrophale Situation gefunden. Stattdessen sind es einheimische Helferinnen und Helfer, Freiwillige aus der ganzen Welt sowie eine große Anzahl von Hilfsorganisationen, welche die Schutzsuchenden so gut es geht versorgen.
Absolute Abwesenheit des Staates
Auch der Charakter des PRO ASYL-Projekts RSPA hat sich der anhaltenden Ausnahmesituation angepasst. Vor dem historischen Anstieg der Flüchtlingszahlen bestand das Projekt vor allem darin, schutzbedürftige Menschen mit Rechtshilfe zu unterstützen und dabei besonders eklatante menschenrechtliche Missstände aufzudecken, zu dokumentieren und zur Anklage zu bringen. Nun unterstützen RSPA Mitarbeitende täglich viele besonders schutzbedürftige Personen, die im Krankenhaus behandelt werden oder in den sogenannten Hotspots auf ihre Registrierung warten. Die Zustände in diesen Lagern sind weiterhin untragbar, weswegen RSPA-Mitarbeitende immer wieder besonders schutzbedürftige Menschen von dort in das offene, selbstverwaltete Willkommenszentrum PIKPA der lokalen Solidaritätsgruppe „Dorf der Gemeinschaft Aller“ bringen.
„Am meisten erschreckt mich die absolute Abwesenheit des Staates“, so RSPA Mitarbeiter Naiem Mohammedi im Oktober 2015, der auch im PIKPA mitwirkt. „Alle Menschen, die wir hierher gebracht haben, haben wir zufällig getroffen: auf der Straße, im Hafen, außerhalb der Lager von Moria und Kara Tepe. Manchmal schicken die NGOs oder der UNHCR besonders verletzliche Fälle her, aber es ist alles Zufall. Viele Menschen, die besonderer Hilfe bedürfen, werden nicht identifiziert – ihnen kann nicht geholfen werden. (…) Es macht mich jedes Mal wieder fassungslos, wenn ich Schwangere vor mir habe, Kranke, behinderte Menschen oder Babys und sehe, wie sie versuchen, sich durch die Prozeduren auf Lesbos zu quälen und diese Etappe, die nur eine von vielen auf ihrer Flucht ist, zu überleben. Ich sehe unsere Aufgabe darin, diesen Menschen zu helfen, und zwar ganzheitlich: durch das ganze Verfahren auf der Insel und nicht nur ausschnittweise. Darin liegt unsere Stärke, dass wir da weitermachen, wo alle anderen aufhören. Man muss den Menschen auch nach ihrer Registrierung helfen oder nach dem Krankenhausbesuch… und dann erlebt man auch manchmal ein Happy End.“
Humanitäre Katastrophe mit Ansage
Trotz aller Abschreckungs- und Abschottungsversuche der Europäischen Union ist nicht abzusehen, dass in den nächsten Monaten weniger Schutzsuchende die Flucht nach Griechenland wagen werden. Bis zum 15. März 2016 sind bereits über 83.000 Flüchtlinge auf Lesbos gelandet, über zwei Drittel davon sind Frauen und Kinder. Durch die Schließung der mazedonischen und bulgarischen Grenzen zu Griechenland sitzen diese Menschen fest. Die Flüchtlinge und die griechische Bevölkerung werden von der Europäischen Union im Stich gelassen. Dass daraus unweigerlich weiteres Leid und Elend entstehen werden, ist für alle, die die Situation sehen, unzweifelhaft. Die humanitäre Katastrophe in Griechenland ist keine Naturgewalt, sondern das Resultat eines zynischen Kalküls der EU Staaten. Um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, scheint jedes Mittel recht zu sein, Menschenrechtsverletzungen werden billigend in Kauf genommen.
Alex Stathopoulos
(Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2016.)