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"Unterkunft" für Geflüchtete auf Kreta. Foto: picture alliance / REUTERS | Nicolas Economou

Seit mehr als 18 Monaten kommen mehr Schutzsuchende auf den südlichsten Inseln Griechenlands, Kreta und Gavdos, an. Bislang ignorierte die griechische Regierung die dramatische Unterbringungssituation auf den Inseln. Nun hat sie rechtswidrig den Zugang zum Asylverfahren gestoppt und droht abzuschieben, ohne zuvor den Asylantrag zu prüfen.

Die ers­ten Schutz­su­chen­den, die nach der lebens­ge­fähr­li­chen Flucht aus Liby­en über das Mit­tel­meer vor den süd­lichs­ten grie­chi­schen Inseln auf­ge­grif­fen wur­den, sind laut Medi­en­be­rich­ten bereits in ein Abschie­be­haft­la­ger aufs Fest­land über­stellt wor­den. Die mehr als 200 Men­schen erhal­ten kei­nen Zugang zum Asyl­ver­fah­ren, statt­des­sen sol­len sie bis zu ihrer Abschie­bung ein­ge­sperrt blei­ben. Die genaue Zusam­men­set­zung der Grup­pe ist bis­lang unklar. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass in der Grup­pe auch vul­nerable Per­so­nen wie unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge sind. Der Zugang zu recht­li­cher Ver­tre­tung ist eingeschränkt.

Komplette Entrechtung

Grund­la­ge der kom­plet­ten Ent­rech­tung ist die rechts­wid­ri­ge Sus­pen­die­rung des Zugangs zum Asyl­ver­fah­rens (Arti­kel 79 des Geset­zes 5218/2025), der das grie­chi­sche Par­la­ment am 11. Juli 2025 zuge­stimmt hat­te. Unab­hän­gig vom Her­kunfts­land ist für alle Schutz­su­chen­den, die Grie­chen­land von der nord­afri­ka­ni­schen Küs­te aus errei­chen, der Zugang zum Asyl­ver­fah­ren aus­ge­setzt. Sie sol­len ohne Regis­trie­rung ihres Antrags abge­scho­ben wer­den. Die Rege­lung gilt zunächst für drei Monate.

Die Ent­schei­dung ist dra­ma­tisch und ent­behrt jeder recht­li­chen Grund­la­ge. Mit der dro­hen­den Abschie­bung ohne Prü­fung des Schutz­ge­suchs ver­stößt die grie­chi­sche Regie­rung gegen die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on sowie das uni­ver­sell gel­ten­de Fol­ter­ver­bot, das in zahl­rei­chen inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen wie etwa der EU-Grund­rech­te­char­ta ver­an­kert ist. Im schlimms­ten Fall schiebt Grie­chen­land also schutz­su­chen­de Men­schen in den Staat ab, in denen ihnen Fol­ter und unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Gewalt droht.

Griechische Regierung spricht von »Notlage«

Die grie­chi­sche Regie­rung ver­weist in der Begrün­dung des Geset­zes auf Arti­kel 15 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on. Dar­in sind Abwei­chun­gen von der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on in Tei­len vor­ge­se­hen, wenn »das Leben der Nati­on durch Krieg oder einen ande­ren öffent­li­chen Not­stand bedroht ist«. Rechtswissenschaftlicher*innen bezeich­nen die­sen Ver­such der Legi­ti­mie­rung als »absurd«.

Auch die Uni­on der grie­chi­schen Verwaltungsrichter*innen sieht kei­ne natio­na­le Not­la­ge und unter­streicht, dass in kei­nem Fall von dem abso­lut gel­ten­den Fol­ter­ver­bot abge­wi­chen wer­den darf. Pro­test kommt auch von der grie­chi­schen Ombuds­per­son, dem grie­chi­schen Men­schen­rechts­kom­mis­sar sowie dem Anwält*innenverband. Sie alle for­der­ten die grie­chi­sche Regie­rung auf, das Gesetz zurückzunehmen.

Internationaler Protest, aber Stille aus Brüssel 

»Ernst­haft besorgt« zeig­te sich auch der UNHCR. In einer öffent­li­chen Stel­lung­nah­me ver­weist das Hoch­kom­mis­sa­ri­at für Flücht­lin­ge der Ver­ein­ten Natio­nen auf die Uni­ver­sa­li­tät des Men­schen­rechts auf Asyl. »Selbst in Zei­ten hohen Migra­ti­ons­drucks müs­sen Staa­ten sicher­stel­len, dass Asyl­su­chen­de Zugang zu Asyl­ver­fah­ren haben. Die Rück­füh­rung von Men­schen an einen Ort, an dem ihr Leben oder ihre Frei­heit bedroht sind, wür­de gegen den Grund­satz der Nicht­zu­rück­wei­sung ver­sto­ßen. Staa­ten dür­fen von die­sem wich­ti­gen Grund­satz des Völ­ker­rechts nicht abwei­chen.« Eben­so appel­lier­te Micha­el O’Flaherty, Men­schen­rechts­kom­mis­sar des Euro­pa­rats, vor der Abstim­mung an das grie­chi­sche Par­la­ment, der Geset­zes­in­itia­ti­ve nicht zuzu­stim­men und wies dar­auf hin, dass damit meh­re­re bin­den­de inter­na­tio­na­le Ver­trä­ge gebro­chen würden.

Bereits im März 2020 ver­such­te Grie­chen­land in einem ver­gleich­ba­ren rechts­wid­ri­gen Schritt das Asyl­recht an der Gren­ze zur Tür­kei aus­zu­set­zen. Hier gibt es wei­te­re Informationen

Bereits im März 2020 ver­such­te Grie­chen­land in einem ver­gleich­ba­ren rechts­wid­ri­gen Schritt das Asyl­recht an der Gren­ze zur Tür­kei auszusetzen.

Die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on bleibt auch fast drei Wochen nach der Ver­ab­schie­dung des Geset­zes erstaun­lich still. Ein Spre­cher für Inne­res und Rechts­staat­lich­keit der Kom­mis­si­on sprach von »außer­ge­wöhn­li­chen« Maß­nah­men und ver­wies auf von Grie­chen­land ange­führ­te Sicher­heits­be­den­ken vor dem Hin­ter­grund stei­gen­der Ankunfts­zah­len. Zusätz­lich beton­te er den engen Aus­tausch zwi­schen Brüs­sel und Athen.

10.219

auf Kre­ta in 2025

Anstieg der Ankünfte auf Kreta und Gavdos: kontinuierlich und vorhersehbar 

Die Regie­rung unter der Nea Dimo­kra­tia gibt an, dar­auf zu reagie­ren, dass zuneh­mend Schutz­su­chen­de auf Boo­ten von der nord­afri­ka­ni­schen Küs­te aus auf Kre­ta und der benach­bar­ten Insel Gav­dos ankom­men. Das sehr klei­ne Gav­dos ist die süd­lichs­te Insel Euro­pas. Sie ist etwa 260 Kilo­me­ter von der afri­ka­ni­schen Nord­küs­te entfernt.

Tat­säch­lich ist deut­lich zu erken­nen, dass sich zwi­schen der liby­schen Küs­te und den genann­ten Inseln längst eine gefähr­li­che Flucht­rou­te eta­bliert hat. Die PRO ASYL- Schwes­ter­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) weist bereits seit Dezem­ber 2023 auf die stei­gen­den Ankunfts­zah­len auf Kre­ta und Gav­dos hin. Im Jahr 2024 kamen rund sechs­mal so vie­le Men­schen an wie im Vor­jahr 2023 – die Zahl der Schutz­su­chen­den stieg von 815 (2023) auf rund 5.100 (2024).

2025 setzt sich die­se Ent­wick­lung fort. UNHCR doku­men­tiert 10.219 Schutz­su­chen­de, die auf Kre­ta bis zum 20. Juli 2025 ange­kom­men waren. Dar­un­ter sind beson­ders vie­le Schutz­su­chen­de, die aus Ägyp­ten und dem Bür­ger­kriegs­land Sudan flie­hen. Beson­ders letz­te­re haben auch in Grie­chen­land eine sehr hohe Aner­ken­nungs­quo­te und sind nach der Geset­zes­än­de­rung eben­so vom Zugang zu Asyl abgeschnitten.

Häu­fig sind es zu vie­le Men­schen, die sich auf die see­un­taug­li­chen klei­nen Fischer­boo­te oder aus­ran­gier­te Kut­ter zwän­gen, um die lebens­ge­fähr­li­che Flucht über das zen­tra­le Mit­tel­meer anzutreten.

Die meis­ten Boo­te, die auf Kre­ta ankom­men, legen im liby­schen Tobruk ab. Sie sind min­des­tens zwei Tage auf offe­ner See unter­wegs, ohne aus­rei­chen­de Ver­pfle­gung, Trink­was­ser oder lebens­ret­ten­de Aus­rüs­tung. Dabei kommt es regel­mä­ßig zu töd­li­chen Unglü­cken, wie etwa am Mit­te Dezem­ber 2004, als bei einem Schiffs­bruch süd­west­lich von Gav­dos mehr als die Hälf­te der Insas­sen eines Flücht­lings­boo­tes ihr Leben ver­lor. Acht Lei­chen konn­ten unmit­tel­bar gebor­gen wer­den, wei­te­re wur­den in den fol­gen­den Tagen angeschwemmt.

In Reak­ti­on auf die stei­gen­den Ankünf­te über die Flucht­rou­te ent­sand­te Grie­chen­land zwei Fre­gat­ten und ein Ver­sor­gungs­schiff. Die drei Schif­fe sol­len vor den liby­schen Hoheits­ge­wäs­sern patrouil­lie­ren und eine »abschre­cken­de Wir­kung« haben. Es ist zu befürch­ten, dass die Prä­senz der grie­chi­schen Mari­ne die Flucht über das Mit­tel­meer zusätz­lich gefähr­det. Grie­chen­land wur­de auf­grund aus­blei­ben­der Ret­tungs­maß­nah­men und Ope­ra­tio­nen auf See, die zum Ken­tern von Flucht­boo­ten führ­ten, mehr­fach vom Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te verurteilt.

21.599

Seen­an­künf­te gab es in Grie­chen­land ins­ge­samt 2024 – ein gewöhn­li­ches Niveau

2025 ver­zeich­ne­te Grie­chen­land bis­lang (bis 20. Juli 2025) laut UNHCR 21.599 See­an­künf­te, das liegt auf einem gewöhn­li­chen Niveau. Zum Ver­gleich: Im Gesamt­jahr 2024 erreich­ten 54.417 Schutz­su­chen­de Grie­chen­land über den See­weg, 2023 doku­men­tier­te UNHCR 41.561 Ankünf­te. Doch knapp die Hälf­te der Ankünf­te 2025 ent­fällt auf den Raum Kre­ta. Die Ankünf­te auf den ägäi­schen Inseln etwa auf Les­vos (2.044 Ankünf­te), Samos (2.537) und Chi­os (1.668) blie­ben hin­ge­gen sta­bil. Das Flucht­ge­sche­hen in Grie­chen­land hat sich somit von der öst­li­chen See­gren­ze in der Ägä­is auf die süd­li­che See­gren­ze verlagert.

Keine adäquate Erstversorgung

Schutz­su­chen­de, die Kre­ta und Gav­dos erreich­ten, wur­den bis­lang inner­halb weni­ger Tage in Lager aufs Fest­land, nach Mala­ka­sa, Divata und Fyla­kio, über­stellt. Jedoch ver­zö­ger­ten sich die­se Trans­fers zuneh­mend. Je mehr Men­schen anka­men, des­to län­ger muss­ten sie auf den bei­den Inseln bleiben.

Doch anders als auf den ägäi­schen Inseln, die seit Jah­ren Expe­ri­men­tier­feld immer grö­ße­rer Asyl­la­ger sind, gibt es auf den bei­den süd­li­chen Inseln kei­ne Ein­rich­tun­gen für die Erst­ver­sor­gung. Zustän­dig dafür ist die die Regie­rung in Athen. Bei der Erst­ver­sor­gung der von der Flucht über das Meer gezeich­ne­ten Men­schen geht es um eine wür­di­ge Unter­brin­gung, medi­zi­ni­sche Erst­ver­sor­gung, Klei­dung, Hygie­ne­ar­ti­kel und Lebens­mit­tel. Hin­zu kom­men eine Erst­re­gis­trie­rung und eine ers­te Iden­ti­fi­zie­rung von beson­de­rem Bedarf, zum Bei­spiel wegen Krank­heit oder Schwangerschaft.

Nicht nur zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen wie RSA, auch kom­mu­na­le Kör­per­schaf­ten und Repräsentant*innen haben früh­zei­tig und wie­der­holt auf die Ver­sor­gungs- und Finan­zie­rungs­pro­ble­me hin­ge­wie­sen. Der Gou­ver­neur von Kre­ta, Stavros Arna­ou­ta­kis, beschrieb, dass die Regi­on Kre­ta das Minis­te­ri­um für Migra­ti­on und Asyl seit drei Jah­ren drängt, zwei tem­po­rä­re­re Unter­brin­gungs­struk­tu­ren zu errich­ten. Die grie­chi­sche Regie­rung han­del­te jedoch lan­ge nicht und sen­de­te unter­schied­li­che Signa­le. Erst Mit­te Juli 2025 stell­te die Regie­rung drei tem­po­rä­re Auf­nah­me­struk­tu­ren in Aus­sicht. Gegen den Wil­len der Kom­mu­ne soll außer­dem ein geschlos­se­nes Lager errich­tet werden.

Zelte, Matratzenlager und fehlende sanitäre Infrastruktur

Bis­lang wur­den die Schutz­su­chen­den, die Kre­ta und Gav­dos erreich­ten, in unzu­rei­chen­den Pro­vi­so­ri­en auf Kre­ta unter­ge­bracht, weder die per­so­nel­len Kapa­zi­tä­ten vor Ort, noch die Infra­struk­tur in den Pro­vi­so­ri­en ist jedoch zur Unter­brin­gung aus­ge­legt. Es fehlt an allem. Dazu funk­tio­nier­ten loka­le Behör­den zum Bei­spiel ein Mes­se­ge­län­de für die tem­po­rä­re Unter­brin­gung um. Hier lie­gen Decken dicht neben­ein­an­der auf dem Boden, sie die­nen als pro­vi­so­ri­sche Schlaf­stät­te. Erst seit kur­zem gibt es Duschen. An ande­rer Stel­le errich­te­te die Kom­mu­ne für etwa 500 Men­schen ein Zelt­la­ger auf frei­er Flä­che. Im Nor­den Kre­tas fin­den schutz­su­chen­de Per­so­nen in Struk­tu­ren am Hafen eine pro­vi­so­ri­sche Unter­brin­gung. Die geteil­ten Zim­mer sind etwa 15 Qua­drat­me­ter groß, ohne Fens­ter, natür­li­ches Licht und Belüf­tungs­sys­tem wird es in der Som­mer­hit­ze unerträglich.

Die grie­chi­sche Regie­rung hat­te genü­gend Zeit und Erfah­rung, um ange­mes­se­ne Auf­nah­me­struk­tu­ren auf den süd­lichs­ten Inseln zu erreich­ten. Hin­zu­kommt, dass die gesamt­grie­chi­schen Ankunfts­zah­len auf einem erwart­ba­ren Niveau lie­gen. Die anhal­ten­de Not­fall­rhe­to­rik der grie­chi­schen Regie­rung und der ohne­hin halt­lo­se offe­nen Rechts­bruch las­sen sich so nicht erklä­ren. Viel­mehr muss sich Grie­chen­land die Fra­ge gefal­len las­sen, ob es über­haupt zu irgend­ei­nem Zeit­punkt ver­sucht hat, adäquat und rechts­kon­form zu reagieren.

Über 100 Organisationen fordern: Griechenland muss Asylrecht bewahren!

Die grie­chi­sche Regie­rung sägt mit der Aus­set­zung des Asyl­rechts wei­ter an dem bereits ange­bro­che­nen Ast der uni­ver­sell gel­ten­den Men­schen­rech­te. Auch wenn vie­le prak­ti­sche Fra­gen noch nicht geklärt sind, ist die Regie­rung unter Minis­ter­prä­si­dent Mit­so­ta­kis ange­sichts der bereits inhaf­tier­ten Grup­pe Schutz­su­chen­der offen­sicht­lich Wil­lens, die rote Linie zu über­schrei­ten, und Schutz­su­chen­de ohne Ver­fah­ren ins Her­kunfts­land abzuschieben.

PRO ASYL, Refu­gee Sup­port Aege­an und über 100 zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen aus Grie­chen­land und der EU for­dern Grie­chen­land auf, das Gesetz umge­hend zurück­zu­neh­men und den unein­ge­schränk­ten Zugang zum Asyl­recht wiederherzustellen.

PRO ASYL, Refu­gee Sup­port Aege­an und über 100 zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen aus Grie­chen­land und der EU for­dern Grie­chen­land auf, das Gesetz umge­hend zurück­zu­neh­men und den unein­ge­schränk­ten Zugang zum Asyl­recht wie­der­her­zu­stel­len. Auch die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on muss end­lich ihr Schwei­gen bre­chen, und alle ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den Maß­nah­men nut­zen, um den ekla­tan­ten Rechts­bruch durch Grie­chen­land zu sanktionieren.

Zudem müs­sen die bereits inhaf­tier­ten Schutz­su­chen­den sofort aus der Haft ent­las­sen wer­den und Zugang zum Asyl­ver­fah­ren erhalten.