24.07.2025
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Proteste gegen die Aussetzung des Familiennachzugs am 27.05.2025, Foto: PRO ASYL

Am 24. Juli ist das Familienzerstörungsgesetz in Kraft getreten: Für zwei Jahre ist der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ausgesetzt. Tausende Familien, die seit Jahren auf ihre engen Angehörigen warten, sind verzweifelt. Nur über eine restriktive Einzelfallprüfung sollen in besonderen Härtefällen noch Ausnahmen gemacht werden.

Die Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs trifft alle engen Ange­hö­ri­gen von sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten – egal, ob sie seit kur­zem oder schon seit zwei Jah­ren auf der War­te­lis­te für einen Ter­min zur Antrag­stel­lung ste­hen, ob ihr Antrag bereits in Bear­bei­tung ist und nur noch die Zustim­mung der Aus­län­der­be­hör­de fehlt oder ob sie im Kla­ge­ver­fah­ren ste­cken und seit vie­len Jah­ren getrennt sind. Solan­ge sie vor Inkraft­tre­ten kei­ne Ein­la­dung zur Visie­rung bezie­hungs­wei­se Visum­ab­ho­lung erhal­ten haben oder das Gericht ent­schie­den hat, wird das Visums­ver­fah­ren für sie alle aus­ge­setzt, so die Geset­zes­be­grün­dung.

PRO ASYL und ande­re Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Wohl­fahrts­ver­bän­de und Kir­chen kri­ti­sier­ten den Gesetz­ent­wurf. Es gab Pro­tes­te und Auf­ru­fe gegen die­ses Gesetz, das Fami­li­en zer­stört. Doch all das konn­te nicht ver­hin­dern, dass das Gesetz am 27. Juni 2025 in unver­än­der­tem Wort­laut vom Bun­des­tag beschlos­sen wur­de. Seit dem 24. Juli ist das »Gesetz zur Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten« in Kraft: Der Fami­li­en­nach­zug zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten wird für zwei Jah­re aus­ge­setzt, also bis zum 23. Juli 2027. Nur in Här­te­fäl­len kön­nen noch Visa erteilt werden.

Doch Men­schen, denen sub­si­diä­rer Schutz zuer­kannt wur­de, droht laut Defi­ni­ti­on im Her­kunfts­land »ernst­haf­ter Scha­den« durch Bür­ger­krie­ge oder die Gefahr von Todes­stra­fe oder Fol­ter. Der Unter­schied zur Flücht­lings­ei­gen­schaft besteht oft­mals nur dar­in, dass ein Ver­fol­gungs­grund wie die Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten Grup­pe oder eine poli­ti­sche Über­zeu­gung fehlt; die dro­hen­de Gefahr aber ist die glei­che. Da Krie­ge und auto­ri­tä­re Regime meist über vie­le Jah­re bestehen, blei­ben die meis­ten sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten dau­er­haft in die­sem Sta­tus. Ein siche­res Leben mit der Fami­lie ist für sie meist nur in Deutsch­land möglich.

Das Recht auf Familie

Aus Sicht von PRO ASYL ver­letzt das Gesetz das Recht auf Fami­lie. Das Men­schen­recht, als Fami­lie zusam­men­zu­le­ben, ist auf natio­na­ler und inter­na­tio­na­ler durch das Grund­ge­setz (Art. 6), die EU-Grund­rech­te­char­ta (Art. 7) und die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on EMRK (Art. 8) geschützt.

Bei der Aus­le­gung die­ser Rech­te, etwa in der Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rech­te (EGMR) und des Ver­fas­sungs­ge­richts, for­dern die Gerich­te einen »ange­mes­se­nen Aus­gleich zwi­schen dem staat­li­chen Inter­es­se an Ein­wan­de­rungs­kon­trol­le und dem pri­va­ten Inter­es­se an Her­stel­lung der Fami­li­en­ein­heit unter Berück­sich­ti­gung der Umstän­de des Ein­zel­falls« (EU‑6–3000-012/25).

Ange­sichts der sin­ken­den Zah­len von Asyl­an­trä­gen und der bis­her gel­ten­den Begren­zung des Fami­li­en­nach­zugs auf 1.000 Per­so­nen pro Monat steht  grund­sätz­lich in Fra­ge, ob die Aus­set­zung ver­hält­nis­mä­ßig ist. Je län­ger die Tren­nung andau­ert, auch, weil die Her­stel­lung der Fami­li­en­ein­heit im Her­kunfts­land unmög­lich ist, des­to gewich­ti­ger aber wird das pri­va­te Inter­es­se an einem Familienleben.

Jahrelange Wartezeiten schon ohne Aussetzung 

Die War­te­zei­ten, mit denen Fami­li­en im Nach­zugs­ver­fah­ren aktu­ell kon­fron­tiert sind, sind bereits ohne die Aus­set­zung enorm. Erst nach dem Abschluss des Asyl­ver­fah­rens kann ein Ter­min bei der deut­schen Aus­lands­ver­tre­tung gebucht wer­den. Von der Buchung auf der Ter­min­war­te­lis­te bis zum Ter­min zur Antrag­stel­lung ver­ge­hen der Erfah­rung nach meist ein­ein­halb bis zwei Jah­re. Bei der Aus­lands­ver­tre­tung in Bei­rut etwa betrug die War­te­zeit im August 2024 durch­schnitt­lich 22 Mona­te (VG Ber­lin, Beschluss vom 22.08.24, 32 L 206/24, Rn. 20).

Sowohl bei der Antrag­stel­lung als auch bei der Ein­ho­lung der Zustim­mung von den Aus­län­der­be­hör­den kann es zu wei­te­ren mona­te­lan­gen Ver­zö­ge­run­gen kom­men. All die­se Ver­zö­ge­run­gen lie­gen in der Ver­ant­wor­tung der Behör­den, nicht in der Hand der Fami­li­en. Sie haben der­zeit selbst in außer­ge­wöhn­li­chen Fäl­len, zum Bei­spiel bei schwe­ren Erkran­kun­gen, nur in den sel­tens­ten Fäl­len eine Chan­ce auf eine beschleu­nig­te Ter­min­ver­ga­be und Bearbeitung.

»Jeden Mor­gen wache ich mit der Hoff­nung auf, dass es der Tag sein wird, an dem ich mit mei­ner Fami­lie zusam­men­le­be. Aber das War­ten ist lang, und die Ent­täu­schung ist mein stän­di­ger Beglei­ter gewor­den. Hoff­nungs­los. Die Sicher­heit, die Deutsch­land mir gege­ben hat, ist ohne mei­ne Fami­lie blass, stumpf und see­len­los. Die Hälf­te mei­nes Her­zens bleibt bei mei­ner Fami­lie auf der ande­ren Sei­te, in einem Land, in das ich nicht zurück­keh­ren kann und aus dem mei­ne Lie­ben nicht ent­kom­men kön­nen«, schreibt Mor­ta­da aus Syri­en. Sei­ne Frau und die drei Kin­der ste­hen bereits seit über zwei Jah­ren auf der War­te­lis­te, konn­ten aber noch kei­nen Antrag stel­len. Sein jüngs­tes Kind hat der Vater noch nie gesehen.

Sami­ra* aus Syri­en lebt mit zwei Kin­dern in Ber­lin. Der Vater konn­te wegen der Ver­fol­gung durch das Assad-Regime nicht über die Gren­ze aus­rei­sen. Seit 2023 war­ten der Vater und die wei­te­ren Kin­der auf einen Ter­min zur Visums­an­trag­stel­lung. Sie leben unter pre­kä­ren Umstän­den in Syri­en. Die lan­ge War­te­zeit und feh­len­de medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ende­ten töd­lich: Im Febru­ar 2025 starb der 14-jäh­ri­ge Sohn an einer Lun­gen­ent­zün­dung mit Kreislaufschock.

Hamed aus Jemen erhielt 2022 sub­si­diä­ren Schutz. Sei­ne Ehe­frau konn­te im Juli 2023 bei der Bot­schaft einen Visums­an­trag stel­len, aber bis heu­te fehlt die Zustim­mung der Aus­län­der­be­hör­de. Die Tren­nungs­zeit zer­mürbt Hamed: »Ich bin so müde, so erschöpft und ver­zwei­felt. Wie kann ich selbst in Sicher­heit sein, wäh­rend mei­ne Frau in Kriegs­ge­fahr lebt?«

Auch im Fall von Zarif* aus Syri­en hat die Ver­zö­ge­rung der Aus­län­der­be­hör­de dazu geführt, dass sei­ner Fami­lie vor dem neu­en Gesetz kein Visum mehr erteilt wur­de. Obwohl Zarif sich seit neun Mona­ten um die Ver­län­ge­rung sei­ner Auf­ent­halts­er­laub­nis bemüht und die Vor­aus­set­zun­gen dafür zwei­fels­frei wei­ter­hin erfüllt, hat die Aus­län­der­be­hör­de das Doku­ment nicht mehr ver­län­gert – und mit der Begrün­dung, er sei nicht im Besitz einer gül­ti­gen Auf­ent­halts­er­laub­nis, den bean­trag­ten Visa nicht zugestimmt.

Die Rechtsprechung setzt Trennungsfristen

Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) hat in der Ent­schei­dung M.A. gegen Däne­mark (Urteil vom 09.07.2021, 6697/18,) eine pau­scha­le War­te­zeit von drei Jah­ren bis zur indi­vi­du­el­len Prü­fung eines Antrags auf Fami­li­en­nach­zug als Ver­let­zung von Arti­kel 8 EMRK gewer­tet, wäh­rend zwei Jah­re noch als akzep­ta­bel bewer­tet wur­den (Rn.162) – aller­dings ab Ertei­lung des Auf­ent­halts­ti­tels des Stamm­be­rech­tig­ten. Die­se Frist wird bei den meis­ten der Per­so­nen, die auf den War­te­lis­ten der deut­schen Bot­schaf­ten ste­hen, schon vor Ablauf der zwei­jäh­ri­gen Aus­set­zung erreicht. Die­se Bewer­tung wur­de vom EGMR damals mit den hohen Flücht­lings­zah­len in den Jah­ren um 2015 bis 2016 gerecht­fer­tigt. Ob ein zwei­jäh­ri­ger Aus­schluss ange­sichts der deut­lich gesun­ke­nen Ankunfts­zah­len mit Arti­kel 8 EMRK in Ein­klang zu brin­gen ist, ist fraglich.

Auch die Tren­nungs­fris­ten, die in der Recht­spre­chung zu sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­ten genannt wer­den – zwei Jah­re bei Klein­kin­dern und drei Jah­re bei Ehe­gat­ten (bei Ehe­schlie­ßung vor der Flucht) (BVerwG 1 C 30.19, Urteil vom 17.12.2020, Rn. 36) – lie­gen im Bereich der aktu­el­len War­te­zei­ten auf einen Ter­min zur Antrag­stel­lung, nun kommt noch die zwei­jäh­ri­ge Aus­set­zung dazu.

Drei Gut­ach­ten der Wis­sen­schaft­li­chen Diens­te des deut­schen Bun­des­ta­ges kamen Mit­te März 2025 bei Aus­wer­tung der natio­na­len und inter­na­tio­na­len Recht­spre­chung zu fol­gen­dem Schluss: »Eine gene­rel­le Ver­un­mög­li­chung des Fami­li­en­nach­zugs sowie eine star­re Kon­tin­gen­tie­rung bzw. lan­ge War­te­fris­ten ohne jeg­li­che Mög­lich­keit zu Ein­zel­fall­prü­fun­gen dürf­ten mit die­sen Wer­tun­gen nicht in Ein­klang ste­hen« (EU‑6–3000-012/25).

Nur, weil es die Här­te­fall­klau­sel mit der Mög­lich­keit einer Ein­zel­fall­prü­fung gibt, ist das Aus­set­zungs­ge­setz also nicht von vorn­her­ein offen­sicht­lich rechts­wid­rig. Die Pra­xis­er­fah­run­gen mit dem über­aus hür­den­rei­chen, intrans­pa­ren­ten und kom­pli­zier­ten Fami­li­en­nach­zugs­pro­zess lässt Anwält*innen und Berater*innen jedoch befürch­ten, dass auch hier – ent­ge­gen den recht­li­chen Vor­ga­ben – kei­ne fai­re, zügi­ge und effi­zi­en­te indi­vi­du­el­le Über­prü­fung garan­tiert wird.

Einzelfallprüfung muss transparent und zugänglich sein 

Ein trans­pa­ren­tes und zugäng­li­ches Ver­fah­ren der Ein­zel­fall­prü­fung hat es zumin­dest 2016 bis 2018, als der Fami­li­en­nach­zug schon ein­mal aus­ge­setzt wur­de, nicht gege­ben: Damals gab es kei­ner­lei öffent­lich zugäng­li­che Infor­ma­tio­nen, wie und wo die Ange­hö­ri­gen einen Antrag auf eine Här­te­fall­prü­fung stel­len konn­ten. Erst nach eini­ger Zeit wur­de Berater*innen und Anwält*innen eine Mail­adres­se des Aus­wär­ti­gen Amtes bekannt, an das sich die Fami­li­en wen­den konn­ten. Das Aus­wär­ti­ge Amt führ­te in den ein­ge­gan­ge­nen Fäl­len eine Vor­prü­fung durch und gewähr­te nur in als aus­sichts­reich bewer­te­ten Fäl­len einen Ter­min zur Antrag­stel­lung. In ande­ren Fäl­len wur­de per Mail benach­rich­tigt, ohne dass eine gericht­li­che Über­prü­fung der Ent­schei­dung mög­lich war (Stel­lung­nah­me Inter­na­tio­nal Refu­gee Assis­tance Pro­ject IRAP).

Die­se am 23. Juni 2025 in der Anhö­rung des Innen­aus­schus­ses zum Geset­zes­ent­wurf vor­ge­brach­te Kri­tik hat­te wohl zumin­dest eine klei­ne Wir­kung. Die Pro­to­kol­lerklä­rung der Regie­rungs­frak­tio­nen macht Hoff­nung, dass die­ses Mal ein effek­ti­ver Zugang zu dem Ver­fah­ren gewähr­leis­tet wer­den soll: »Um die Här­te­fall­re­ge­lung gemäß § 22 Auf­ent­halts­ge­setz trans­pa­rent zu gestal­ten, müs­sen die Zustän­dig­kei­ten und das Antrags­for­mat inklu­si­ve des Recht­schut­zes gegen ableh­nen­de Ent­schei­dun­gen klar defi­niert sein. Infor­ma­tio­nen zum Ver­fah­ren nach § 22 Auf­enthG müs­sen zugäng­lich sein.«Noch sind die Details eines sol­chen Ver­fah­rens nicht bekannt. Zu befürch­ten ist aber, dass die­se Här­te­fall­re­ge­lung kaum ange­wandt wird. So wie auch bei der letz­ten Aus­set­zung nur 280 Visa erteilt wur­den (BT-Drs. 19/14640),

Maha* aus Syri­en ist ver­zwei­felt: »Ich habe mei­ne Kin­der nicht im Stich gelas­sen, um ein bes­se­res Leben zu suchen. Ich habe Syri­en ver­las­sen, weil ich um ihr Über­le­ben kämp­fe. Ich bin mit einem Holz­boot über das Mit­tel­meer geflüch­tet – wis­send, dass ich viel­leicht nie ankom­men wür­de. Ich habe alles ris­kiert, um ihnen Sicher­heit und medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung zu ermög­li­chen. Ich will mei­ne Kin­der end­lich wie­der in die Arme schlie­ßen. Jeder wei­te­re Tag des War­tens ist für uns eine Qual.« Maha ist seit fast zwei Jah­ren in Deutsch­land. Sie ist allein­er­zie­hen­de Mut­ter von drei Kin­dern, die in Syri­en bei der Oma leben. Das jüngs­te Kind ist zehn Jah­re alt und ist auf­grund einer sel­te­nen Erkran­kung auf regel­mä­ßi­ge Blut­trans­fu­sio­nen ange­wie­sen – eine Behand­lung, die in Syri­en kaum ver­füg­bar ist. Die Kin­der ste­hen auf der War­te­lis­te, ein Ter­min für die per­sön­li­che Antrag­stel­lung wur­de bis­her nicht vergeben.

Dringende humanitäre Gründe

Als Rechts­grund­la­ge für die­se Ein­zel­fall­prü­fung wird im Gesetz auf § 22 Auf­ent­halts­ge­setz (Auf­enthG) ver­wie­sen. Nach die­ser Norm »kann für die Auf­nah­me aus dem Aus­land aus völ­ker­recht­li­chen oder drin­gen­den huma­ni­tä­ren Grün­den eine Auf­ent­halts­er­laub­nis erteilt wer­den« (§22 Satz 1 Auf­enthG). Es han­delt sich dabei also um eine Ermes­sens­ent­schei­dung der Behör­den. Eine Auf­nah­me aus drin­gen­den huma­ni­tä­ren Grün­den setzt laut Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten vor­aus, »dass sich der Aus­län­der in einer beson­ders gela­ger­ten Not­si­tua­ti­on befin­det. Auf­grund des Aus­nah­me­cha­rak­ters der Vor­schrift ist wei­ter Vor­aus­set­zung, dass sich der Schutz­su­chen­de in einer Son­der­si­tua­ti­on befin­det, die ein Ein­grei­fen zwin­gend erfor­dert und es recht­fer­tigt, ihn – im Gegen­satz zu ande­ren Aus­län­dern in ver­gleich­ba­rer Lage – auf­zu­neh­men. Dabei muss die Auf­nah­me des Schutz­su­chen­den im kon­kre­ten Ein­zel­fall ein Gebot der Mensch­lich­keit sein.« Der Gesetz­ge­ber geht davon aus, dass es sich nur in einem Pro­zent der Fäl­le um Här­te­fäl­le han­delt, die wei­ter­hin bear­bei­tet wer­den müssen.

In einer Kri­tik der äußerst restrik­ti­ven Anwen­dungs­pra­xis argu­men­tie­ren die Juris­tin­nen Kum­mer und Wes­sing zu Recht, dass die Not­la­ge »im Ver­hält­nis zu sämt­li­chen Ein­rei­se­be­geh­ren bewer­tet wer­den« muss, und nicht allein mit jenen aus Kri­sen­re­gio­nen, da dies »huma­ni­tä­re Not­la­gen sys­te­ma­tisch unsicht­bar« macht und ansons­ten den grund­ge­setz­li­chen Schutz der Fami­lie unterläuft.

Völkerrechtliche Gründe

Die Geset­zes­be­grün­dung ver­weist bei den zu berück­sich­ti­gen­den huma­ni­tä­ren Grün­den »vor dem Hin­ter­grund der Gewähr­leis­tung des Arti­kel 8 EMRK« auf »die Dau­er der Tren­nung, das Kin­des­wohl sowie unüber­wind­ba­re Hin­der­nis­se, die Fami­li­en­ein­heit im Her­kunfts­land her­zu­stel­len«. Es ent­spricht nicht der bis­he­ri­gen Pra­xis, ist aber über­zeu­gend, dass die­se Rech­te aus der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on nicht nur als huma­ni­tä­re, son­dern auch als völ­ker­recht­li­che Grün­de berück­sich­tigt wer­den müs­sen (sie­he dazu auch die Dis­kus­si­on in der Anhö­rung des Innen­aus­schus­ses). Da die Urtei­le des EGMR für die Ver­trags­staa­ten völ­ker­recht­lich bin­dend sind, kann sich eine »völ­ker­recht­li­che Auf­nah­me­ver­pflich­tung aus all­ge­mei­nem Völ­ker­recht oder aus Völ­ker­ver­trags­recht« (Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten) erge­ben.

Ungewissheit bei den Familien

Fami­li­en­nach­zugs­ver­fah­ren sind ohne­hin undurch­sich­tig und las­sen die betrof­fe­nen Fami­li­en in oft­mals bedroh­li­chen oder huma­ni­tär kata­stro­pha­len Umstän­den ver­zwei­feln. Sie sind dem Ver­fah­ren mit sei­nen end­lo­sen War­te­schlei­fen und Hür­den aus­ge­lie­fert. Das wird durch das neue Gesetz noch ein­mal ver­stärkt, denn es ist unklar, wie eine Ein­zel­fall­prü­fung durch­ge­setzt wer­den kann, wann ent­spre­chen­de Kapa­zi­tä­ten für die­se Prü­fung beim Aus­wär­ti­gen Amt über­haupt auf­ge­stellt sind, wel­che Kri­te­ri­en wie gewich­tet werden.

Auch wie es nach der zwei­jäh­ri­gen Aus­set­zung wei­ter­geht, ist unge­wiss. In der Geset­zes­be­grün­dung wird ange­kün­digt, dass geprüft wer­den soll, ob »eine Ver­län­ge­rung der Aus­set­zung not­wen­dig und mög­lich ist«. Ansons­ten tritt die bis­he­ri­ge Rege­lung nach §36a Auf­enthG wie­der in Kraft. Auch wenn die Aus­set­zung anschlie­ßend nicht mehr ver­län­gert wird, wird sich die War­te­zeit ange­sichts der bis dahin ange­stau­ten Antragsteller*innen um vie­le wei­te­re Mona­te ver­zö­gern. Eine erneu­te Begren­zung wür­de die War­te­zeit sogar noch län­ger wer­den las­sen – was ein­deu­tig rechts­wid­rig wäre.

Rückwirkungsverbot

Als der Fami­li­en­nach­zug zu Schutz­be­rech­tig­ten von 2016 bis 2018 aus­ge­setzt war, traf es aus­schließ­lich jene Geflüch­te­ten, die erst nach Inkraft­tre­ten der Aus­set­zung die Auf­ent­halts­er­laub­nis für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te erhiel­ten. Mit der aktu­el­len Aus­set­zung ver­schlech­tert sich die Rechts­po­si­ti­on auch jener Men­schen die, zum Teil bereits seit lan­ger Zeit, über eine sol­che Auf­ent­halts­er­laub­nis ver­fü­gen. Juris­tisch gespro­chen liegt eine soge­nann­te ech­te Rück­wir­kung vor, die nach­träg­lich an einen bereits abge­schlos­se­nen Sach­ver­halt anknüp­fend eine neue Rechts­fol­ge vor­sieht – hier durch den Aus­schluss des Fami­li­en­nach­zugs. Obwohl Schutz­be­rech­tig­te also bei Ertei­lung der Auf­ent­halts­er­laub­nis alle Vor­aus­set­zun­gen für den Fami­li­en­nach­zug erfüll­ten, nutzt ihnen das nun plötz­lich nichts mehr. Dies wider­spricht dem Rückwirkungsverbot.

Erschwe­rend kommt hin­zu: Fami­li­en sind im Ver­trau­en auf ein Visums­ver­fah­ren zum Teil bereits vor Mona­ten oder Jah­ren in Dritt­län­der gezo­gen. Für die Fami­li­en ist der Aus­schluss auch des­halb beson­ders schwerwiegend.

Kaum alternative Möglichkeiten

Vie­le Fami­li­en, die von der Aus­set­zung betrof­fen sind, wer­den kei­ne ande­re Mög­lich­keit haben, als zu ver­su­chen, mit der Hil­fe von Bera­tungs­stel­len eine Ein­zel­fall­prü­fung als Här­te­fall anzu­stre­ben. Nur sub­si­di­är Geschütz­te, die schon län­ger in Deutsch­land sind, erfül­len even­tu­ell bereits die Vor­aus­set­zun­gen für die Nie­der­las­sungs­er­laub­nis oder die Ein­bür­ge­rung. Haben sie dies geschafft, kön­nen sie einen Fami­li­en­nach­zug nach den dabei gel­ten­den Vor­ga­ben beantragen.

Sub­si­di­är Geschütz­te, die in Deutsch­land als Fach­kraft arbei­ten, kön­nen bei Bera­tungs­stel­len prü­fen las­sen, ob sie die Vor­aus­set­zung für eine wei­te­re Auf­ent­halts­er­laub­nis nach 18 a, b oder 19c Auf­enthG erfül­len. Sie kön­nen dann einen Fami­li­en­nach­zug zu Fach­kräf­ten bean­tra­gen und sind von der Aus­set­zung nicht betrof­fen. Doch die Vor­aus­set­zun­gen sind hoch. Nur jene, die eine for­ma­le Qua­li­fi­ka­ti­on haben und es trotz der extre­men psy­chi­schen Belas­tung schaf­fen, sich auf Sprach­er­werb oder die Arbeit zu kon­zen­trie­ren, kön­nen die Aus­set­zung dadurch umge­hen. Vie­le ande­re, die trau­ma­ti­siert oder krank sind, haben die­se Mög­lich­keit nicht. Beson­ders dra­ma­tisch ist die Situa­ti­on für unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge, die wäh­rend der Aus­set­zung voll­jäh­rig wer­den. Ist es nicht mög­lich, eine beson­de­re Här­te nach­zu­wei­sen, ist der Fami­li­en­nach­zug ihrer Eltern nicht mehr möglich.

Mus­ta­fa* aus Syri­en ist aus­ge­bil­de­ter Elek­tro­tech­ni­ker mit viel Berufs­er­fah­rung. Obwohl er noch kei­ne zwei Jah­re in Deutsch­land ist, arbei­tet er bereits seit über einem Jahr als geschätz­te Fach­kraft bei einer Fir­ma in der Gebäu­de­au­to­ma­ti­sie­rung. Sei­ne Qua­li­fi­ka­ti­on ist noch nicht offi­zi­ell aner­kannt, sodass es noch schwer ist, eine Auf­ent­halts­er­laub­nis als Fach­kraft zu erhalten.

Seit ein­ein­halb Jah­ren lebt sei­ne Frau mit den drei Kin­dern in Ägyp­ten, wo sie auf den Ter­min zur Visums­be­an­tra­gung war­ten. Die Kin­der kön­nen dort nicht zur Schu­le gehen, weil ihre Auf­ent­halts­er­laub­nis­se abge­lau­fen sind. Die Miet­kos­ten dort sind hoch, und Mus­ta­fa schafft es trotz sei­nes guten Gehal­tes kaum, sie aus­rei­chend zu unter­stüt­zen. Er hat schon über­legt, Deutsch­land zu ver­las­sen, aber es gibt kein Land, in das er ein­rei­sen und in dem er gemein­sam mit sei­ner Fami­lie in Sicher­heit leben kann.

Zahra* aus dem Sudan erleb­te mas­si­ve Bedro­hun­gen durch das Mili­tär und die Behör­den wegen ihrer Tätig­keit als Ärz­tin. Sie floh nach Deutsch­land und erhielt sub­si­diä­ren Schutz. Ihr Ehe­mann und die Kin­der muss­ten eben­falls flie­hen. Seit­dem leben sie unter pre­kä­ren Umstän­den in einem Nach­bar­land, ohne Auf­ent­halts­sta­tus und ohne Zugang zu Bil­dung oder Gesund­heits­ver­sor­gung. Seit zwei Jah­ren ist Zahra von ihrer Fami­lie getrennt. Sie klagt auf die Flücht­lings­ei­gen­schaft, um von der Aus­set­zung nicht betrof­fen zu sein, lernt Deutsch und hat vor, in Deutsch­land wie­der als Ärz­tin zu arbeiten.

PRO ASYL fordert effektive Verfahren

PRO ASYL for­dert ange­sichts der men­schen­recht­li­chen Argu­men­te und des zu erwar­ten­den mensch­li­chen Leids grund­sätz­lich, dass die Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs vom Gesetz­ge­ber wie­der auf­ge­ho­ben wird.

Akut stel­len sich nun vie­le bis­her unge­klär­te Fra­gen in Tau­sen­den von Ein­zel­fäl­len. In der Umset­zung der neu­en Rege­lung ist es uner­läss­lich, dass zumin­dest in allen bereits anhän­gi­gen Ver­fah­ren nun geprüft wird, ob ein Här­te­fall nach § 22 Auf­enthG vor­liegt. Außer­dem muss das Aus­wär­ti­ge Amt schnell einen effek­ti­ven Zugang zu einer indi­vi­du­el­len Här­te­fall­prü­fung anbie­ten und dar­über trans­pa­rent infor­mie­ren. Bei der Prü­fung muss die EGMR-Recht­spre­chung berück­sich­tigt wer­den: Vie­le Fami­li­en sind schon län­ger als zwei Jah­re getrennt – und der EGMR hat­te ja eine pau­scha­le War­te­zeit von drei Jah­ren bis zur indi­vi­du­el­len Prü­fung eines Antrags auf Fami­li­en­nach­zug als Ver­let­zung von Arti­kel 8 EMRK gewer­tet. Zudem ist durch die Zuer­ken­nung des sub­si­diä­ren Schut­zes offen­kun­dig, dass die Fami­lie im Her­kunfts­land nicht zusam­men­le­ben kann. Und auch das Kin­des­wohl muss berück­sich­tigt werden.

* Name geändert

(jb)