24.09.2013
Image
Eine schutzsuchende Mutter und ihr Sohn aus Tschetschenien, die zum Zeitpunkt des Fotos bereits seit Jahren in Polen auf der Straße lebten. Fast jeder dritte anerkannte Flüchtling in Polen übernachtet an Orten wie Unterständen, besetzten Häusern oder Bahnhöfen. Foto: UNHCR/B. Szandelszky 2010

Die nackte Angst vor staatlicher Willkür und Gewalt beherrscht das Leben in Tschetschenien. Statt einen Schutzstatus zu erhalten droht tschetschenischen Asylsuchenden die Abschiebung nach Polen.

Flücht­lin­ge wie Rus­lan M. berich­ten von staat­li­cher Will­kür und Gewalt. „Ich habe Angst, dass sie mich wie­der holen und fol­tern wer­den. Ich bin mir sicher, dass ich nicht zurück kann“, sag­te er bei sei­ner Ankunft in Deutsch­land. Tau­sen­de Flücht­lin­ge aus Tsche­tsche­ni­en sind in den letz­ten Mona­ten vor der Skru­pel­lo­sig­keit des tsche­tsche­ni­schen Macht­ap­pa­rats geflo­hen. Nach einem Bericht der Gesell­schaft für bedroh­te Völ­ker (GfbV) dro­hen mut­maß­li­chen Geg­nern des Kady­row-Regimes und deren Ver­wand­ten „Ver­schwin­den­las­sen“ und Fol­ter in Haft­an­stal­ten oder an gehei­men Orten.

EGMR urteilt zu Tschetschenien

Der Euro­päi­sche Men­schen­rechts­ge­richts­hof (EGMR)  hat am 22. Janu­ar 2013 im Fall eines ver­schwun­de­nen Tsche­tsche­nen ent­schie­den, der von Kady­rows Sicher­heits­kräf­ten ent­führt und miss­han­delt wor­den war. Da es zu kei­ner­lei Straf­ver­fol­gung der Tat gekom­men war, stell­te der Gerichts­hof eine Ver­let­zung von Art. 3 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on fest – also eine unmensch­li­che und ernied­ri­gen­de Behand­lung. Am 5. Sep­tem­ber 2013 erklär­te der EGMR eine dro­hen­de Abschie­bung aus Schwe­den nach Tsche­tsche­ni­en für men­schen­rechts­wid­rig. Das tsche­tsche­ni­sche Ehe­paar war eben­falls gefol­tert und ent­führt worden.

Situa­ti­on von Frau­en zuneh­mend verschlechtert

Unter Kady­row hat sich auch die Situa­ti­on der Frau­en in Tsche­tsche­ni­en zuneh­mend ver­schlech­tert, wie etwa Amnes­ty Inter­na­tio­nal berich­tet. Gewalt und sexu­el­le Über­grif­fe gegen­über Frau­en neh­men zu und wer­den von staat­li­cher Sei­te nicht geahn­det. Die Unter­drü­ckung von Frau­en wird – etwa durch halb­of­fi­zi­el­le Beklei­dungs­vor­schrif­ten – vom Kady­row-Regime goutiert. 

In Deutsch­land liegt die Rus­si­sche För­de­ra­ti­on seit Febru­ar 2013 kon­stant an der Spit­ze der Her­kunfts­län­der von Asyl­su­chen­den, noch vor Syri­en und Afgha­ni­stan. Laut dem Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) waren rund 90 Pro­zent der Men­schen mit rus­si­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit, die in Deutsch­land zwi­schen Janu­ar und April 2013 Asyl bean­tragt hat­ten, Tsche­tsche­nen. Behaup­tun­gen, dass sie aus asyl­frem­den Grün­den kämen, recht­fer­ti­gen sich nicht: Im ers­ten Halb­jahr 2013 lag die Schutz­quo­te bei rund 20 Pro­zent – sta­tis­tisch gese­hen rund jeder Fünf­te Asyl­su­chen­de aus der rus­si­schen Föde­ra­ti­on bekam einen posi­ti­ven Asylbescheid.

Sin­ken­de Schutzquote

Die Schutz­quo­te ist zuletzt aller­dings wie­der leicht gesun­ken. Das spricht dafür, dass die Behör­den ihren Kurs gegen­über tsche­tsche­ni­schen Flücht­lin­gen ver­schär­fen: Seit Jah­res­be­ginn schrumpf­te die Bear­bei­tungs­dau­er für Asyl­an­trä­ge aus der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on von ehe­mals über neun auf nur noch knapp über sechs Mona­te – in einer Zeit, in der die durch­schnitt­li­che Ver­fah­rens­dau­er ins­ge­samt län­ger wurde.

Nur ein Bruch­teil der Asyl­ver­fah­ren für Men­schen aus der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on wird über­haupt inhalt­lich ent­schie­den, da in der Regel eine Rück­über­stel­lung nach Polen – wegen der EU-inter­nen Zustän­dig­keits­re­ge­lung (Dub­lin-Ver­ord­nung) – ange­strebt wird. Das Bun­des­amt prüft dann kei­ne Asyl­grün­de, son­dern nur den Rei­se­weg – und der führt die meis­ten Tscht­sche­nen über Polen nach Deutsch­land. Nach dem Dub­lin-Sys­tem ist der EU-Staat zustän­dig, über den die Ein­rei­se in die EU statt­fand. Auch in Bezug auf die Dub­lin-Fäl­le zeigt sich ein ver­schärf­ter Kurs der deut­schen Behör­den: Wäh­rend im Janu­ar 2013 noch 43 Pro­zent der Ent­schei­dun­gen for­mell – in der Regel sind dies Dub­lin-Fäl­le – getrof­fen wur­den, waren es im August bereits fast dop­pelt so vie­le (82 Prozent).

Zynis­mus beim Amts­ge­richt Eisenhüttenstadt 

Schlag­zei­len mach­te in den letz­ten Mona­ten das Amts­ge­richt Eisen­hüt­ten­stadt, das in den letz­ten Mona­ten immer wie­der Asyl­su­chen­de kri­mi­na­li­sier­te, die aus Polen nach Deutsch­land gekom­men sind. Wegen des Vor­wurfs der „ille­ga­len Ein­rei­se“ wur­den sogar Frei­heits­stra­fen aus­ge­spro­chen. Mit einem Rechts­staat hat es nur noch wenig zu tun, wenn die Rich­te­rin in ihren Urtei­len fest­stellt: Die Flücht­lin­ge sei­en „Asyl­tou­ris­ten“, die zu  einem „Heer der Ille­ga­len“ gehö­ren.  Deren Lebens­un­ter­halt wür­de  „in der  Regel durch Straf­ta­ten“ ver­dient, meist „Schwarz­ar­beit“. Das  füh­re dazu, dass  es  in „Bal­lungs­ge­bie­ten immer mehr zu  Span­nun­gen“ kom­me, die sich „durch wei­te­re Straf­ta­ten ent­la­den“ wür­den. Der Jura­pro­fes­sor Fischer-Lesca­no bezeich­net die­se Kri­mi­na­li­sie­rung nicht nur als völ­ker­rechts­wid­rig, son­dern als zynisch. Die Rechts­wid­rig­keit der Straf­ur­tei­le sei ganz offensichtlich.

Die tsche­tsche­ni­schen Asyl­su­chen­den müs­sen sich nicht nur gegen die Kri­mi­na­li­sie­rung, son­dern auch gegen die Abschie­bun­gen nach Polen weh­ren und machen sys­te­mi­sche Män­gel des Asyl­sys­tems gel­tend. Sie bekla­gen die man­gel­haf­te Gesund­heits­ver­sor­gung und The­ra­pie für Trau­ma­ta. Wei­ter­hin müs­sen nach Polen abge­scho­be­ne Asyl­su­chen­de damit rech­nen, inhaf­tiert zu wer­den. Ob dann eine schnel­le Über­prü­fung der Haft statt­fin­det, hängt von den Zugän­gen zu einer unab­hän­gi­gen Bera­tung ab.

Dro­hen­de Obdach­lo­sig­keit in Polen

Wei­ter­hin sind vor allem aner­kann­te Flücht­lin­ge von Obdach­lo­sig­keit betrof­fen. In einer Unter­su­chung (2013) zur Obdach­lo­sig­keit und Unter­brin­gung von Flücht­lin­gen und Asyl­su­chen­den kommt UNHCR zum Ergeb­nis, dass nur 20 Pro­zent der als schutz­be­dürf­tig Aner­kann­ten sicher und ange­mes­sen unter­ge­bracht sind. Drei­ßig bis 40 Pro­zent lan­den in der Obdach­lo­sig­keit, fünf bis zehn Pro­zent sogar auf der Straße.

Als Ursa­che nennt UNHCR ver­schie­de­ne Grün­de, dar­un­ter die vom Land selbst erklär­ten gerin­gen Ver­sor­gungs­ka­pa­zi­tä­ten in den meis­ten Regio­nen und feh­len­de Kon­zep­te gegen Obdach­lo­sig­keit gene­rell. Die Hel­sin­ki Foun­da­ti­on for Human Rights (HFHR) bestä­tigt zudem, dass es kei­nen hin­rei­chen­den effek­ti­ven Rechts­schutz in Asyl­ver­fah­ren gibt, so dass eine Ver­let­zung des Zurück­wei­sungs­ver­bots – bis in den Ver­fol­ger­staat – droht. Eini­ge Ver­wal­tungs­ge­rich­te haben dies zum Anlass genom­men, die Abschie­bun­gen nach Polen zu stop­pen und die Lage in Polen genau­er zu überprüfen.

Medi­en­be­richt: spie­gel-online 

 Erst­mals seit fast 20 Jah­ren: Baye­ri­sche Poli­zei räumt Kir­chen­asyl (20.02.14)

 Gestie­ge­ne Asyl­an­trags­zah­len: PRO ASYL warnt vor Alar­mis­mus und Stim­mungs­ma­che (14.08.13)

 Bericht zur Situa­ti­on tsche­tsche­ni­scher Flücht­lin­ge in Polen (29.04.11)