14.10.2015

Sehr geehr­te Abgeordnete,

sehr geehr­te Damen und Herren,

am Don­ners­tag wer­den der Bun­des­tag und am Frei­tag der Bun­des­rat über das Asyl­ver­fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz abstim­men, das die Bun­des­re­gie­rung auf den Weg gebracht hat, um die Situa­ti­on in den deut­schen Kom­mu­nen zu ver­bes­sern. Wie Sie ohne Zwei­fel wis­sen, steht Deutsch­land der­zeit vor der Her­aus­for­de­rung, eine hohe Zahl von Flücht­lin­gen vor allem aus Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten wie Syri­en, Afgha­ni­stan und Irak men­schen­wür­dig unter­zu­brin­gen und zu inte­grie­ren. Das geplan­te Asyl­ver­fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz ent­hält jedoch auch Maß­nah­men, die nicht zur Bewäl­ti­gung die­ser Her­aus­for­de­rung bei­tra­gen. Im Gegen­teil – es stellt die Wei­chen auf Aus­gren­zung und Abwehr und ist mit der Ach­tung von Men­schen­rech­ten nicht vereinbar.

Die geplan­ten Maß­nah­men dro­hen die Inte­gra­ti­on von Flücht­lin­gen mas­siv zu erschwe­ren: Die Aus­deh­nung des Zwangs­auf­ent­halts in der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung auf bis zu sechs Mona­te, die Wie­der­ein­füh­rung des Sach­leis­tungs­prin­zips, die Aus­deh­nung des Arbeits­ver­bo­tes auf sechs Mona­te und wei­te­re geplan­te Maß­nah­men zie­len auf die Aus­gren­zung von Schutz­su­chen­den in Deutsch­land. Beson­ders ent­wür­di­gend ist der geplan­te Umgang mit Flücht­lin­gen aus soge­nann­ten „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“. Sie sol­len bis zu ihrer Abschie­bung in den Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht wer­den – de fac­to heißt das auf unbe­stimm­te Zeit.

Auch wenn Men­schen nach Ableh­nung ihres Asyl­an­trags Deutsch­land wie­der ver­las­sen müs­sen: Der Schutz der Men­schen­wür­de muss das staat­li­che Han­deln bestim­men. Eine Absen­kung von Leis­tun­gen unter das vom Ver­fas­sungs­ge­richt bestimm­te Leis­tungs­ni­veau, mit der Absicht Men­schen, die aus­rei­sen sol­len, außer Lan­des zu trei­ben, ist inak­zep­ta­bel. Genau das wird in § 1a Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz vorgesehen.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat­te 2012 ent­schie­den: „Auch eine kur­ze Auf­ent­halts­dau­er oder Auf­ent­halts­per­spek­ti­ve in Deutsch­land recht­fer­tigt es im Übri­gen nicht, den Anspruch auf Gewähr­leis­tung eines men­schen­wür­di­gen Exis­tenz­mi­ni­mums auf die Siche­rung der phy­si­schen Exis­tenz zu beschrän­ken.“ Damit ist das Vor­ha­ben der Bun­des­re­gie­rung offen­sicht­lich ver­fas­sungs­wid­rig und ver­stößt gegen die Menschenrechte.

Beschleu­ni­gung? Fehlanzeige.

Zugleich trägt das Asyl­ver­fah­rens­be­schleu­ni­gungs­ge­setz nicht zur Beschleu­ni­gung der Asyl­ver­fah­ren bei, son­dern baut neue Büro­kra­tie auf  bezie­hungs­wei­se schafft hier­für eine gesetz­li­che Grund­la­ge: Schon jetzt erhal­ten Asyl­su­chen­de in vie­len Fäl­len nicht die Mög­lich­keit, zeit­nah ihr Asyl­ver­fah­ren ein­zu­lei­ten, son­dern erhal­ten statt­des­sen eine so genann­te „Beschei­ni­gung über die Mel­dung als Asyl­su­chen­der in Deutsch­land“ (BÜMA). Bis die Betrof­fe­nen einen Asyl­an­trag stel­len kön­nen, müs­sen sie mona­te­lang war­ten, in man­chen Fäl­len bereits jetzt schon mehr als ein Jahr. Statt Asyl­su­chen­den schnell die Asyl­an­trags­stel­lung zu ermög­li­chen, soll die Pra­xis, sie mit einer „BÜMA“ in eine mona­te­lan­ge War­te­schlei­fe zu drän­gen, jetzt auf eine gesetz­li­che Grund­la­ge gestellt wer­den. Damit wird Büro­kra­tie auf­ge­baut statt abgebaut.

Auch hin­sicht­lich der Dub­lin-Ver­fah­ren bringt das Gesetz hier nicht den drin­gend not­wen­di­gen Büro­kra­tie­ab­bau. Asyl­su­chen­den, die jüngst über Ungarn und Öster­reich nach Deutsch­land ein­reis­ten, kann noch immer die Über­stel­lung dro­hen – trotz der men­schen­un­wür­di­gen Situa­ti­on von Flücht­lin­gen in Ungarn und den Män­geln im unga­ri­schen Asyl­ver­fah­ren. Auf die Ein­lei­tung eines Dub­lin-Ver­fah­rens zu ver­zich­ten ist nicht nur im Inter­es­se der Betrof­fe­nen, son­dern kann hel­fen, den kata­stro­pha­len Antrags­rück­stau beim Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge zu redu­zie­ren. Amnes­ty Inter­na­tio­nal und PRO ASYL spre­chen sich gemein­sam gegen Dub­lin-Rück­über­stel­lun­gen nach Ungarn aus.

Die im Gesetz vor­ge­se­he­ne Erleich­te­rung der Arbeits­mi­gra­ti­on aus west­li­chen Bal­kan­staa­ten ist sinn­voll – sie ändert jedoch nichts dar­an, dass die­se die Kri­te­ri­en eines „siche­ren Her­kunfts­staa­tes“ nicht erfül­len. Die geplan­te Ein­stu­fung die­ser Staa­ten als „sicher“ wird der Rea­li­tät nicht gerecht. War­um soll­te etwa ein Staat wie Koso­vo sicher sein, wenn dort 5.000 KFOR-Sol­da­ten sta­tio­niert sind? Zudem sind lan­des­weit Dis­kri­mi­nie­run­gen von Min­der­hei­ten an der Tages­ord­nung, die in ihrer Kumu­lie­rung durch­aus der Schwe­re einer Ver­fol­gung gleich kom­men kön­nen. Das Kon­zept der „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ führt dazu, dass nach Maß­ga­be poli­ti­scher Oppor­tu­ni­tät über das Schick­sal von Schutz­su­chen­den ent­schie­den wird – die aktu­el­le Dis­kus­si­on über die Tür­kei als „siche­res Her­kunfts­land“ zeigt dies in ein­drucks­vol­ler Wei­se. Das Grund­recht auf Asyl ist ein Indi­vi­du­al­recht – sein Fun­da­ment ist die sorg­fäl­ti­ge Prü­fung des indi­vi­du­el­len Falls.

Inte­gra­ti­on statt Abschreckung

Wir appel­lie­ren ein­dring­lich, die­ses Gesetz im Hin­blick auf die Ziel­rich­tung grund­le­gend zu über­ar­bei­ten. Inte­gra­ti­on ist die Her­aus­for­de­rung der Stun­de. Zehn­tau­sen­de von Ehren­amt­li­chen und Haupt­amt­li­chen in den Kom­mu­nen geben alles, um die ankom­men­den Men­schen so gut wie mög­lich zu ver­sor­gen. Auf die enor­men Anstren­gun­gen muss jetzt ein staat­li­ches Kon­zept zur men­schen­wür­di­gen Auf­nah­me und Inte­gra­ti­on von Flücht­lin­gen fol­gen. Die Auf­ga­be, vor der Deutsch­land jetzt steht, muss dabei zum Kata­ly­sa­tor wer­den, um längst fäl­li­ge Inves­ti­tio­nen in den sozia­len Woh­nungs­bau und in Bil­dung anzustoßen.

Wir appel­lie­ren ein­dring­lich an Sie, dem vor­ge­leg­ten Gesetz­ent­wurf nicht zuzu­stim­men und ihn grund­le­gend zu überarbeiten.

Wir bedan­ken uns im Vor­aus für Ihren Ein­satz für die Men­schen­rech­te von Flücht­lin­gen und Asylsuchenden.

Mit freund­li­chen Grüßen

Sel­min Çalış­kan
Gene­ral­se­kre­tä­rin von Amnes­ty Inter­na­tio­nal in Deutschland 

Gün­ter Burkhardt

Geschäfts­füh­rer von PRO ASYL 

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