28.06.2022

Vor einem Jahr, am 29. Juni 2021, wur­den die letz­ten Bun­des­wehr­sol­da­ten aus Afgha­ni­stan aus­ge­flo­gen – nicht aber all die Men­schen, die zuvor jah­re­lang mit der Bun­des­wehr zusam­men­ge­ar­bei­tet hat­ten. Bis heu­te har­ren Tau­sen­de ehe­ma­li­ge Orts­kräf­te in Afgha­ni­stan aus, leben in Angst, ver­ste­cken sich vor Fol­ter und Mor­den der Tali­ban. Für Tau­sen­de Men­schen hät­te das ver­hin­dert wer­den kön­nen, wenn die Ver­ant­wort­li­chen auf die frü­hen War­nun­gen und Vor­schlä­ge von Men­sch­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen wie PRO ASYL, MISSION LIFELINE und Paten­schafts­netz­werk Afgha­ni­sche Orts­kräf­te gehört hätten.

Des­halb kri­ti­sie­ren PRO ASYL, MISSION LIFELINE und Paten­schafts­netz­werk Afgha­ni­sche Orts­kräf­te die Bun­des­re­gie­rung scharf. Ein Jahr nach Abzug der Bun­des­wehr haben vie­le Orts­kräf­te noch immer kei­ne Auf­nah­me­zu­sa­gen. Das  Orts­kräf­te­ver­fah­ren muss, wie im Koali­ti­ons­ver­trag ver­spro­chen, drin­gend refor­miert wer­den, da es bis­her sys­te­ma­tisch gan­ze Grup­pen von Orts­kräf­ten sowie zahl­rei­che Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von der Ret­tung aus­schließt, for­dern die drei Organisationen.

„Die alte Bun­des­re­gie­rung hat damals ver­sagt, ­ und auch die neue tut bis heu­te viel zu wenig, um alle Men­schen, die in Afgha­ni­stan für deut­sche Stel­len gear­bei­tet haben, end­lich in Sicher­heit zu brin­gen. Die­ses Ver­sa­gen der Regie­run­gen hat schon Men­schen­le­ben gekos­tet“, kri­ti­siert Mar­cus Gro­ti­an vom Paten­schafts­netz­werk Afgha­ni­sche Ortskräfte.

Bereits im April 2021, vor mehr als einem Jahr, hat­te PRO ASYL einen Vor­schlag für ein Pro­gramm zur Auf­nah­me afgha­ni­scher Orts­kräf­te an alle zustän­di­gen Minis­te­ri­en geschickt: das Aus­wär­ti­ge Amt, das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um, das Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um und an das Bun­des­ent­wick­lungs­mi­nis­te­ri­um. Zum Pro­gramm gehör­te: Die Bun­des­re­gie­rung bie­tet den Orts­kräf­ten die Auf­nah­me an; alle gefähr­de­ten Fami­li­en­mit­glie­der wer­den auf­ge­nom­men, nicht nur die Kern­fa­mi­lie; eine Plau­si­bi­li­täts­prü­fung anstel­le einer Gefähr­dungs­prü­fung durch die Sicher­heits­diens­te; sofor­ti­ge Aus­rei­se mit Visa­er­tei­lung bei der Ankunft; die Orts­kräf­te-Defi­ni­ti­on wird erwei­tert auf afgha­ni­sche Mitarbeiter*innen von Durch­füh­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen der BMZ wie der GIZ, poli­ti­sche Stif­tun­gen und ande­re Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen. Doch nichts geschah.

Neue Orts­kräf­te-Defi­ni­ti­on ist nötig

„Lei­der sind die­se Vor­schlä­ge zur sofor­ti­gen Auf­nah­me von Orts­kräf­ten, die wir vor mehr als einem Jahr an deut­sche Minis­te­ri­en geschickt haben, noch immer aktu­ell, da die Ver­ant­wort­li­chen sie bis heu­te nicht auf­ge­nom­men haben.  Eine Reform der Defi­ni­ti­on, wer als Orts­kraft gilt, und die Aus­wei­tung auch auf Subunternehmer*innen, die bei­spiels­wei­se bei der deut­schen GIZ tätig waren, ist aber drin­gend not­wen­dig“, for­dert Gün­ter Burk­hardt, Geschäfts­füh­rer der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on PRO ASYL.

Auch von den im Koali­ti­ons­ver­trag ange­kün­dig­ten Ver­ein­fa­chun­gen zur Auf­nah­me von Orts­kräf­ten und ihren engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen ist noch nichts zu spü­ren. Denn von der bis­he­ri­gen Rege­lung pro­fi­tie­ren die wenigs­ten Orts­kräf­te. So wer­den Arbeitnehmer*innen, die vor 2019 kei­ne Gefähr­dungs­an­zei­ge ein­reich­ten, grund­sätz­lich aus­ge­schlos­sen. Arbeitnehmer*innen, deren Ver­trag vor 2013 ende­te, Mitarbeiter*innen von Sub­un­ter­neh­men, Ehren­amt­li­che in Insti­tu­tio­nen erhal­ten kei­ne Aufnahmezusagen.

„Auch Mit­glie­der des eige­nen Haus­stan­des von Orts­kräf­ten erhal­ten in den sel­tens­ten Fäl­len die Chan­ce, ihr Leben zu ret­ten. Eben­so wenig rund 3000  frü­he­re Mit­ar­bei­ter eines GIZ-Poli­zei­pro­jekts (PCP), die im Febru­ar 2022 Untä­tig­keits­kla­gen gegen die Bun­des­re­gie­rung ein­ge­reicht haben. Ange­sichts der Lebens­ge­fahr, in der die Men­schen in Afgha­ni­stan schwe­ben, ist die Ver­schlep­pungs­tak­tik der Bun­des­re­gie­rung ein Schlag ins Gesicht der­je­ni­gen, die für Deutsch­land gear­bei­tet und sich auf die Ver­spre­chun­gen der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft ver­las­sen haben“, for­dert Axel Stei­er, Spre­cher von MISSION LIFELINE.

Chro­nik des Ver­sa­gens beginnt früh

Zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen haben die Bun­des­re­gie­rung immer wie­der auf­ge­for­dert, das Orts­kräf­te­ver­fah­ren end­lich den Erfor­der­nis­sen der Betrof­fe­nen anzu­pas­sen. Doch die Chro­nik des Ver­sa­gens begann schon weit vor dem 29. Juni 2021. Mona­te­lang war bekannt, dass die deut­schen und alle ande­ren west­li­chen Trup­pen abzie­hen woll­ten. Und seit Jah­ren war bekannt, dass Men­schen, die mit west­li­chen Trup­pen, Insti­tu­tio­nen, Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und ande­ren west­li­chen Büros zusam­men­ge­ar­bei­tet haben, in den Augen der Tali­ban als Ver­rä­ter gelten.

Nach dem Vor­schlag für ein „Pro­gramm zur Auf­nah­me afgha­ni­scher Orts­kräf­te“ im April 2021  for­der­te PRO ASYL am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem end­gül­ti­gen Abzug der Bun­des­wehr, erneut Schnel­lig­keit und unbü­ro­kra­ti­sche Ver­fah­ren. Doch statt Orts­kräf­te und ihre Fami­li­en aus­zu­flie­gen, setz­te die  Bun­des­wehr ande­re Prio­ri­tä­ten, so dass PRO ASYL am Tag nach dem Abzug erklär­te: „Es ist mehr als irri­tie­rend, dass die Bun­des­wehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt aus­ge­flo­gen hat, aber vie­le Men­schen, die für Deutsch­land gear­bei­tet haben, zurück­ge­las­sen werden.“

Und am 9. August, als die end­gül­ti­ge Macht­über­nah­me der Tali­ban nicht mehr zu ver­hin­dern schien, for­der­te PRO ASYL eine Luft­brü­cke für gefähr­de­te Per­so­nen. Doch die War­nun­gen ver­hall­ten unge­hört, die Chro­nik des Ver­sa­gens wur­de fort­ge­schrie­ben – bis heute.

For­de­run­gen an die Bundesregierung

Am 31. März 2022 mach­ten zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen wie das Paten­schafts­netz­werk, MISSION LIFELINE, PRO ASYL und ande­re den zustän­di­gen Minis­te­ri­en fol­gen­de Vor­schlä­ge für eine Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens, die noch immer nicht auf­ge­grif­fen wurden:

• Der Begriff der Orts­kraft darf nicht auf unmit­tel­ba­re arbeits­ver­trag­li­che Ver­hält­nis­se beschränkt blei­ben, son­dern muss auf alle ent­lohn­ten oder ehren­amt­li­chen Tätig­kei­ten für deut­sche Insti­tu­tio­nen, Orga­ni­sa­tio­nen und Unter­neh­men sowie Sub­un­ter­neh­men, die z. B.  in von der GIZ finan­zier­ten Pro­jek­ten gear­bei­tet haben, oder Per­so­nen, die als Selbst­stän­di­ge für die­se Pro­jek­te tätig waren, erwei­tert wer­den. Das Ver­fah­ren muss daher auch end­lich Orts­kräf­te, die vor 2013 ent­spre­chend tätig waren, schützen.

• Fer­ner darf der Schutz nicht auf die soge­nann­te Kern­fa­mi­lie beschränkt blei­ben. Viel­mehr sind über die Kern­fa­mi­lie hin­aus sämt­li­che einem Haus­halt zuzu­rech­nen­den und bedroh­ten Per­so­nen zu berück­sich­ti­gen; die Zuge­hö­rig­keit kann sich aus Zusam­men­le­ben, finan­zi­el­ler Abhän­gig­keit, emo­tio­na­len Ver­bin­dun­gen usw. erge­ben. Unter den genann­ten Vor­aus­set­zun­gen müs­sen auch ver­hei­ra­te­te Kin­der bei Gefähr­dung berück­sich­tigt wer­den. Neben allein­ste­hen­den voll­jäh­ri­gen Töch­tern sind auch voll­jäh­ri­ge Söh­ne zu berück­sich­ti­gen, da gera­de die­se die Gefahr von Rache­ak­ten für die Ortks­kraft­tä­tig­keit auf sich ziehen.

• Für die vor­ge­nann­te Öff­nung sowohl in Bezug auf die Ver­trags­ver­hält­nis­se als auch des Fami­li­en­be­griffs spricht der Beschluss des Rates der Euro­päi­schen Uni­on 2022/51 vom 03.02.2022, in wel­chem es unter ande­rem um die Eva­ku­ie­rung von gefähr­de­ten Per­so­nen, die für EU-Insti­tu­tio­nen tätig waren und deren Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge geht. Von der Eva­ku­ie­rung sind danach auch Mit­glie­der des Per­so­nals ehe­ma­li­ger Lie­fe­ran­ten von EUPOL Afgha­ni­stan und des Son­der­be­auf­trag­ten und Mit­glie­der des Per­so­nals von Lie­fe­ran­ten der Dele­ga­ti­on der Uni­on in Kabul erfasst – also nicht nur unmit­tel­ba­re Arbeitnehmer*innen der EU-Insti­tu­tio­nen, son­dern auch Mit­ar­bei­ter von Sub­un­ter­neh­mern. Fer­ner ist der Beschluss nicht auf die Auf­nah­me der Kern­fa­mi­lie der gefähr­de­ten Per­so­nen beschränkt, son­dern bezieht Kin­der unab­hän­gig von deren Alter eben­so mit ein wie Eltern und unver­hei­ra­te­te Schwestern.

Kon­takt
PRO ASYL: Pres­se­stel­le Tele­fon 069 / 24 23 14 30, presse@proasyl.de
Paten­schafts­netz­werk Afgha­ni­sche Orts­kräf­te: pr@patenschaftsnetzwerk.de
MISSION LIFELINE: Tele­fon 0175 / 946 4525,  axel.steier@mission-lifeline.de

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