04.08.2025
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Familie Abdulkadir, zehn Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland. Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Familie Abdulkadir hat es geschafft: Zehn Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland halten die gebürtigen Syrer*innen deutsche Pässe in den Händen. Die Eltern arbeiten, die Töchter gehen zur Schule. Bei der Bundestagswahl durften Nermin und Mohammed zum ersten Mal im Leben einen Stimmzettel abgeben – ein wichtiges Ereignis für sie.

Als sie das ers­te Mal auf Deutsch träum­te, wuss­te sie, dass sie es geschafft hat­te. Die 31-jäh­ri­ge Ner­min lacht, als sie das erzählt. »Die Spra­che zu ler­nen, ist das Wich­tigs­te« – das sage sie auch allen syri­schen Bekann­ten, die noch nicht lan­ge in Deutsch­land sei­en. Vor weni­gen Wochen hat die drei­fa­che Mut­ter nun ein Fern­stu­di­um der Ger­ma­nis­tik begonnen.

Die Eltern und ihre drei Töch­ter strah­len eine anste­cken­de Fröh­lich­keit aus. Ner­min lacht viel, auch ihr Mann Moham­med wirkt gelöst. Durchs Wohn­zim­mer tol­len die Mäd­chen: Alin, zehn Jah­re, Tala, acht, und die andert­halb­jäh­ri­ge Alma. Die Kat­ze hat sich unterm Sofa ver­steckt, ihr ist der Tru­bel zu viel. An den Wän­den ihrer Woh­nung hän­gen Zeich­nun­gen von Ner­min: Aus­drucks­star­ke Frau­en­por­träts, die eine Künst­le­rin erken­nen las­sen. Doch das sei nur ihr Hob­by. Ihr Zuhau­se haben die Abdul­ka­dirs in bun­ten Far­ben gestri­chen, son­nen­gelb ist die Wand im Wohn­zim­mer. Nichts lässt erken­nen, wel­che Odys­see sie hin­ter sich haben.

Ner­min hat­te eine Geburt per Kai­ser­schnitt, nach einer kur­zen Ver­schnauf­pau­se in der Tür­kei waren sie mit der zwei Mona­te alten Toch­ter mona­te­lang unterwegs.

Ner­min und Moham­med stam­men aus dem syri­schen Idlib. Als ihre Toch­ter Alin gera­de mal zwei Wochen alt war, such­ten sie Zuflucht in der Tür­kei. »Ohne Kind hat­te ich nicht so viel Angst in Syri­en, aber mit Baby im Arm ist es ganz anders«, erzählt Ner­min. Sie hat­te eine Geburt per Kai­ser­schnitt, nach einer kur­zen Ver­schnauf­pau­se in der Tür­kei waren sie mit der zwei Mona­te alten Toch­ter mona­te­lang unter­wegs. Mit dem Schlauch­boot von der Tür­kei nach Grie­chen­land, dann über die Bal­kan­rou­te bis nach Deutsch­land – so wie Hun­dert­tau­sen­de ande­re auch.

Der Zug nach München: Hoffnung. Sicherheit. Eine Zukunft

In Ungarn wur­den sie von­ein­an­der getrennt und fan­den sich erst nach 17 Tagen wie­der. Moham­med wird emo­tio­nal, als er davon erzählt. Von den Stock­schlä­gen ins Gesicht, die ihm unga­ri­sche Poli­zis­ten ver­pass­ten. Von Bestechungs­gel­dern, die er zah­len muss­te, davon, wie es ist, einen Monat lang nicht zu duschen. Und dann von sei­ner kran­ken Frau und der klei­nen Toch­ter, die plötz­lich Atem­pro­ble­me hat­te, getrennt zu wer­den – ohne zu wis­sen, wo sie waren und wie es ihnen ging. Aber immer wie­der kreuz­ten auch hilfs­be­rei­te Men­schen ihren Weg, so wie der Ungar, der Moham­med half, sei­ne Frau wie­der­zu­fin­den. Oder der Kiosk­be­sit­zer, der ihnen eine Nacht in einem Hotel in Buda­pest bezahl­te, als sie nicht mehr wei­ter­wuss­ten. Und auch Grenz­be­am­te habe es gege­ben, die gesagt hät­ten: »Lasst sie durch, sie haben ein Baby.«

Als sie in Mün­chen anka­men, hat­ten sie von ihrem Erspar­ten noch 16 Euro in der Tasche. Moham­med kauf­te für sei­ne Frau, die das Baby still­te, etwas zu essen.

Als Moham­med von dem Zug erzählt, mit dem sie schließ­lich nach Deutsch­land fah­ren konn­ten, leuch­ten sei­ne Augen. Für die Fami­lie bedeu­te­te die­ser Zug alles. Hoff­nung. Sicher­heit. Eine Zukunft.

Als sie in Mün­chen anka­men, hat­ten sie von ihrem Erspar­ten noch 16 Euro in der Tasche. Moham­med kauf­te für sei­ne Frau, die das Baby still­te, etwas zu essen. »Ich habe eine Woche lang nur geschla­fen, so groß war die Erschöp­fung«, erin­nert er sich. »Und immer wie­der habe ich geträumt, dass wir noch zu Fuß unter­wegs sind.« Die­se Träu­me ver­fol­gen ihn noch immer, bis heute.

Die Anfangs­zeit war für das Ehe­paar schwie­rig. »Ich hat­te Angst, wie wir hier leben kön­nen. Ohne Spra­che, ohne alles. Ich habe es noch nicht mal geschafft, dem Bus­fah­rer ver­ständ­lich zu machen, dass ich ein Ticket kau­fen möch­te«, erin­nert Moham­med sich. Auch Ner­min hat­te Angst. Etwa davor, dass sie wegen ihres Kopf­tuchs belei­digt wür­de. Aber: »Ich habe nur gute Erfah­run­gen mit Deut­schen gemacht«, schwärmt sie. »Von Anfang an waren vie­le net­te Men­schen um uns her­um, die uns gehol­fen haben. Beson­ders Eli­sa­beth, die ich nur ‚mein deut­scher, blon­der Schatz‘ nen­ne«, sagt sie. Die ehren­amt­lich Enga­gier­te sei sogar bei der Geburt ihrer Toch­ter Tala dabei gewe­sen, so innig sei das Verhältnis.

»Arbeiten, Steuern zahlen – so kann man dem Land danken«

Eli­sa­beth war es auch, die den Abdul­ka­dirs half, schnell eine Arbeit zu fin­den. Nach nur sechs Mona­ten in Deutsch­land begann Moham­med in einer Bäcke­rei zu arbei­ten – zunächst unent­gelt­lich, als Prak­ti­kant, »aber alles ist bes­ser, als nur herumzusitzen«.

Schließ­lich erhielt er eine Arbeits­er­laub­nis und wur­de in der­sel­ben Bäcke­rei ange­stellt, Er stand mit­ten in der Nacht auf, um in der Back­stu­be anzu­fan­gen, ver­dien­te Geld und lern­te durch die Kolleg*innen Deutsch. Wenn er nach Hau­se kam, über­nahm er die Betreu­ung von Alin und Tala, damit sei­ne Frau Ner­min den Deutsch­kurs besu­chen konn­te. Seit fünf Jah­ren arbei­tet Moham­med nun in einer Gärt­ne­rei. Sei­ne Fami­lie hat­te in Syri­en vie­le Oliven‑, Kirsch- und Fei­gen­bäu­me, ein biss­chen Erfah­rung brach­te er also mit.

»Man­che Deut­sche den­ken, Flücht­lin­ge wür­den nur her­um­sit­zen. Aber von den 20 syri­schen Fami­li­en, die mit uns ange­kom­men sind, arbei­ten inzwi­schen 19 Familien«

Moham­med Abdulkadir

»Man­che Deut­sche den­ken, Flücht­lin­ge wür­den nur her­um­sit­zen. Aber von den 20 syri­schen Fami­li­en, die mit uns ange­kom­men sind, arbei­ten inzwi­schen 19 Fami­li­en«, sagt er. Und fügt hin­zu: »Ich fühl­te mich in Deutsch­land rich­tig ange­kom­men, als ich arbei­ten durf­te.« Ner­min nickt. Auch sie ist berufs­tä­tig. Zunächst in der Alten­pfle­ge und bei einem Zahn­arzt, momen­tan hat sie neben ihrem Stu­di­um einen Mini­job in einem Café. Nach ihrem Stu­di­um möch­te Ner­min als pro­fes­sio­nel­le Über­set­ze­rin arbeiten.

»Die Deut­schen haben uns sehr gehol­fen. Sie haben uns die Tür geöff­net. Wir haben hier die Sicher­heit und Hoff­nung gefun­den, die wir in Syri­en nicht mehr hat­ten. Aber wir wol­len Deutsch­land auch etwas zurück­ge­ben. Wir arbei­ten, zah­len Steu­ern. So kann man dem Land dan­ken«, sagt Moham­med. Etwas zurück­ge­ben, selbst hel­fen: Das leben die Abdul­ka­dirs auch, indem sie heu­te ande­ren Syrer*innen hel­fen, etwa beim Aus­fül­len von Anträ­gen und For­mu­la­ren. Und als 2021 die gro­ße Flut das Ahrtal ver­wüs­te­ten, reis­te Moham­med hin, um zu helfen.

Seit 2024 ist die Fami­lie ein­ge­bür­gert; bei der dies­jäh­ri­gen Bun­des­tags­wahl haben sie ihre Stim­me abge­ge­ben. »Es war sehr beson­ders für uns, denn wir haben das ers­te Mal im Leben gewählt«, sagt Moham­med. Und ein wei­te­res beson­de­res Ereig­nis steht an: Zehn Jah­re nach ihrer Flucht kön­nen sie nach Syri­en zurück­keh­ren, um ihre Fami­li­en zu besu­chen. Die Mäd­chen wer­den das ers­te Mal ihre Groß­el­tern ken­nen­ler­nen, Ner­min ihre Mut­ter nach 15 Jah­ren der Tren­nung wie­der­se­hen. »Damit hat­te ich nicht mehr gerech­net. Ich hat­te ver­sucht, Syri­en aus mei­nem Kopf zu strei­chen«, erzählt Moham­med. Aber ihre neue Hei­mat ist jetzt Deutsch­land, für sie steht außer Fra­ge, dass sie zurückkehren.

Zum Abschluss des Gesprächs möch­te Moham­med noch etwas los­wer­den: »Ein beson­de­res Dan­ke­schön möch­te ich Frau Mer­kel sagen. Sie hat uns Hoff­nung geschenkt.«

Ein Bru­der von Moham­med Abdul­ka­dir wird von PRO ASYL unter­stützt: Sein Bru­der Akram Abdul­ka­dir starb 2022 auf der Flucht qual­voll – wäh­rend eines gewalt­vol­len Push­backs durch grie­chi­sche Sicher­heits­kräf­te, die kei­ne Not­hil­fe leis­te­ten. Ein drit­ter Bru­der, Hassan Abdul­ka­dir, der mit ihm auf der Flucht und Zeu­ge des Ver­bre­chens war, hat mit Unter­stüt­zung von PRO ASYL Anzei­ge gegen die Sicher­heits­kräf­te erstat­tet. Im Inter­view mit PRO ASYL schil­der­te er sei­ne Erleb­nis­se: »Ich rief ver­zwei­felt nach Hil­fe. Doch die Ant­wort waren wei­te­re Schläge«

 

(er)