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»Wir müssen als Gesellschaft den Überlebenden und Opfern rechter Gewalt zuhören«
İbrahim Arslan ist Überlebender des rassistischen Brandanschlags am 23. November 1992 in Mölln. Im Interview erläutert er, warum es gesamtgesellschaftlich wichtig ist, von der Täterperspektive wegzukommen und stattdessen die Perspektive der Überlebenden und Hinterbliebenen rechter Gewalt in den Mittelpunkt zu rücken.
İbrahim, du engagierst dich seit vielen Jahren zusammen mit anderen Betroffenen für das Empowerment von Opfern rassistischer und rechter Gewalt. Dieses Jahr hast du den Menschenrechtspreis von PRO ASYL bekommen. Wie war das für dich?
Es ist gut, dass jetzt eine Vernetzung mit uns als Selbstorganisation beginnt, die es in den vergangenen Jahren so noch nicht gab. Und dass diese Vernetzung von Betroffenen Beachtung findet, das ist ein wichtiges Zeichen. Der Preis ist natürlich auch eine Bestätigung für unsere Arbeit. Wir wollen nicht als Statisten behandelt werden, sondern unsere Perspektive ist entscheidend für die Arbeit. Deshalb sind wir für den »Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt« (VBRG e.V.) und für andere Beratende wichtige Experten und Partner.
Du bist sehr engagiert, unter anderem im »Betroffenen- und Solidaritätsnetzwerk« (BeSoNet) und als Bildungsreferent, insbesondere an Schulen. Was motiviert dich, diese Arbeit zu tun?
Meine Geschichte ist meine Motivation, und die dringende Notwendigkeit, dass Betroffene sich vernetzen. Es gab früher keine Vernetzung von Menschen in Deutschland, die seit den Siebziger- oder Achtzigerjahren von Rassismus und Antisemitismus betroffen waren. Dass es das heute gibt, dass Betroffene ihre Stimme erheben, und zu sehen, wie immer mehr Menschen Teil des Netzwerks werden, motiviert mich jeden Tag aufzustehen,
Wir bekommen jetzt einen Preis in Barcelona für unsere Arbeit – da werde nicht ich hingehen, sondern ein Überlebender des Hanau-Anschlags. Das ist wichtig, die Verantwortung für das Netzwerk auf viele zu verteilen und es so größer zu machen. Das Netzwerk ist für die Betroffenen ein großes Glück im großen Unglück. Auch die Arbeit an den Schulen motiviert mich sehr. Mit den Heranwachsenden zu arbeiten, ihnen unsere Geschichten zu erzählen, aber auch ihre Geschichten zu hören und sie zu empowern.
Warum gab es diese Vernetzung der Betroffenen nicht vorher? Was hat gefehlt und was fehlt noch?
Was bisher fehlte, war die Bereitschaft der Gesellschaft den Opfern zuzuhören und sich mit ihrer Perspektive zu beschäftigen. Aber jetzt gibt es dank der unermüdlichen Arbeit der Betroffenen unser Netzwerk, das zum Beispiel sichere Räume für Betroffene bietet und Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit an Schulen macht. Allerdings machen die Betroffenen die ganze Arbeit ehrenamtlich. Viele Orte der Solidarität und Verbundenheit, die geschaffen wurden, gibt es nur aufgrund von Spendengeldern – es gibt aber bislang keine staatlichen Fördergelder.
Es gibt kaum Menschen in Entscheidungspositionen, die selbst rassistische Gewalt erleiden mussten. Und es fehlt eine Institution für Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt, die von Betroffenen selbst geleitet wird.
Was aber vor allem fehlt: Das Sprechen in der Gesellschaft über rechte Gewalt – und zwar aus der Perspektive der Betroffenen. Das fehlt überall, in der Kunst, im Bildungssystem…. Man spricht ständig über die Täter und verliert dabei die Perspektive der Betroffenen aus dem Blick. Und das ist genau die Arbeit, die wir machen und die für die Gesellschaft so wichtig ist: Über rechte Gewalt sprechen, weg von der Täterperspektive – hin zur Opferperspektive, also das Sprechen mit Betroffenen von Gewalt, nicht über sie. Das fordern wir ein, denn unsere These ist, dass wir durch unsere Arbeit die gesellschaftliche Perspektive auf rechte Gewalt verändern können.
Würdest du sagen, da gibt es Fortschritte?
Die gibt es ganz klar, und zwar nur, weil die Betroffenen selbst immer wieder eingefordert haben, dass ihnen zugehört werden muss. Nicht, weil Institutionen sich überlegt haben, dass es gut wäre, Betroffenen zuzuhören. Das müssen wir als Gesellschaft auch selbstkritisch reflektieren, dass wir nicht selbst darauf gekommen sind, den Opfern zuzuhören und ihre Perspektive als Leitlinie zu nehmen.
In der Geschichtserzählung über rechte Gewalt bekommt aber nach wie vor der Täter viel mehr Raum als die Opfer. Dadurch beschäftigt und identifiziert man sich nur mit der Täterperspektive. Und daran arbeiten wir, besonders mit Heranwachsenden, und fordern ein, sich dem Thema rassistischer Gewalttaten über die Opferperspektive anzunähern. Das wäre eine gesellschaftliche Revolution, wenn sich die Menschen allein mit den Opfern identifizieren und mit ihnen sympathisieren würden, dann gäbe es kaum noch Täter.
»In der Geschichtserzählung über rechte Gewalt bekommt nach wie vor der Täter viel mehr Raum als die Opfer.«
Wie wichtig sind für euch Bündnispartnerschaften und wie wählt ihr sie aus?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten, da wir keine feste Organisation, sondern ein Netzwerk sind. Wir haben kein Komitee, welches das entscheidet. Klar ist aber, dass Organisationen, die sich mit der Täterperspektive beschäftigen oder bestimmte Arten von Gewalt – wie etwa gegen Homosexuelle – gutheißen oder tolerieren, ausgeschlossen sind. Wir möchten mit Organisationen arbeiten, die schon immer mit der Betroffenenperspektive gearbeitet haben, wie zum Beispiel PRO ASYL.
Aber immer mit dem kritischen Blick, wo die großen Organisationen in der Vergangenheit gewesen sind, wenn es um rechte Gewalt ging. Warum hat niemand die Vernetzung und Betroffenenperspektive unterstützt? Wo waren zum Beispiel die großen Organisationen 2006, nachdem Halit Yozgat, das neunte Opfer des NSU [sogenannter »Nationalsozialistischer Untergrund«] ermordet wurde und 4.000 Demonstrierende, fast alle Migranten, forderten: kein zehntes Opfer. Während den Angehörigen die Tatmotivation klar war, ermittelte die Polizei damals rein rassistisch und innerhalb der Familien. Die Familien wurden nicht gehört und nicht unterstützt, und genau das müssen wir ändern. Wir müssen als Gesellschaft den Überlebenden und Opfern zuhören, denn wir sind Hauptzeugen und keine Statisten.
Wie erreicht ihr die Menschen, die Opfer von rechter Gewalt werden?
Über unsere Arbeit an Schulen und über die Opferberatungsstellen – aber die Menschen melden sich auch einfach so bei uns. Wir sprechen dann erst mal mit ihnen und versuchen sie zu vernetzen und zu stärken. Meistens haben die Menschen Angst zur Polizei zu gehen und vertrauen den deutschen Institutionen nicht. Aber uns vertrauen sie, weil wir Ähnliches erlebt haben, was sie erleben. Wir geben ihnen einen sicheren Raum. Unsere Arbeit ist also sehr wichtig, für die Menschen, aber komplett ehrenamtlich.
Was braucht es jetzt, wo rechte Parteien nach der Macht greifen und sich vermehrt Menschen rassistisch äußern oder handeln?
Es ist ein bisschen schwierig, immer nur kurz vor einer Wahl darüber zu sprechen, denn wir machen unsere Arbeit gegen rechte Gewalt kontinuierlich seit Jahren. Aber wir können und wollen diese Arbeit nicht alleine machen. Wir müssen den gesellschaftlichen Perspektivwechsel langfristig herbeiführen. Deshalb brauchen wir auch viel mehr Betroffene, die in den Opferberatungsstellen arbeiten, und zwar nicht nur ehrenamtlich, sondern bezahlt. Wir brauchen Betroffene in Entscheidungspositionen und außerdem finanzielle Unterstützung der Arbeit von Betroffenen an den Schulen.
Die Stiftung PRO ASYL verlieh İbrahim Arslan den Menschenrechtspreis 2023, stellvertretend für die Arbeit des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.). Der Preis ging ebenfalls an Heike Kleffner und Sultana Sediqi.
Seit Jahren engagiert sich Arslan für das Empowerment von Betroffenen rassistischer Gewalt. Er arbeitet unter anderem im »Betroffenen- und Solidaritätsnetzwerk« (BeSoNet) und bringt als Bildungsreferent insbesondere an Schulen die Perspektive der Betroffenen ein. Mit der »Möllner Rede im Exil«, die er seit 2013 gemeinsam mit seiner Familie und dem Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 veranstaltet, etablierte er eine neue Gedenkkultur, die die Angehörigen und Überlebenden rassistischer und antisemitischer Anschläge in den Mittelpunkt stellt.
(nb)