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»Wer Georgien als sicher bezeichnet, delegitimiert unsere Kämpfe für die Demokratie«
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Friedlich Protestierende werden verprügelt und verhaftet, die Regierung rückt von der EU ab hin zu Russland, Abchasien-Konflikt und Ukraine-Krieg sorgen für massive Spannungen im Land: Das Leben in Georgien wird für viele Menschen immer brenzliger, dennoch gilt Georgien in Deutschland als »sicherer Herkunftsstaat«. Das muss geändert werden.
PRO ASYL hat mit Tamta Mikeladze, Leiterin des Social Justice Center in Tiflis, Georgien, über die Situation im Land gesprochen.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben. Könnten Sie uns einen Überblick über das aktuelle politische Klima in Georgien geben?
Das politische Klima in Georgien ist zunehmend angespannt. Es gibt eine klare Kluft zwischen dem rechtlichen Rahmen, der theoretisch Freiheiten garantiert, und den Handlungen der aktuellen Regierung, die zunehmend repressiver werden. Die Partei Georgischer Traum, die weiterhin an der Macht ist, verfolgt eine Politik, die zunehmend oppositionelle Stimmen unterdrückt. Aktivist*innen, Journalist*innen und selbst gewöhnliche Bürger*innen, die sich kritisch äußern, sind gezielt Zielscheiben von Einschüchterung, Drohungen und körperlicher Gewalt. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass Georgien nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich immer stärker unter Druck gerät. So viel zur Situation bis zum 28. November 2024.
Was passierte an diesem Tag?
Die jüngste verfassungswidrige Maßnahme der Regierungspartei Georgischer Traum, die massive Proteste ausgelöst hat, besteht in der klaren Abkehr von Georgiens europäischem Kurs. Premierminister Irakli Kobachidse kündigte am 28. November an, dass Georgien die EU-Beitrittsgespräche aussetzen wolle. Das wird von vielen georgischen Bürger*innen als bewusster Verzicht auf die europäische Integration und als eine Annäherung an Russland interpretiert. Dies ist ein fundamentaler Bruch mit Artikel 78 der georgischen Verfassung gesehen, der alle staatlichen Organe verpflichtet, die europäische Integration zu fördern. Seitdem versammeln sich täglich Tausende Menschen in Tiflis und anderen großen Städten und protestieren.
Wie gehen die Regierung und die Polizei gegen die Proteste vor?
Die Brutalität der Regierung und der Polizei gegen die friedlichen Proteste in Georgien hat erschreckende Ausmaße erreicht. Die Gewalt ist ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte des Landes, und fast jeder Ort und jede Familie sind betroffen. Die Protestierenden, darunter vor allem junge Menschen und Student*innen ohne politische Zugehörigkeit, werden verprügelt, gefoltert, inhaftiert und brutal verfolgt. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass in Georgien ein repressiver Autoritarismus installiert wird – das steht kurz bevor. Deshalb sind die Hauptforderungen der Protestierenden: die Freilassung der inhaftierten Personen und vorgezogene Neuwahlen.
Die Regierung setzt außerdem auf verschiedene Methoden, um oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Dazu gehören Drohanrufe, oft von anonymen Nummern, die sogar aus anderen Ländern kommen, insbesondere aus Russland. Diese Anrufe sind nicht nur beängstigend, sondern beinhalten auch konkrete Drohungen. Darüber hinaus werden Aktivist*innen, insbesondere Frauen, häufig Opfer von körperlicher Gewalt.
»Einige sind gezwungen, das Land zu verlassen, um sich und ihre Arbeit zu schützen. Das Exil wird zunehmend zur einzigen Möglichkeit, um als Aktivist*in weiterhin sicher und wirksam zu arbeiten.«
Wie reagieren die Aktivist*innen auf diese Bedrohungen?
Viele sehen sich mit enormem Druck konfrontiert, nicht nur auf sie selbst, sondern auch auf ihre Familien, besonders in ländlichen Gegenden, wo die Regierung familiäre Verbindungen ausnutzt, um Aktivist*innen zu erpressen. Einige sind gezwungen, das Land zu verlassen, um sich und ihre Arbeit zu schützen. Das Exil wird zunehmend zur einzigen Möglichkeit, um als Aktivist*in weiterhin sicher und wirksam zu arbeiten.
Wie ist die Gesellschaft insgesamt von diesen repressiven Maßnahmen betroffen?
Die Regierung schürt eine ständige Atmosphäre der Angst. In den Medien wird jede kritische Stimme unterdrückt, und die Bevölkerung wird indirekt dazu gedrängt, sich zurückzuziehen und Meinungen nicht öffentlich zu äußern. Ein weiteres Problem ist die zunehmende Anti-LGTBIQ*-Rhetorik der Regierung, um Kritiker*innen zu isolieren und als Feinde zu brandmarken. Diese Politik hat nicht nur Einfluss auf die Aktivist*innen, sondern auf die gesamte Gesellschaft, da ein Klima der Intoleranz und Angst entsteht.
Was passiert mit den Menschen, die aufgrund der Repression das Land verlassen müssen?
Viele Aktivist*innen, Journalist*innen und LGTBIQ*-Personen fliehen ins Ausland, um der Verfolgung zu entkommen. Gleichzeitig erleben Menschen, die aus Ländern wie Deutschland abgeschoben werden, eine brutale und traumatische Rückkehr. Diese Abgeschobenen werden bei ihrer Ankunft in Georgien häufig Opfer von Polizeigewalt. Leider gibt es nur begrenzte Unterstützung für diese Menschen, da sie oftmals in einem unsicheren Umfeld landen.
Wie kann die internationale Gemeinschaft den Menschen in Georgien helfen?
Die internationale Gemeinschaft muss stärker zusammenarbeiten, um Unterstützung zu bieten. Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Ressourcen bündeln und ihre Netzwerke erweitern, um gegen die Repressionen in Georgien und anderen Ländern in der Region vorzugehen. Aktivist*innen und Organisationen, die gegen staatliche Propaganda und für Menschenrechte arbeiten, brauchen finanzielle Hilfe, aber auch praktische Unterstützung, um ihre Arbeit fortzusetzen. Es muss ein stärkeres internationales Solidaritätsnetzwerk aufgebaut werden, das auf soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit setzt.
Und was könnte die EU tun?l
Sicherlich hilft es am allerwenigsten, wenn große EU-Länder wie Deutschland Georgien als »sicher« bezeichnen. Damit delegitimiert man unsere Kämpfe um Freiheit und Demokratie.
Die EU muss unbedingt verstehen, dass dies nicht nur ein Kampf zum Schutz unserer nationalen und europäischen Interessen ist, sondern auch ein Kampf gegen den Autoritarismus in Georgien und in der ganzen Region. Wir kämpfen für die Freiheit und die Zukunft unserer Bürger*innen. Wir haben das starke Gefühl, dass die Regierung in Georgien ein belarussisches Szenario anstrebt, und wir tun unser Möglichstes, um dies zu verhindern. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht rechtzeitig reagiert, könnte es bald zu spät sein.
Die Rolle Russlands ist in diesem Zusammenhang ebenfalls entscheidend. Wie sehen Sie die Rolle Russlands in Georgien?
Russland spielt eine extrem problematische Rolle in Georgien. Es unterstützt die georgische Regierung indirekt durch politische und wirtschaftliche Druckmittel gegen die Opposition. Russland nutzt auch die Situation in Georgien, um das Land politisch zu destabilisieren, um den eigenen Einfluss weiter auszubauen. Der autoritäre Staat Russland ist ein denkbar schlechtes Vorbild für eine freie Gesellschaft, doch die Regierung in Georgien scheint sich zunehmend daran zu orientieren, vor allem in ihrer Politik der Unterdrückung und Repression.
Russland hat auch direkten Einfluss auf die Konflikte in Georgien, insbesondere im Fall von Abchasien, das sich von Georgien losgesagt hat. Die russische Regierung hat Abchasien nicht nur politisch anerkannt, sondern unterstützt das Gebiet auch mit militärischer Präsenz. Das trägt zu einer dauerhaften Instabilität in Georgien bei und erschwert eine friedliche Lösung des Konflikts.
Der Abchasien-Konflikt ist nach wie vor ein zentraler Streitpunkt in Georgien. Wie wirkt sich dieser Konflikt auf die politische Situation aus?
Der Abchasien-Konflikt ist eine der schmerzhaftesten Fragen in Georgien und hat tiefgreifende Auswirkungen auf die politische Landschaft. Abchasien erklärte nach dem Bürgerkrieg in den frühen 1990er Jahren seine Unabhängigkeit von Georgien, was zu einem militärischen Konflikt führte, den Russland zugunsten der Abchas*innen unterstützte. International wird Abchasien als Teil Georgiens anerkannt, de facto wird es aber von Russland unterstützt und kontrolliert.
»Es ist zu erwarten, dass mehr Menschen wegen politischer Motive aus Georgien fliehen werden, Aktivist*innen, Journalist*innen und andere kritische Stimmen sehen sich einer zunehmenden Bedrohung ausgesetzt. «
Dieser ungelöste Konflikt sorgt für eine anhaltende politische Spannung. Russland stationiert militärische Truppen in Abchasien, was den Druck auf Georgien weiter erhöht. Für die georgische Bevölkerung und Regierung ist Abchasien ein äußerst emotionales und politisches Thema, das nicht nur das nationale Bewusstsein beeinflusst, sondern auch die geopolitische Ausrichtung des Landes. Das russische Engagement in Abchasien und auch in Südossetien (Anm. der Redaktion: eine weitere abtrünnige Region) destabilisiert nicht nur die Region, sondern hat auch Auswirkungen auf die Außenpolitik Georgiens, insbesondere in Bezug auf seine bisherigen Bestrebungen, sich der EU und NATO anzunähern. Diese wurden nun zu Gunsten der Beziehung mit Russland auf Eis gelegt.
Der Ukraine-Krieg hat globale Auswirkungen. Welche Rolle spielt dieser Krieg in der aktuellen Situation in Georgien?
Der Ukraine-Krieg hat die geopolitische Lage in Georgien stark beeinflusst. Zum einen hat er die wachsende Repression durch Russland verstärkt, da Russland seine Aggressionen gegenüber den Nachbarländern weiter intensiviert. Der Krieg hat auch den inneren Druck auf Georgien verstärkt, sich eindeutig zwischen Russland und dem Westen zu positionieren. Während die Mehrheit der georgischen Bevölkerung Sympathien für die Ukraine hegt, hat die georgische Regierung aus verschiedenen Gründen eine vorsichtige Haltung eingenommen, um sich nicht direkt mit Russland zu konfrontieren.
Der Krieg hat aber auch die georgische Gesellschaft weiter polarisiert. Auf der einen Seite gibt es eine klare Solidarität mit der Ukraine, aber auf der anderen Seite gibt es immer noch politisch und wirtschaftlich beeinflusste Gruppen, die enge Beziehungen zu Russland pflegen. Diese Spaltung hat dazu geführt, dass der Ukraine-Konflikt auch eine wichtige innenpolitische Dimension für Georgien angenommen hat, da viele Aktivist*innen und politische Gruppen klar gegen die russische Aggression sind, während die Regierung sich in einem Balanceakt befindet und sich immer mehr Richtung Russland bewegt.
Welche langfristigen Auswirkungen erwarten Sie durch die Situation in Georgien, den Abchasien-Konflikt und die geopolitischen Spannungen?
Es ist zu erwarten, dass mehr Menschen wegen politischer Motive aus Georgien fliehen werden, Aktivist*innen, Journalist*innen und andere kritische Stimmen sehen sich einer zunehmenden Bedrohung ausgesetzt. Wenn die Regierung weiterhin repressiv bleibt, wird Georgien ein Land werden, aus dem viele Menschen fliehen, um politisch aktiv bleiben zu können oder um nicht inhaftiert zu werden. Die geopolitischen Spannungen, verstärkt durch den Ukraine-Krieg, werden Georgien in eine noch schwierigere Lage bringen. Langfristig könnte dies auch zu einer weiteren Isolation des Landes führen, sowohl politisch als auch wirtschaftlich.
Was sollte Ihrer Meinung nach getan werden, um das zu verhindern?
Es ist entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft Georgien weiterhin unterstützt, sowohl politisch als auch praktisch. Internationale Solidarität ist jetzt wichtiger denn je. Nichtregierungsorganisationen und andere Organisationen sollten ihre Zusammenarbeit verstärken und gemeinsam gegen die Repression und die Einflüsse aus Russland ankämpfen. Gleichzeitig muss die georgische Gesellschaft ihre eigenen demokratischen Strukturen stärken, um auf den Druck von innen und außen zu reagieren. Es braucht eine langfristige Strategie für politische und gesellschaftliche Transformation, die auf Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und Frieden basiert.
PRO ASYL fordert die aktuelle und künftige Bundesregierung auf, Georgien von der Liste der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten zu streichen und langfristig komplett auf das Instrument der »sicheren Herkunftsstaaten« zu verzichten. Allein am Beispiel Georgiens wird die Absurdität dieses Konzepts deutlich, denn politische Situationen verändern sich kontinuierlich und für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen völlig heterogen. Mehr Informationen dazu gibt es in der Stellungnahme von PRO ASYL zum Entwurf eines Gesetzes zur Bestimmung Georgiens und der Republik Moldau als sichere Herkunftsstaaten von 2023.
Das Interview wurde von PRO ASYL auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt.
(nb)