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Weisung des Auswärtigen Amtes zum Familiennachzug: Die meisten Härtefälle werden ignoriert

Auf die Kritik an der zweijährigen Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten wurde auf Ausnahmen für Härtefälle hingewiesen. Die von FragDenStaat veröffentlichte Weisung des Auswärtigen Amtes zeigt aber: Die Kriterien sind unüberwindbar hoch. Zweifel, ob das verfassungs- und menschenrechtskonform ist, erhalten neue Nahrung.
Seit dem 24. Juli 2025 ist der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten für zwei Jahre ausgesetzt. PRO ASYL und viele andere Organisationen kritisierten die Aussetzung scharf, weil sie das im Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention verbriefte Recht auf Familie verletzen. Dieser Kritik hielten die Befürworter des Gesetzes entgegen, dass die Möglichkeit einer humanitären Aufnahme aus dem Ausland gemäß den Paragrafen 22 oder 23 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bleibt.
Verweis auf Härtefallregelung: Ein Feigenblatt
Da es keine neuen Aufnahmeprogramme (wie sie Paragraf 23 AufenthG ermöglicht) geben wird und die Bundesregierung alles daransetzt, die noch bestehenden zu beenden, kommt derzeit einzig der Aufnahme aus dem Ausland Bedeutung zu. In Paragraf 22 Satz 1 AufenthG heißt es: »Einem Ausländer kann für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.«
Die nun von der Anfrageplattform FragDenStaat veröffentlichte Weisung des Auswärtigen Amtes zum Umgang mit den Härtefällen nach Paragraf 22 AufenthG zeigt, was von vielen Expert*innen befürchtet worden war. Bei dem Verweis auf Paragraf 22 AufenthG handelt es sich um ein Feigenblatt, das überhaupt nicht geeignet ist, die verfassungs- und menschenrechtlichen Bedenken auszuräumen: Das neue Gesetz und die dazugehörige Weisung des Auswärtigen Amts machen den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten selbst bei dramatischen Härtefällen nahezu unmöglich. Die angelegten Kriterien sind derart restriktiv, formalistisch und lebensfremd, dass die Behörden in vielen, auch sehr dramatischen, Härtefällen die Anträge ablehnen werden. Die Folge ist, dass selbst lang getrennte Familien und Menschen in schwerer persönlicher Not trotz der sogenannten Härtefallregelung kaum Aussicht auf ein Visum nach Paragraf 22 AufenthG haben.
Die Härtefallanzeige bei Internationalen Organisation für Migration IOM
Die von der Aussetzung betroffenen Familien sind verzweifelt. Viele von ihnen haben sich bereits vor weit über einem Jahr auf der zentralen Warteliste für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigte registriert, aber vor der Aussetzung keinen Termin zur Antragstellung bei der deutschen Auslandsvertretung erhalten. Andere haben das Verfahren schon komplett durchlaufen, aber noch keinen Termin zur Visumsabholung erhalten. Für sie alle gilt laut Informationen des Auswärtigen Amtes: Die Anträge sollen in ihrem aktuellen Verfahrensstand eingefroren werden. Wenn die Aussetzung in zwei Jahren endet, werden sie weiterbearbeitet. Doch nur, wenn der Familiennachzug dann nicht weiter ausgesetzt oder eingeschränkt wird – was die Bundesregierung sich vorbehalten hat. Anders als bei der Aussetzung von 2016 bis 2018 gibt es keine Übergangsregelung. Das hat rechtliche Fragen bezüglich des Rückwirkungsverbotes aufgeworfen, die in Gerichtsverfahren vorgebracht werden müssen.
Die verzweifelten Familien legten deshalb all ihre Hoffnungen in eine sogenannte Härtefallanzeige. Das Auswärtige Amt hatte dazu Ende Juli Informationen und eine Mailadresse der Internationalen Organisation für Migration (IOM) veröffentlicht (info.fap.hardship@iom.int), an die betroffene Familien seitdem ihre persönlichen Daten und eine »Begründung, warum es sich um einen singulären Einzelfall handelt«, schicken können. Viele Familien haben das getan, viele weitere bereiten dies gerade vor.
In der Protokollerklärung der Regierungsfraktionen zum Gesetz wurde angekündigt: »Um die Härtefallregelung gemäß § 22 Aufenthaltsgesetz transparent zu gestalten, müssen die Zuständigkeiten und das Antragsformat inklusive des Rechtschutzes gegen ablehnende Entscheidungen klar definiert sein. Informationen zum Verfahren nach § 22 AufenthG müssen zugänglich sein.« Trotzdem sind alle Fragen rund um das Verfahren bisher ungeklärt: Gelten die Härtefallanzeigen bei IOM als Antrag auf Paragraf 22 AufenthG? Werden sie allesamt an die Auslandsvertretungen oder das Auswärtige Amt weitergeleitet? Gibt es darüber eine Information? In welcher Form ergeht eine Ablehnung, und welche Rechtsmittel können eingelegt werden?
Die nun von Frag den Staat veröffentlichte Weisung des Auswärtigen Amtes zur inhaltlichen Bewertung von Härtefallanzeigen nach Paragraf 22 AufenthG macht jedoch sämtliche Hoffnung zunichte: Die Maßstäbe, die das Auswärtige Amt bei der Ermessensausübung anlegt, sind noch viel höher als befürchtet. Schon zu Beginn der Weisung wird klargestellt, dass die Härtefallregel eine absolute Ausnahme darstellt.
Unterschieden wird in der Weisung zwischen der Bewertung der Dauer der Trennung und besonderen persönlichen Umständen.
Dauer der Trennung von der Familie
Laut Weisung ist ein dringender humanitärer Grund wegen der Dauer der Trennung erst anzunehmen, wenn die Familie schon seit zehn Jahren getrennt ist (gerechnet ab der Asylantragstellung). Wenn ein Kleinkind betroffen ist, sollen es mindestens fünf Jahre sein. Ausdrücklich wird trotz dieser absurd hohen Trennungszeiten zudem erwähnt, dass Verzögerungen, die den Familien vorgeworfen werden können, abgezogen werden.
An dieser Stelle findet keinerlei Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung statt, und auch auf das Kindeswohl wird mit keinem Wort eingegangen. Gerade die Frage der völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus diesen Verträgen ergeben, sind für die Auslegung von Paragraf 22 AufenthG an dieser Stelle aber relevant und müssen in die Bewertung einfließen.
Für die Vereinbarkeit mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention gilt bislang: Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 9. Juli 2021 (M.A. v. Denmark, Az. 6697/18) darf der Ausschluss des Familiennachzugs bei subsidiär Schutzberechtigten nicht länger als zwei Jahre dauern. Danach ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Die Schwelle einer Mindesttrennungsdauer von zehn Jahren, wie sie das Auswärtige Amt für einen »dringenden Grund« aufstellt, ist damit offensichtlich nicht in Einklang zu bringen.
Besondere persönliche Umstände
In einer zweiten Fallgruppe sollen »klassische Härtefälle« berücksichtigt werden. Dafür müssen mehrere extrem hohe Bedingungen erfüllt sein: Die betroffene Person befindet sich in einer »auf ihre
Person bezogene Sondersituation«, die sich »deutlich von der Lage vergleichbarer ausländischer Personen« unterscheidet. Ein allgemeines Schicksal wie ein Erdbeben, das viele Menschen trifft, wird explizit ausgeschlossen.
Hier zeigen sich die fatalen Folgen der äußerst restriktiven Anwendungspraxis, die die Juristinnen Rhea Kummer und Greta Wessing in einem Beitrag Ende März 2025 schon befürchtet hatten. Sie kritisierten, dass die Notlage »im Verhältnis zu sämtlichen Einreisebegehren bewertet werden« muss, da dies »humanitäre Notlagen systematisch unsichtbar« macht und zudem den grundgesetzlichen Schutz der Familie unterläuft.
Außerdem verlangt das Auswärtige Amt einen Bezug zu Deutschland. Das ist normalerweise gegeben, wenn Familienmitglieder der Kernfamilie in Deutschland leben. Explizit kein Härtefall liegt demnach aber vor, wenn die Familie auch in einem Drittstaat zusammenleben könnte. Auch muss ein dringender Handlungsbedarf nachgewiesen werden und klar sein, dass eine schnelle Einreise nach Deutschland notwendig ist.
Ein solcher Härtefall ist laut Auswärtigem Amt beispielsweise eine »schwere nur im Bundesgebiet zu behandelnde Krankheit« (nachgewiesen durch ein ärztliches Gutachten), »eine dringende Gefahr für Leib und Leben« oder der »in Kürze bevorstehende Tod« oder vergleichbar schwerwiegende Gründe. Selbst wenn Kinder unbegleitet, also ohne ein Elternteil, im Ausland leben, müssen laut Auswärtigem Amt noch weitere Faktoren (wie etwa Gefahr für Leib und Leben oder geringes Alter) erschwerend hinzukommen, wenn die oben genannten Trennungszeiten noch nicht erfüllt sind.
Ermessensspielraum zuungunsten der Familien
In der Ermessensausübung des Auswärtigen Amtes sollen darüber hinaus weitere Faktoren berücksichtigt werden.
Bei einer Person, die schon seit über fünf Jahren in Deutschland ist und bald eine Niederlassungserlaubnis bekommen könnte, wird angenommen, sie hätte durch eigene Integrationsleistungen selbst einen Anspruch auf Familiennachzug schaffen können. Deshalb soll hier ein Härtefall meistens abgelehnt werden. Vor allem im Zusammenhang mit den geforderten Trennungszeiten ist selbst theoretisch kaum eine Fallkonstellation denkbar, in denen diese Voraussetzungen erfüllt werden können.
Obwohl die Hürden ohnehin kaum zu überwinden sind, werden noch weitere Faktoren genannt, die dazu führen, dass der Ermessensspielraum grundsätzlich zuungunsten der Familien ausgelegt werden soll: Die Möglichkeit, dass die Familieneinheit im Drittstaat hergestellt werden kann, das Eintreten der Volljährigkeit im Kinder- oder Elternnachzug und eine Unterstellung, dass die Trennung absichtlich erfolgte.
Für ein weites Verständnis von Paragraf 22 AufenthG
Von Vornherein wurde von Expert*innen kritisiert, dass Paragraf 22 AufenthG aufgrund der bisherigen äußerst restriktiven Rechtsprechungs- und Anwendungspraxis keine angemessene Auffangnorm darstellt (siehe insbesondere die Stellungnahme von International Reguee Assistance Projec IRAP). Um dieses Problem abzumildern, wurde etwa vom Paritätischen Gesamtverband vorgeschlagen, das Gesetz so zu formulieren, dass in Fällen einer besonderen Härte ein Visum erteilt wird. Diese Härte würde vorliegen, wenn die Familie seit mehr als zwei Jahren getrennt ist, ein minderjähriges Kind betroffen ist, Leib, Leben oder Freiheit gefährdet sind oder ein Familienmitglied schwerwiegend erkrankt ist. Doch auch dieser Vorschlag wurde nicht ins Gesetz aufgenommen.
Damit das Gesetz aber verfassungs- und menschenrechtskonform ist, muss es eine wirksame Auffangnorm für Härtefälle geben. Dieses heikle Spiel mit den Menschenrechten war auch dem Gesetzgeber bewusst. In der Gesetzesbegründung heißt es: »Durch eine Regelung, die den Nachzug ab Inkrafttreten dieses Gesetzes für zwei Jahre aussetzt und gleichzeitig klarstellt, dass eine Familienzusammenführung in Härtefällen weiterhin möglich ist, wird den verfassungs‑, völker- und europarechtlichen Vorgaben Rechnung getragen.«
Auch die Sachverständigen haben die Absicht so verstanden. Dr. Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht, spricht in seiner Stellungnahme gar von einem »Härtefallnachzug nach §§ 22f. AufenthG«. Die Anwendungspraxis von Paragraf 22 AufenthG ist elementar: »Mit Blick auf die Verfassungs- und Völkerrechtskonformität der anvisierten Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten dürfte es (…) maßgeblich darauf ankommen, ob es auf Grundlage des (…) § 22 AufenthG gelingt, den etwaigen Härtefällen auch jeweils angemessen gerecht zu werden«, schreibt Richter Franke in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf. Die aktuelle Weisung des Auswärtigen Amtes lässt daran große Zweifel aufkommen.
Für PRO ASYL ist klar: Auch wenn Paragraf 22 AufenthG nach der bisherigen Rechtsprechung und Praxis keine Auffangnorm für Familiennachzug darstellt, muss er im Zusammenhang mit der Aussetzung des Familiennachzugs nun zu einer solchen werden, wenn den verfassungs‑, völker- und europarechtlichen Vorgaben zumindest halbwegs Rechnung getragen werden soll. Dafür ist ein weiteres Verständnis von Paragraf 22 AufenthG geboten – und damit ein ganz anderes Verständnis als vom Auswärtigen Amt kolportiert
Zweifel an der Verfassungs- und Völkerrechtskonformität
Das traurige Fazit lautet: Das neue Gesetz und die dazugehörige Weisung des Auswärtigen Amts machen den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte nahezu unmöglich. Die in der Ermessensausübung angelegten Kriterien sind derart restriktiv, formalistisch und lebensfremd, dass die Behörden in vielen auch sehr dramatischen Härtefällen Anträge ablehnen werden. Die Folge ist, dass selbst lang getrennte Familien oder Fälle schwerer persönlicher Not in der Praxis kaum Aussicht auf ein Visum haben
Die Weisung ermöglicht den Nachzug in Härtefällen nicht, sondern ist ein systematisches Abschottungsinstrument, das humanitäre Grundsätze und Familienrechte untergräbt. Statt Integration zu fördern, verschärft die Regelung soziale und psychische Belastungen, widerspricht dem Schutz von Ehe und Familie nach Grundgesetz und Menschenrechtskonvention und konterkariert den eigentlichen Zweck einer Härtefallregelung. Was von Expert*innen befürchtet worden war, ist eingetreten: Der Verweis auf Ausnahmen von der Aussetzung war ein Feigenblatt.
(jb, nb, pva, wr)