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UN rügt Deutschland: Gegen soziale Menschenrechte verstoßen
Erstmals hat der UN-Sozialausschuss Deutschland wegen der Verletzung sozialer Menschenrechte gerügt. Einem jungen Geflüchteten waren im Thüringer Ilm-Kreis Unterkunft und Nahrung entzogen worden. Daraus wird deutlich: Menschenrechte gelten für alle, auch für Menschen, die im Dublin-Verfahren stecken.
Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat Deutschland aufgefordert, einen 20-jährigen syrischen Geflüchteten im Dublin-Verfahren wieder unterzubringen und mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Es ist das erste Mal, dass der UN-Sozialausschuss Deutschland wegen eines Verstoßes gegen den UN-Sozialpakt rügt. Bei der Entscheidung des UN-Sozialausschusses vom 17. Oktober 2025 handelt es sich um eine vorläufige Anordnung (interim measure). Wenn das Verfahren abschließend entschieden wird, geht es neben der Frage der Menschenrechtsverletzung auch um etwaigen Schadensersatz für den Betroffenen.
Behörden setzten Geflüchteten auf die Straße
Der junge Mann war im Sommer 2024 nach Deutschland geflohen, wo Verwandte von ihm leben. Das Bundesamt lehnte die Durchführung seines Asylverfahrens ab, da Malta nach der Dublin-Verordnung zuständig sei. Im Dezember 2024 entzog das Landratsamt im Ilm-Kreis ihm Unterkunft, Sozialleistungen, auch die Gesundheitskarte musste er abgeben. Seitdem hatte er keinen geregelten Zugang zu Unterkunft, Nahrung, Kleidung und medizinischer Versorgung. Er überlebte nur durch Hilfe von Freund*innen und Freiwilligen.
Die gesetzliche Grundlage für den Leistungsentzug schuf die Ampel-Bundesregierung 2024 im Eiltempo mit dem sogenannten Sicherheitspaket – obwohl Expert*innen vor einem EU-Rechts- und Verfassungsbruch warnten. Die Regelung trat Ende Oktober 2024 in Kraft. Seither entzieht Paragraf 1 Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetz Geflüchteten im Dublin-Verfahren das Recht, Sozialleistungen zu bekommen. Lediglich während einer 14-tägigen Übergangsfrist und in besonderen Härtefällen soll ein rudimentärer Teil der Leistungen weiter gewährt werden können.
Der Fall des 20-Jährigen steht exemplarisch dafür, wie versucht wird, die Leistungsstreichungen gegenüber Geflüchteten durchzusetzen.
Der Fall des 20-Jährigen steht exemplarisch dafür, wie versucht wird, die Leistungsstreichungen gegenüber Geflüchteten durchzusetzen. Der Umgang damit ist bundesweit unterschiedlich: Ein Teil der Behörden stellt noch Unterkunft und Fertigessen, andere verweigern die Leistungen ganz, sodass die Betroffenen sogar obdachlos werden. Im Februar 2025 hat PRO ASYL über eine kranke Frau berichtet, die bei Minustemperaturen von der Sozialbehörde einer Stadt in Baden-Württemberg auf die Straße gesetzt worden war. In Thüringen handeln einige Behörden besonders restriktiv, sogar gegenüber Kindern.
Gerichte: Leistungsentzug verstößt gegen EU- und Verfassungsrecht
Inzwischen haben deutschlandweit Gerichte in über 60 Fällen in Eilverfahren den Leistungsausschluss gestoppt, darunter das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen und das Hessische Landessozialgericht. Den Entscheidungen liegt vielfach die Einschätzung zugrunde, dass der Leistungsentzug europarechts- und/oder sogar verfassungswidrig ist, wie beispielsweise das Sozialgericht Karlsruhe ausführlich darstellt. Darüber hinaus weisen Gerichte darauf hin, dass Behörden verpflichtet sind, verfassungswidrige Regelungen nicht anzuwenden.
Auch das Land Rheinland-Pfalz sieht mit Blick auf Europarecht und die deutsche Verfassung keine rechtliche Handhabe für einen vollständigen Leistungsentzug. Selbst eine Kürzung der Leistungen ist nach Auffassung vieler Expert*innen nach EU-Recht unzulässig, das Bundessozialgerichts hat dazu ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gestellt (siehe Beschluss vom 25.07.2024, B 8 AY 6/23 E, sowie Plädoyer des Generalanwalts vom 23. Oktober 2025).
Im Fall des jungen Geflüchteten im Ilm-Kreis hatten sowohl das Sozialgericht Gotha als auch das Thüringer Landessozialgericht (LSG) die Eilanträge gegen den Leistungsausschluss zurückgewiesen – zwei überraschende Ausreißer. Das LSG Thüringen sieht keinen Widerspruch zum EU- oder zum Verfassungsrecht. Es hat sich aber mit dieser Frage kaum oder gar nicht auseinandergesetzt, analysierte Fachanwalt Volker Gerloff im Asylmagazin 9/2025.
Das vom Betroffenen angerufene Bundesverfassungsgericht entschied den Rechtsstreit nicht inhaltlich, sondern verwies auf das vorrangige aufenthaltsrechtliche Verfahren am Verwaltungsgericht, was allerdings scheiterte. Unterstützt von seinem Anwalt und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) wandte sich der Betroffene schließlich mit einer Beschwerde an den UN-Sozialausschuss.
Freiwillige Ausreise möglich?
Der Gesetzgeber begründet den Leistungsentzug 2024 damit, dass die Betroffenen »freiwillig« in den zuständigen Staat ausreisen könnten. Die gesamte Asylpolitik der damaligen Ampel-Regierung sowie der Länder stand 2023/24 unter dem vorrangigen Ziel der Abschreckung: der Reduzierung der Zahl der Schutzsuchenden durch restriktive Maßnahmen (siehe zum Beispiel Bund-Länder-Vereinbarung vom 6. November 2023). So verhält es sich auch hier: Offenkundig sollen die Betroffenen durch den Entzug von Obdach und Essen zur Ausreise – oder auch in die Illegalität gedrängt – werden.
Im konkreten Fall hatte die Behörde nicht geprüft, ob es dem Betroffenen tatsächlich möglich war, nach Malta auszureisen. Die EU-Dublin-Verordnung sieht eine freiwillige, nicht kontrollierte Ausreise zudem gerade nicht vor, sondern verlangt ein förmliches, zwischen unterschiedlichen Stellen der Staaten abgestimmtes Überstellungsprozedere (siehe dazu beispielsweise BT-Drs. 21/417). Die Bundesregierung behauptet gleichwohl etwa in der Begründung zum Entwurf des GEAS-Anpassungsgesetzes, freiwillige Ausreisen seien zumeist »in der Regel möglich« und würden »inzwischen regelmäßig umgesetzt«. Dafür fehlen aber überzeugende Hinweise aus der Praxis.
Elend, Gewalt und Angst in europäischen Ländern
Gleichzeitig arbeitet die Regierung daran, die formalen Hürden für den Leistungsentzug zu senken. Der Regierungsentwurf für das GEAS-Anpassungsgesetz sieht quasi einen automatischen Leistungsentzug vor, sobald das BAMF mit dem Dublin-Bescheid zusammen auch eine Abschiebungsanordnung erlässt. Die laut Gesetz bisher notwendige Feststellung des Bundesamts, dass die »Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich« ist, soll entfallen.
Allen sollte bewusst sein: Sobald Menschenrechte nicht mehr für alle gelten, sind sie für alle in Gefahr.
Weitgehend ignoriert wird dabei, dass viele Geflüchtete in den zuständigen Staaten schlimme Erfahrungen machen mussten. Viele sind erschöpft, nicht selten traumatisiert durch miserable Lebensbedingungen, Obdachlosigkeit, massive Ausgrenzung, Rassismus oder sogar Polizeigewalt. Deshalb haben viele geflüchtete Menschen nachvollziehbar große Angst, in EU-Staaten wie Bulgarien, Kroatien, Griechenland oder Italien zurückzukehren. Statt die Würde eines jeden Menschen und die Grundrechte zu verteidigen, schickt Deutschland sich nun an, es diesen Staaten in ihrer Verantwortungslosigkeit gleichzutun, indem Schutzbedürftige aus der staatlichen Verantwortung einfach herausdefiniert, bewusst unter Druck gesetzt und in die existenzielle Not geschickt werden.
Menschenrechte gelten für alle
Der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, kurz auch UN-Sozialpakt, ist eines der beiden großen Menschenrechtsabkommen. Er garantiert das Recht auf Wohnen, Nahrung, Gesundheit und soziale Sicherheit. Diese Rechte gelten ohne Diskriminierung – auch für Geflüchtete.
Der Sozialpakt wurde zusammen mit dem Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und von Deutschland 1973 ratifiziert. Seit 2023 sind hierzulande individuelle Beschwerdeverfahren möglich. Anlässlich der Entscheidung des UN-Sozialausschusses fordern PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Thüringen, dass die Behörden bundesweit Leistungsstreichungen für Geflüchtete umgehend beenden und die Bundesregierung die Leistungsstreichung sowie alle Kürzungen am Existenzminimum gesetzlich abschafft. Allen sollte bewusst sein: Sobald Menschenrechte nicht mehr für alle gelten, sind sie für alle in Gefahr.
(ak)