31.10.2025
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Die Flagge der Vereinten Nationen vor dem Reichstag. Der UN-Sozialausschuss hat Deutschland nun gerügt. picture alliance / Thomas Koehler/photothek.de | Thomas Koehler

Erstmals hat der UN-Sozialausschuss Deutschland wegen der Verletzung sozialer Menschenrechte gerügt. Einem jungen Geflüchteten waren im Thüringer Ilm-Kreis Unterkunft und Nahrung entzogen worden. Daraus wird deutlich: Menschenrechte gelten für alle, auch für Menschen, die im Dublin-Verfahren stecken.

Der UN-Aus­schuss für wirt­schaft­li­che, sozia­le und kul­tu­rel­le Rech­te hat Deutsch­land auf­ge­for­dert, einen 20-jäh­ri­gen syri­schen Geflüch­te­ten im Dub­lin-Ver­fah­ren wie­der unter­zu­brin­gen und mit dem Lebens­not­wen­di­gen zu ver­sor­gen. Es ist das ers­te Mal, dass der UN-Sozi­al­aus­schuss Deutsch­land wegen eines Ver­sto­ßes gegen den UN-Sozi­al­pakt rügt. Bei der Ent­schei­dung des UN-Sozi­al­aus­schus­ses vom 17. Okto­ber 2025 han­delt es sich um eine vor­läu­fi­ge Anord­nung (inte­rim mea­su­re). Wenn das Ver­fah­ren abschlie­ßend ent­schie­den wird, geht es neben der Fra­ge der Men­schen­rechts­ver­let­zung auch um etwa­igen Scha­dens­er­satz für den Betroffenen.

Behörden setzten Geflüchteten auf die Straße

Der jun­ge Mann war im Som­mer 2024 nach Deutsch­land geflo­hen, wo Ver­wand­te von ihm leben. Das Bun­des­amt lehn­te die Durch­füh­rung sei­nes Asyl­ver­fah­rens ab, da Mal­ta nach der Dub­lin-Ver­ord­nung zustän­dig sei. Im Dezem­ber 2024 ent­zog das Land­rats­amt im Ilm-Kreis ihm Unter­kunft, Sozi­al­leis­tun­gen, auch die Gesund­heits­kar­te muss­te er abge­ben. Seit­dem hat­te er kei­nen gere­gel­ten Zugang zu Unter­kunft, Nah­rung, Klei­dung und medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung. Er über­leb­te nur durch Hil­fe von Freund*innen und Freiwilligen.

Die gesetz­li­che Grund­la­ge für den Leis­tungs­ent­zug schuf die Ampel-Bun­des­re­gie­rung 2024 im Eil­tem­po mit dem soge­nann­ten Sicher­heits­pa­ket – obwohl Expert*innen vor einem EU-Rechts- und Ver­fas­sungs­bruch warn­ten. Die Rege­lung trat Ende Okto­ber 2024 in Kraft. Seit­her ent­zieht Para­graf 1 Abs. 4 Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz Geflüch­te­ten im Dub­lin-Ver­fah­ren das Recht, Sozi­al­leis­tun­gen zu bekom­men. Ledig­lich wäh­rend einer 14-tägi­gen Über­gangs­frist und in beson­de­ren Här­te­fäl­len soll ein rudi­men­tä­rer Teil der Leis­tun­gen wei­ter gewährt wer­den können.

Der Fall des 20-Jäh­ri­gen steht exem­pla­risch dafür, wie ver­sucht wird, die Leis­tungs­strei­chun­gen gegen­über Geflüch­te­ten durchzusetzen.

Der Fall des 20-Jäh­ri­gen steht exem­pla­risch dafür, wie ver­sucht wird, die Leis­tungs­strei­chun­gen gegen­über Geflüch­te­ten durch­zu­set­zen. Der Umgang damit ist bun­des­weit unter­schied­lich: Ein Teil der Behör­den stellt noch Unter­kunft und Fer­tig­es­sen, ande­re ver­wei­gern die Leis­tun­gen ganz, sodass die Betrof­fe­nen sogar obdach­los wer­den. Im Febru­ar 2025 hat PRO ASYL über eine kran­ke Frau berich­tet, die bei Minus­tem­pe­ra­tu­ren von der Sozi­al­be­hör­de einer Stadt in Baden-Würt­tem­berg auf die Stra­ße gesetzt wor­den war. In Thü­rin­gen han­deln eini­ge Behör­den beson­ders restrik­tiv, sogar gegen­über Kindern.

Gerichte: Leistungsentzug verstößt gegen EU- und Verfassungsrecht

Inzwi­schen haben deutsch­land­weit Gerich­te in über 60 Fäl­len in Eil­ver­fah­ren den Leis­tungs­aus­schluss gestoppt, dar­un­ter das Lan­des­so­zi­al­ge­richt Nie­der­sach­sen-Bre­men und das Hes­si­sche Lan­des­so­zi­al­ge­richt. Den Ent­schei­dun­gen liegt viel­fach die Ein­schät­zung zugrun­de, dass der Leis­tungs­ent­zug euro­pa­rechts- und/oder sogar ver­fas­sungs­wid­rig ist, wie bei­spiels­wei­se das Sozi­al­ge­richt Karls­ru­he aus­führ­lich dar­stellt. Dar­über hin­aus wei­sen Gerich­te dar­auf hin, dass Behör­den ver­pflich­tet sind, ver­fas­sungs­wid­ri­ge Rege­lun­gen nicht anzuwenden.

Auch das Land Rhein­land-Pfalz sieht mit Blick auf Euro­pa­recht und die deut­sche Ver­fas­sung kei­ne recht­li­che Hand­ha­be für einen voll­stän­di­gen Leis­tungs­ent­zug. Selbst eine Kür­zung der Leis­tun­gen ist nach Auf­fas­sung vie­ler Expert*innen nach EU-Recht unzu­läs­sig, das Bun­des­so­zi­al­ge­richts hat dazu ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen an den EuGH gestellt (sie­he Beschluss vom 25.07.2024, B 8 AY 6/23 E, sowie Plä­doy­er des Gene­ral­an­walts vom 23. Okto­ber 2025).

Im Fall des jun­gen Geflüch­te­ten im Ilm-Kreis hat­ten sowohl das Sozi­al­ge­richt Gotha als auch das Thü­rin­ger Lan­des­so­zi­al­ge­richt (LSG) die Eil­an­trä­ge gegen den Leis­tungs­aus­schluss zurück­ge­wie­sen – zwei über­ra­schen­de Aus­rei­ßer. Das LSG Thü­rin­gen sieht kei­nen Wider­spruch zum EU- oder zum Ver­fas­sungs­recht. Es hat sich aber mit die­ser Fra­ge kaum oder gar nicht aus­ein­an­der­ge­setzt, ana­ly­sier­te Fach­an­walt Vol­ker Gerl­off im Asyl­ma­ga­zin 9/2025.

Das vom Betrof­fe­nen ange­ru­fe­ne Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ent­schied den Rechts­streit nicht inhalt­lich, son­dern ver­wies auf das vor­ran­gi­ge auf­ent­halts­recht­li­che Ver­fah­ren am Ver­wal­tungs­ge­richt, was aller­dings schei­ter­te. Unter­stützt von sei­nem Anwalt und der Gesell­schaft für Frei­heits­rech­te (GFF) wand­te sich der Betrof­fe­ne schließ­lich mit einer Beschwer­de an den UN-Sozialausschuss.

Freiwillige Ausreise möglich?

Der Gesetz­ge­ber begrün­det den Leis­tungs­ent­zug 2024 damit, dass die Betrof­fe­nen »frei­wil­lig« in den zustän­di­gen Staat aus­rei­sen könn­ten. Die gesam­te Asyl­po­li­tik der dama­li­gen Ampel-Regie­rung sowie der Län­der stand 2023/24 unter dem vor­ran­gi­gen Ziel der Abschre­ckung: der Redu­zie­rung der Zahl der Schutz­su­chen­den durch restrik­ti­ve Maß­nah­men (sie­he zum Bei­spiel Bund-Län­der-Ver­ein­ba­rung vom 6. Novem­ber 2023). So ver­hält es sich auch hier: Offen­kun­dig sol­len die Betrof­fe­nen durch den Ent­zug von Obdach und Essen zur Aus­rei­se – oder auch in die Ille­ga­li­tät gedrängt – werden.

Im kon­kre­ten Fall hat­te die Behör­de nicht geprüft, ob es dem Betrof­fe­nen tat­säch­lich mög­lich war, nach Mal­ta aus­zu­rei­sen. Die EU-Dub­lin-Ver­ord­nung sieht eine frei­wil­li­ge, nicht kon­trol­lier­te Aus­rei­se zudem gera­de nicht vor, son­dern ver­langt ein förm­li­ches, zwi­schen unter­schied­li­chen Stel­len der Staa­ten abge­stimm­tes Über­stel­lungs­pro­ze­de­re (sie­he dazu bei­spiels­wei­se BT-Drs. 21/417). Die Bun­des­re­gie­rung behaup­tet gleich­wohl etwa in der Begrün­dung zum Ent­wurf des GEAS-Anpas­sungs­ge­set­zes, frei­wil­li­ge Aus­rei­sen sei­en zumeist »in der Regel mög­lich« und wür­den »inzwi­schen regel­mä­ßig umge­setzt«. Dafür feh­len aber über­zeu­gen­de Hin­wei­se aus der Praxis.

Elend, Gewalt und Angst in europäischen Ländern

Gleich­zei­tig arbei­tet die Regie­rung dar­an, die for­ma­len Hür­den für den Leis­tungs­ent­zug zu sen­ken. Der Regie­rungs­ent­wurf für das GEAS-Anpas­sungs­ge­setz sieht qua­si einen auto­ma­ti­schen Leis­tungs­ent­zug vor, sobald das BAMF mit dem Dub­lin-Bescheid zusam­men auch eine Abschie­bungs­an­ord­nung erlässt. Die laut Gesetz bis­her not­wen­di­ge Fest­stel­lung des Bun­des­amts, dass die »Aus­rei­se recht­lich und tat­säch­lich mög­lich« ist, soll entfallen.

Allen soll­te bewusst sein: Sobald Men­schen­rech­te nicht mehr für alle gel­ten, sind sie für alle in Gefahr.

Weit­ge­hend igno­riert wird dabei, dass vie­le Geflüch­te­te in den zustän­di­gen Staa­ten schlim­me Erfah­run­gen machen muss­ten. Vie­le sind erschöpft, nicht sel­ten trau­ma­ti­siert durch mise­ra­ble Lebens­be­din­gun­gen, Obdach­lo­sig­keit, mas­si­ve Aus­gren­zung, Ras­sis­mus oder sogar Poli­zei­ge­walt. Des­halb haben vie­le geflüch­te­te Men­schen nach­voll­zieh­bar gro­ße Angst, in EU-Staa­ten wie Bul­ga­ri­en, Kroa­ti­en, Grie­chen­land oder Ita­li­en zurück­zu­keh­ren. Statt die Wür­de eines jeden Men­schen und die Grund­rech­te zu ver­tei­di­gen, schickt Deutsch­land sich nun an, es die­sen Staa­ten in ihrer Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit gleich­zu­tun, indem Schutz­be­dürf­ti­ge aus der staat­li­chen Ver­ant­wor­tung ein­fach her­aus­de­fi­niert, bewusst unter Druck gesetzt und in die exis­ten­zi­el­le Not geschickt werden.

Menschenrechte gelten für alle

Der Inter­na­tio­na­le Pakt für wirt­schaft­li­che, sozia­le und kul­tu­rel­le Rech­te, kurz auch UN-Sozi­al­­pakt, ist eines der bei­den gro­ßen Men­schen­rechts­ab­kom­men. Er garan­tiert das Recht auf Woh­nen, Nah­rung, Gesund­heit und sozia­le Sicher­heit. Die­se Rech­te gel­ten ohne Dis­kri­mi­nie­rung – auch für Geflüchtete.

Der Sozi­al­pakt wur­de zusam­men mit dem Inter­na­tio­na­len Pakt für bür­ger­li­che und poli­ti­sche Rech­te (UN-Zivil­­pakt) 1966 von der Gene­ral­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen ver­ab­schie­det und von Deutsch­land 1973 rati­fi­ziert. Seit 2023 sind hier­zu­lan­de indi­vi­du­el­le Beschwer­de­ver­fah­ren mög­lich. Anläss­lich der Ent­schei­dung des UN-Sozi­al­aus­schus­ses for­dern PRO ASYL und der Flücht­lings­rat Thü­rin­gen, dass die Behör­den bun­des­weit Leis­tungs­strei­chun­gen für Geflüch­te­te umge­hend been­den und die Bun­des­re­gie­rung die Leis­tungs­strei­chung sowie alle Kür­zun­gen am Exis­tenz­mi­ni­mum gesetz­lich abschafft. Allen soll­te bewusst sein: Sobald Men­schen­rech­te nicht mehr für alle gel­ten, sind sie für alle in Gefahr.

(ak)