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Erster Schritt zur Integration: der Zugang zum Sprachkurs. Foto: Trägerkreis Junge Flüchtlinge e.V.

Neue Perspektiven bei der Integration von Flüchtlingen: Am heutigen Mittwoch stellte die Expertenkommission der Robert Bosch Stiftung ihren Abschlussbericht dazu vor. PRO ASYL hat die Arbeit der Kommission kritisch mitbegleitet und ein abweichendes Votum veröffentlicht.

Die Exper­ten­kom­mis­si­on der Robert Bosch Stif­tung for­dert in ihrem Bericht einen Per­spek­tiv­wech­sel in der Flücht­lings­po­li­tik in Rich­tung Inte­gra­ti­on. Vie­le der For­de­run­gen wer­den von PRO ASYL unter­stützt, wie bei­spiels­wei­se die For­de­rung nach einer mas­si­ven Aus­wei­tung des öffent­lich geför­der­ten sozia­len Woh­nungs­baus in Deutsch­land sowie der Ein­füh­rung von bun­des­weit ein­heit­li­chen Min­dest­stan­dards für Gemein­schafts­un­ter­künf­te. Auch Hand­lungs­emp­feh­lun­gen im Bereich der Gesund­heits­ver­sor­gung, des Zugangs zu Bil­dungs­maß­nah­men, der Aner­ken­nung von Berufs­ab­schlüs­sen von Flücht­lin­gen sowie der För­de­rung des Zugangs zum Arbeits­markt sind gute Vor­schlä­ge für eine bes­se­re Inte­gra­ti­on von Flüchtlingen.

Bei der Vor­stel­lung des Exper­ten­be­richts wur­de zugleich das abwei­chen­de Votum von PRO ASYL veröffentlicht.

Sprachförderung nur für Asylsuchende mit „guter Bleibeperspektive“?

Im Gegen­satz zum Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um (BMI) for­dert die Exper­ten­kom­mis­si­on der Robert Bosch Stif­tung eine Neu­de­fi­ni­ti­on des Begriffs der „guten Blei­be­per­spek­ti­ve“. Nach Wil­len des BMI haben angeb­lich nur Flücht­lin­ge aus Syri­en, Irak, Eri­trea und Iran eine gute Blei­be­per­spek­ti­ve. Nur ihnen wird bei­spiels­wei­se noch wäh­rend des Asyl­ver­fah­rens Zugang zum Inte­gra­ti­ons­kurs gewährt. Allen ande­ren Asyl­su­chen­den wer­den Inte­gra­ti­ons­kur­se ver­wehrt – trotz teil­wei­se sehr hoher Schutz­quo­ten wie im Fal­le afgha­ni­scher und soma­li­scher Asylsuchender.

Nach der Defi­ni­ti­on der Robert Bosch Exper­ten­kom­mis­si­on (Sei­te 37) hät­ten auch Flücht­lin­ge aus Afgha­ni­stan und Soma­lia eine gute Blei­be­per­spek­ti­ve und müss­ten des­halb Zugang zu Sprach- und Inte­gra­ti­ons­an­ge­bo­ten haben. Die Exper­ten­kom­mis­si­on geht davon aus, dass eine Blei­be­per­spek­ti­ve gege­ben ist, wenn bei den inhalt­li­chen Ent­schei­dun­gen (berei­nig­te Schutz­quo­te) mehr als 50 Pro­zent der Antrag­stel­ler im Vor­jahr Schutz erhal­ten haben. Eben­so sind Ange­hö­ri­ge einer Min­der­heit, die regel­mä­ßig mehr als 50 Pro­zent Schutz zuge­spro­chen bekommt, unter die­ser Defi­ni­ti­on zu fas­sen. Damit hät­ten Flücht­lin­ge aus Afgha­ni­stan und Soma­lia Anspruch auf eine Teil­nah­me an Inte­gra­ti­ons­kur­sen noch wäh­rend des lau­fen­den Asylverfahrens.

Keine Vorselektierung von Flüchtlingen!

Trotz die­ser Ein­schät­zung ist die Vor­ab-Kate­go­ri­sie­rung von Flücht­lin­gen mit „guter“ und „schlech­ter“ Blei­be­per­spek­ti­ve höchst pro­ble­ma­tisch. Die Blei­be­per­spek­ti­ve steht erst am Ende eines Asyl­ver­fah­rens fest. Die typi­sie­ren­de Behand­lung von Schutz­su­chen­den droht das zu zer­stö­ren, was der Kern des Asyl­rechts ist: die indi­vi­du­el­le Prü­fung des Rechts auf Asyl.

Gesetzesverschärfungen verhindern Integration

Je frü­her Inte­gra­ti­ons­maß­nah­men grei­fen, des­to bes­ser gelin­gen sie. Der Schlüs­sel für Inte­gra­ti­on in Deutsch­land sind Sprach­er­werb und Auf­ent­halts­sta­tus. Gera­de bei letz­te­rem erweist sich das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um zuneh­mend als hem­mend: Mit immer mehr Geset­zes­ver­schär­fun­gen wer­den Flücht­lin­gen Stei­ne bei ihrem Weg in die Inte­gra­ti­on gelegt. Dazu gehört die Rege­lung durch das Asyl­pa­ket I, nach der die Ver­weil­dau­er in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen nun bis zu sechs Mona­te dau­ern kann und wäh­rend­des­sen ein Zugang zu Sprach­kur­sen, Bil­dungs­maß­nah­men und ggf. Arbeit so de fac­to nicht mög­lich ist.

23,1 Mona­te

dau­ern die Asyl­ver­fah­ren für Afghan*innen im Durchschnitt. 

Statt Integration: Warteschleife in überlangen Asylverfahren

Inte­gra­ti­ons­hem­mend ist auch die lan­ge Dau­er der Asyl­ver­fah­ren. Die durch­schnitt­li­che Dau­er der Asyl­ver­fah­ren beträgt offi­zi­ell 5,2 Mona­te, fak­tisch 9 Mona­te und mehr, rech­net man die Zeit hin­zu, die bis zur eigent­li­chen Antrag­stel­lung ver­geht. Extrem lang sind die Asyl­ver­fah­ren von Flücht­lin­gen aus Afgha­ni­stan (23,1 Mona­te) und Soma­lia (28 Mona­te) – und dies trotz der hohen Aner­ken­nungs­quo­ten. Im Jahr 2015 wur­den bei einer inhalt­li­chen Ent­schei­dung 77,6 Pro­zent aller Flücht­lin­ge aus Afgha­ni­stan aner­kannt (berei­nig­te Schutz­quo­te), eben­so 81,6 Pro­zent aller Flücht­lin­ge aus Soma­lia. Bis zu einer Anhö­rung ver­gin­gen im Fal­le von afgha­ni­schen Flücht­lin­gen nach der Antrag­stel­lung 10,0 Mona­te, danach muss­ten sie im Durch­schnitt 13,1 Mona­te bis zur Ent­schei­dung war­ten. Soma­li­sche Flücht­lin­ge war­te­ten nach der Antrag­stel­lung auf die Anhö­rung 15,1 Mona­te, danach 12,9 Mona­te bis zur Ent­schei­dung (Quel­le: BT-Druck­sa­che 18/7625).

Die Exper­ten­kom­mis­si­on for­dert, die Pra­xis des zeit­li­chen und per­so­nel­len Aus­ein­an­der­fal­les von Ent­schei­dung und per­sön­li­cher Anhö­rung zu ändern. Zeit­nah zur Anhö­rung soll künf­tig spä­tes­tens inner­halb einer Monats­frist die Ent­schei­dung von ein und der­sel­ben Per­son vor­ge­nom­men wer­den, sofern sich auf­grund der Anhö­rung nicht wei­te­rer Auf­klä­rungs­be­darf erge­ben hat.

Flücht­lin­ge dür­fen von der Poli­tik nicht als zu ver­wal­ten­de Mas­se gese­hen werden.

Bürokratieabbau im BAMF dringend notwendig

Die Des­in­te­gra­ti­ons­po­li­tik des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums setzt sich auch in den Anwei­sun­gen an das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) fort. So kom­men zu den extrem lan­gen Asyl­ver­fah­ren Hun­dert­tau­sen­de uner­le­dig­ter Asyl­an­trä­ge hin­zu, inzwi­schen sind es ca. 770.000. Die­ser Rück­stau erfor­dert poli­ti­sches Han­deln über die Vor­schlä­ge der Robert Bosch Exper­ten­kom­mis­si­on hin­aus. Dazu gehö­ren die Ein­füh­rung einer unab­hän­gi­gen Ver­fah­rens­be­ra­tung, der Ver­zicht auf Dub­lin-Über­stel­lun­gen nach Ungarn, Slo­we­ni­en, Kroa­ti­en und selbst­ver­ständ­lich auch nach Grie­chen­land, die Wie­der­ein­füh­rung unbü­ro­kra­ti­scher Aner­ken­nungs­ver­fah­ren für Flücht­lin­ge aus Syri­en und dem Irak sowie auch eine Alt­fall­re­ge­lung für län­ger als ein Jahr anhän­gi­ge Asyl­ver­fah­ren ohne behörd­li­che Entscheidung.

Integrationspolitisch absurd: Wohnsitzauflage

Hin­der­lich für die Inte­gra­ti­on ist auch die poli­tisch dis­ku­tier­te Wohn­sitz­auf­la­ge. Was deut­schen Arbeits­su­chen­den nahe­ge­legt wird – Mobi­li­tät und Bereit­schaft zum Umzug – soll bei Flücht­lin­gen ins Gegen­teil ver­kehrt wer­den. Aus­ge­rech­net Flücht­lin­ge dazu zu zwin­gen ihr neu­es Leben dort zu begin­nen, wo Ein­hei­mi­sche wegen man­geln­der Zukunfts­chan­cen abwan­dern, ist inte­gra­ti­ons­po­li­tisch gedacht gera­de­zu absurd.

Flücht­lin­ge dür­fen von der Poli­tik nicht als zu ver­wal­ten­de Mas­se gese­hen wer­den. Das Ziel, sich in Deutsch­land ein neu­es Leben auf­zu­bau­en, zieht sie dort­hin, wo die Per­spek­ti­ven sehen. Kom­mu­nen und Städ­te, gera­de aus struk­tur­schwa­chen Gebie­ten, soll­ten das als Chan­ce begrei­fen und mit Inte­gra­ti­ons- und Job­an­ge­bo­ten um den Zuzug von aner­kann­ten Flücht­lin­gen wer­ben. Man­cher­orts funk­tio­niert es bereits, dass Aner­kann­te das Blei­ben in einer ver­traut gewor­de­nen Umge­bung plus Job­per­spek­ti­ve einer Abwan­de­rung vorziehen.

Asylrecht wird an den Außengrenzen Europas ausgehebelt

Die Exper­ten­kom­mis­si­on der Bosch Stif­tung setz­te sich auch mit der Fra­ge des Zugangs zum Asyl­ver­fah­ren und nach Euro­pa aus­ein­an­der. Begrü­ßens­wert ist der Vor­schlag der Kom­mis­si­on, dass 2016 und 2017 dass meh­re­re hun­dert­tau­send Flücht­lin­ge im Rah­men von Auf­nah­me­pro­gram­men in Euro­pa auf­ge­nom­men wer­den. Auch das Resett­le­ment muss auf Flücht­lin­ge aus Syri­en, Irak und Afgha­ni­stan aus­ge­dehnt wer­den. Kon­sens in der Bosch Exper­ten­kom­mis­si­on war: „Die­se Pro­gram­me erset­zen nicht das indi­vi­du­el­le Recht auf Asyl.“

Doch gera­de das indi­vi­du­el­le Recht auf Asyl ist ange­sichts des „Deals“ mit der Tür­kei in Gefahr. Es setzt sich zuneh­mend die Poli­tik durch, die Gren­zen zu schlie­ßen und hand­ver­le­sen nur weni­gen Flücht­lin­gen die Ein­rei­se zu gestat­ten. Geschlos­se­ne Außen­gren­zen Euro­pas füh­ren zu einer fak­ti­schen Abschaf­fung des Men­schen­rechts auf Zugang zu einem indi­vi­du­el­len Asyl­ver­fah­ren in der EU.