06.09.2025
Image
Foto: Jonas Bickmann / PRO ASYL

Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL und syrisch-deutscher Aktivist, kam im Sommer 2015 nach Deutschland. Mario Neumann von Medico sprach mit ihm über ein Leben zwischen syrischer Revolution, deutscher Migrationspolitik und wie er die Solidarität der deutschen Zivilgesellschaft gegenüber Geflüchteten erlebte.

Das Inter­view erschien erst­mals im med­ico-Rund­schrei­ben 01/2025, danach auf der med­ico-Web­sei­te.

Du bist im Som­mer 2015 aus Syri­en nach Deutsch­land geflo­hen. Vie­le Men­schen hat es damals zufäl­lig an bestimm­te Orte Euro­pas ver­schla­gen. Wie war es bei dir?

Ich hat­te kei­ne beson­de­re Bezie­hung zu Deutsch­land. Ich habe Syri­en ver­las­sen, weil ich ver­folgt wur­de – aller­dings nicht nur vom Regime, son­dern auch von isla­mis­ti­schen Grup­pen, wie übri­gens vie­le ande­re in jener Zeit. Ich woll­te nur weg. Ich ging in die Tür­kei und ent­schied schnell, über die Bal­kan­rou­te wei­ter­zu­zie­hen. Mich besorg­ten die Prä­senz der Islamist*innen in der Tür­kei und die geo­gra­fi­sche Nähe zum syri­schen Regime. Das schür­te alte Ängs­te. Schon in Syri­en hat­te ich huma­ni­tä­re Arbeit geleis­tet, des­halb fiel mir immer wie­der die Ver­ant­wor­tung für gro­ße Grup­pen zu. Da ging es teil­wei­se um Leben und Tod, zum Bei­spiel auf der Boots­fahrt von der Tür­kei nach Griechenland.

Wie ging es dann für dich weiter?

Ich hat­te kein Ziel, so wie die meis­ten ande­ren, die ich unter­wegs traf. Wir lie­fen ein­fach wei­ter, wie es gera­de ging, quer durch Euro­pa. Irgend­wann kamen wir in Wien am Bahn­hof an, was mir bis heu­te beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben ist. Zum ers­ten Mal sag­te jemand zu uns »will­kom­men«. Ich war zuvor in Ungarn und habe dort die Mas­sen­pro­tes­te vor dem Bahn­hof Kele­ti erlebt, wo eini­ge Tage spä­ter der legen­dä­re »March of Hope« über die Auto­bahn Rich­tung öster­rei­chi­scher Gren­ze auf­brach. Das Aus­maß der Poli­zei­bru­ta­li­tät in Ungarn war unglaub­lich. Sie haben uns behan­delt, als könn­ten sie mit Gewalt unse­re Exis­tenz unge­sche­hen machen.

In Wien habe ich dann ein Zug­ti­cket nach Dort­mund bekom­men. Ich hat­te kei­ne Ahnung, wo Dort­mund liegt, geschwei­ge denn, was mich erwar­ten wür­de. Als ich dort mit­ten in der Nacht ankam, fühl­te ich mich tod­mü­de. Und ich hat­te zum ers­ten Mal Hun­ger, nach 45 Tagen, die ich von Syri­en bis nach Deutsch­land unter­wegs war. Weil sonst nichts geöff­net hat­te, bin ich zu McDo­nalds gegan­gen. Nach dem Essen habe ich eine geraucht und ver­spür­te ein schon fast ver­ges­se­nes Gefühl von Sicher­heit. Da habe ich ent­schie­den, dass ich in Dort­mund blei­ben wer­de. Ich bin zur Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung und habe mich regis­trie­ren lassen.

In Syri­en gab es nicht erst seit der Revo­lu­ti­on kei­ne Sicher­heit für Oppo­si­tio­nel­le. Doch vie­les ver­schärf­te sich nach 2011. Du warst damals dabei. Wie hast du das erlebt?

Ich bin in einer poli­ti­schen Fami­lie auf­ge­wach­sen. Mein Vater war Jour­na­list. Zu Hau­se wur­de bei uns über alles gespro­chen. Aller­dings galt aus Angst um uns ein strik­tes Ver­bot, außer­halb der eige­nen vier Wän­de über Poli­tik zu reden. 2003 gab es ein für mich ein­schnei­den­des Erleb­nis: Mein Cou­sin, der eben­falls Jour­na­list war und für eine oppo­si­tio­nel­le aus­län­di­sche Zei­tung schrieb, wur­de fest­ge­nom­men. Mein Vater wur­de als Ver­wand­ter eben­falls sank­tio­niert. Er wur­de vom Dienst sus­pen­diert und hat­te Schreib­ver­bot. Nach drei Jah­ren wur­de mein Cou­sin dann frei­ge­las­sen – aus Sedna­ya. Ich hör­te von ihm die furcht­ba­ren Geschich­ten, die sich dort ereig­ne­ten. Alle Vor­wür­fe gegen ihn wur­den fal­len­ge­las­sen, das Schreib­ver­bot aber blieb bestehen. Er war seit­dem arbeits­los. Die­se Mischung aus unge­mei­ner Bru­ta­li­tät und per­fi­der Schi­ka­ne emp­fand ich als beson­ders schrecklich.

2011 ist dann die Wut, die sich auch aus sol­chen Geschich­ten speis­te, explodiert.

Ich erin­ne­re mich noch, dass mein Vater krank war. Ich fuhr von Alep­po, wo ich damals stu­dier­te, nach Damas­kus, um ihn zu besu­chen. Im Kran­ken­haus habe ich besag­ten Cou­sin getrof­fen. Es waren jene Tage, in denen in Ägyp­ten Muba­rak gestürzt wur­de. Ich habe ihn gefragt: »Glaubst du, bei uns wird etwas Ähn­li­ches pas­sie­ren?« Er sag­te: »Ich hof­fe es.« Als die Revo­lu­ti­on dann tat­säch­lich aus­brach, war ich in Alep­po und habe an Demos an der Uni teil­ge­nom­men. Man ging extrem bru­tal gegen uns vor, nicht nur auf der Stra­ße. Die Poli­zei kam jede Nacht in unse­re Studierendenunterkunft.

Damals foto­gra­fier­ten die Geheim­diens­te die Teilnehmer*innen der Demons­tra­tio­nen, nachts such­ten sie nach ihnen in unse­ren Betten.

Damals foto­gra­fier­ten die Geheim­diens­te die Teilnehmer*innen der Demons­tra­tio­nen, nachts such­ten sie nach ihnen in unse­ren Bet­ten. Wir wuss­ten, dass die­je­ni­gen, die sie holen, nicht zurück­kom­men wür­den. Wir ris­kier­ten unser Leben. Trotz­dem war ich nicht dafür, dass sich die Revo­lu­ti­on bewaff­net. Als der Bür­ger­krieg 2013 begann, habe ich mich des­halb in der huma­ni­tä­ren Hil­fe enga­giert, beim syrisch-ara­bi­schen Roten Halb­mond. Dort konn­ten wir den Men­schen trotz vie­ler Ein­schrän­kun­gen hel­fen. Wir waren vie­le Oppo­si­tio­nel­le und haben die Platt­form auch für klan­des­ti­ne Arbeit genutzt: Men­schen wur­den ver­steckt, Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen dokumentiert.

Die Öffent­lich­keit in Deutsch­land rät­selt bis heu­te, was 2015 genau geschah. Der Welt-Redak­teur Robin Alex­an­der warf der Bun­des­re­gie­rung damals vor, dass sie eine »Getrie­be­ne« der Migra­ti­ons­be­we­gung gewe­sen sei. Wel­chen Ein­fluss oder Nach­hall hat­te die syri­sche Revo­lu­ti­on dei­ner Mei­nung nach in die­sen Monaten?

Ange­la Mer­kel hat im Som­mer 2015 den huma­nen Weg gewählt, als sie vor der Ent­schei­dung stand, die Gren­zen zu öff­nen oder mas­si­ve Gewalt ein­zu­set­zen und Tote zu ris­kie­ren. Aber der Druck war gigan­tisch: Die Men­schen haben die Gren­zen geöff­net – nicht die Kanz­le­rin. Sie hat es gesche­hen las­sen. Ohne die Erfah­run­gen der syri­schen Revo­lu­ti­on wäre vie­les so nicht pas­siert. Alte Struk­tu­ren wie Face­book-Grup­pen wur­den zur Orga­ni­sie­rung von Flucht­rou­ten genutzt. Der Infor­ma­ti­ons­fluss war enorm, eben­so die Fähig­keit, die euro­päi­sche Öffent­lich­keit anzu­spre­chen. Es ist viel Grenz­ge­walt doku­men­tiert wor­den und immer wuss­ten alle, die unter­wegs waren, Bescheid. Wir beweg­ten uns auf der Flucht in klei­nen Grup­pen und haben ver­sucht, uns zu war­nen. Es gab also eine Soli­da­ri­tät aller, die unter­wegs waren.

Selbst nach dem Sturz des Assad-Regimes ist die Figur des syri­schen Flücht­lings in der deut­schen Debat­te ohne eige­ne poli­ti­sche Geschich­te. Warum?

Die Flucht­be­we­gung von 2015 war kei­ne poli­ti­sche Bewe­gung, aber das Gesche­he­ne hat­te eine poli­ti­sche Dimen­si­on. Natür­lich ging es um exis­ten­zi­el­le Fra­gen. Eine Boots­fahrt über das Meer in einem Schlauch­boot ris­kierst du nicht aus »poli­ti­schen Grün­den«, son­dern nur, wenn du nichts mehr zu ver­lie­ren hast. Hät­te die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft die Bevöl­ke­rung in Syri­en gegen die Assad-Dik­ta­tur unter­stützt, hät­te es anders aus­ge­hen kön­nen. Es gab also eine inter­na­tio­na­le Ver­ant­wor­tung für die Flucht­be­we­gun­gen. »Wir haben nichts mehr zu ver­lie­ren und kämp­fen des­we­gen wei­ter, bis wir irgend­wo sind, wo wir Sicher­heit haben.« Das war kein poli­ti­sches Pro­gramm, aber eine For­de­rung des Moments.

Vie­le Men­schen von damals wur­den Freun­de und mit vie­len habe ich immer noch Kontakt.

Du hast gesagt, in Wien hät­te man zum ers­ten Mal »will­kom­men« gesagt. Kur­ze Zeit spä­ter nann­te man das mil­lio­nen­fa­che Enga­ge­ment Will­kom­mens­be­we­gung. War sie das wirklich?

Ja, das war es tat­säch­lich. Ich habe es genau so erlebt. Es war schön! Ich kam nach der Erst­auf­nah­me in eine Turn­hal­le in Bochum. Es gab Yoga, Deutsch­kur­se, Sinn­vol­les und Sinn­lo­ses, aus guten und manch­mal auch etwas zwie­späl­ti­gen Moti­ven. Trotz­dem: Alle waren von einer per­sön­li­chen Moti­va­ti­on ange­trie­ben, zu hel­fen. Und die dar­aus ent­stan­de­nen ers­ten Begeg­nun­gen waren extrem wich­tig. Die Men­schen hat­ten durch­aus Ängs­te, aber sie haben sie über die Begeg­nung abge­baut. Es ist Ver­trau­en gewach­sen. Vie­le Men­schen von damals wur­den Freun­de und mit vie­len habe ich immer noch Kon­takt. Das gilt sogar für mei­nen dama­li­gen Heim­lei­ter. Er ist bis heu­te eine wich­ti­ge Per­son in mei­nem Leben.

Was ist seit­dem mit der Will­kom­mens­be­we­gung und ihren Moti­ven pas­siert? Wie erklärst du dir den Rechts­ruck ange­sichts der Erfah­run­gen von damals?

Es ist viel kaputt­ge­gan­gen. Vie­le Men­schen woll­ten hel­fen, doch der Staat und die öffent­li­che Büro­kra­tie reagier­ten viel zu lang­sam und konn­ten mit den neu­en Anfor­de­run­gen, dar­un­ter die Ein­bin­dung und Unter­stüt­zung der Ehren­amt­li­chen, nicht umge­hen. Noch schwie­ri­ger war es, die Geflüch­te­ten als Men­schen mit eige­ner Geschich­te anzu­se­hen und nicht als Objek­te der Hil­fe. Als ich in Bochum leb­te, war ich oft bei der Stadt­ver­wal­tung und habe mei­ne Exper­ti­se aus der huma­ni­tä­ren Hil­fe in Syri­en angeboten.

Ich wuss­te, wie man geflüch­te­te Men­schen unter­bringt und Mas­sen­un­ter­künf­te orga­ni­siert. »Du brauchst selbst Hil­fe, wie kannst du hel­fen?« Die­ser Satz wur­de tat­säch­lich so zu mir gesagt. Selbst vie­le Jah­re spä­ter kam von öffent­li­cher Sei­te so gut wie nichts. Das war 2022, als die Ukrainer*innen kamen, ähn­lich. Vie­le haben sich irgend­wann ermü­det zurück­ge­zo­gen oder nur noch »pri­va­te« Soli­da­ri­tät geleis­tet, also ein­zel­nen Leu­ten gehol­fen, die ihnen ans Herz gewach­sen waren. Der deut­sche Staat hät­te die­se gro­ße Bereit­schaft der Leu­te auf­grei­fen und die Will­kom­mens­kul­tur insti­tu­tio­na­li­sie­ren müs­sen. Statt­des­sen hat er mit Asyl­pa­ke­ten reagiert. Man hat migra­ti­ons­po­li­tisch gehan­delt, als hät­te es die Will­kom­mens­be­we­gung und die gro­ße Soli­da­ri­tät nicht gege­ben. Das war eine gro­ße Entmutigung.

Wie hat sich die­se Ent­wick­lung im Umgang mit Men­schen aus Syri­en, die hier leben, niedergeschlagen?

Der Ton­fall hat sich radi­kal gewan­delt. 2015 beka­men syri­sche Men­schen einen Flücht­lings­sta­tus oder sub­si­diä­ren Schutz im Schnell­ver­fah­ren. Sie muss­ten kei­ne indi­vi­du­el­len Ver­fah­ren durch­lau­fen und konn­ten des­halb sehr schnell die Not­un­ter­künf­te ver­las­sen und Fami­li­en­nach­zug bean­tra­gen. Sie konn­ten arbei­ten oder zunächst Hartz IV erhal­ten, eine Woh­nung mie­ten, die Spra­che ler­nen, ein Leben anfan­gen. Dann wur­den die Schnell­ver­fah­ren gestoppt und man wech­sel­te zu indi­vi­du­el­len Ver­fah­ren. Das brach­te dann, wie in Deutsch­land üblich, enor­me Zeit­ver­zö­ge­rung mit sich. Auch ich habe fast zwei Jah­re gebraucht, bis ich eine Auf­ent­halts­er­laub­nis hatte.

War­um das alles?

Der Umgang mit uns war mei­ner Mei­nung nach ein Signal nach außen: Man hat uns hier schi­ka­niert, damit nicht wei­te­re Leu­te nach­kom­men. Das soll­te sich her­um­spre­chen. Die Leu­te soll­ten in der Tür­kei und im Liba­non blei­ben. Schnell hat man auch asyl­po­li­tisch auf­ge­rüs­tet: der EU-Tür­kei-Deal auf euro­päi­scher Ebe­ne, in Deutsch­land dann die Aus­set­zung von Fami­li­en­nach­zug für zwei Jah­re bei allen Men­schen mit sub­si­diä­rem Schutz. Für vie­le war das dop­pelt schlimm, ich habe damals sehr oft den Satz gehört »Ich bin doch für mei­ne Fami­lie nach Deutsch­land gekommen.«

Du woll­test auch wegen sol­cher Erfah­rung in die Politik.

2016 habe ich »Refu­gee strike Bochum« mit­ge­grün­det. Wir haben auf kom­mu­na­ler Ebe­ne ver­sucht, etwas an unse­rer Situa­ti­on zu ändern und Streiks orga­ni­siert. Früh haben wir aller­dings gemerkt, dass die Bun­des­ge­set­ze ent­schei­dend sind. Dann fing 2018 die Debat­te über See­not­ret­tung an, nach­dem das Ret­tungs­schiff Life­line mit 234 geret­te­ten Men­schen an Bord tage­lang am Ein­lau­fen in einen Hafen gehin­dert wor­den war. Ich wur­de aktiv im bun­des­wei­ten Koor­di­nie­rungs­kreis der Bewe­gung See­brü­cke. Wir adres­sier­ten die Kom­mu­nen, denn sie neh­men die Men­schen auf, und die Bun­des­re­gie­rung, die Bun­des­ge­set­ze hät­te ändern müs­sen, um die Auf­nah­me zu erleich­tern. Ich habe begon­nen, in Ber­lin dafür zu wer­ben, und Gesprä­che mit Abge­ord­ne­ten geführt. Dabei habe ich fest­ge­stellt, dass es im Bun­des­tag über­haupt kei­ne Idee gab, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Die, die von Inte­gra­ti­on rede­ten, waren noch nie in einer Unter­kunft. Das war unge­mein frus­trie­rend. Des­halb ent­schied ich mich, für den Bun­des­tag zu kandidieren.

Ich woll­te etwas ver­än­dern und damit Deutsch­land auch etwas zurück­ge­ben. Die­ses Land war aber nicht bereit für eine Kan­di­da­tur von Men­schen wie mir.

War­um hast du die Bun­des­tags-Kan­di­da­tur zurückgezogen?

Mei­ne Kan­di­da­tur erreich­te eine enor­me Reich­wei­te. Es gab viel Zuspruch, aber dann auch zuneh­mend Dro­hun­gen, Belei­di­gun­gen und ras­sis­ti­sche Anfein­dun­gen. Ich bekam teil­wei­se hun­dert Mord­dro­hun­gen am Tag. Da ich kein Amt hat­te, gab es auch kei­nen Per­so­nen­schutz. Ich woll­te etwas ver­än­dern und damit Deutsch­land auch etwas zurück­ge­ben. Die­ses Land war aber nicht bereit für eine Kan­di­da­tur von Men­schen wie mir.

Wur­den die Syrer*innen dei­ner Mei­nung nach zu sehr als Hilfs­emp­fän­ger betrach­tet und ihre poli­ti­sche Geschich­te nicht wirk­lich gesehen?

Ja. Mich hat genau das immer ange­trie­ben. Ich habe aber heu­te durch­aus Hoff­nung, dass sich das ver­än­dern wird. Denn in den ers­ten Jah­ren waren die Syrer*innen damit beschäf­tigt, sich ihr Leben hier auf­zu­bau­en, die Spra­che zu ler­nen, die Schi­ka­nen aus­zu­hal­ten und, soweit mög­lich, ihre Fami­li­en nach­zu­ho­len. Aber vie­le Men­schen sind durch und durch poli­tisch. Sie haben eine Revo­lu­ti­on ange­fan­gen und dahin­ter gibt es bio­gra­fisch kein Zurück. Sie begin­nen nach und nach, wie­der akti­ver zu wer­den. Das Erd­be­ben 2022 hat das noch ver­stärkt. Es gibt zahl­lo­se Exil-Initia­ti­ven, die sich poli­tisch für Syri­en engagieren.

Wie hat sich für dich der Fall des Regimes im letz­ten Jahr ange­fühlt? Und wie war es, nach der lan­gen Zeit wie­der nach Damas­kus zu reisen?

Ich habe drei Tage nicht geschla­fen, weil ich den Moment, in dem der Sturz bekannt­ge­ge­ben wur­de, nicht ver­pas­sen woll­te! Ich habe mein gan­zes Leben davon geträumt. Das emo­tio­nals­te Moment war für mich aller­dings der Sturz der Assad-Sta­tue in mei­nem Geburts­ort. Das war am Tag vor dem Ende des Regimes. Die Sta­tue stand dort schon, als ich gebo­ren wur­de. Scha­de nur, dass ich nicht dabei sein konn­te. Kurz dar­auf bin ich aller­dings nach Damas­kus geflo­gen. Nach zehn Jah­ren wie­der zurück­zu­keh­ren und zu sehen, wie es der Fami­lie geht, was die Men­schen machen, wer noch lebt, das war unglaublich.

Am Tag nach dem Sturz des Regimes begann in Deutsch­land bereits eine Rück­kehr- und Abschie­be­de­bat­te. Wie rea­lis­tisch ist sie dei­ner Mei­nung nach?

Gemes­sen an dem, was ich frü­her und jetzt in Syri­en erlebt habe, ist die Rück­kehr­de­bat­te rea­li­täts­fern – nicht nur wegen der aktu­el­len Lage in Syri­en selbst, die huma­ni­tär und sozi­al immer noch ver­hee­rend ist. Aktu­ell wür­de auch kein deut­sches Gericht Abschie­bun­gen erlau­ben. Es zeigt sich erneut, dass der Popu­lis­mus die Migra­ti­ons­de­bat­te bestimmt. Vie­le Syrer*innen haben in den letz­ten Jah­ren ver­sucht, hier anzu­kom­men und auch tat­säch­lich dazu­zu­ge­hö­ren. Dass man am ers­ten Tag des neu­en Syri­ens nur dar­über spricht, ob und wie man sie schnell wie­der los­wer­den kann, ist menschenverachtend.

Was soll­te in Deutsch­land dei­ner Mei­nung nach jetzt passieren?

Anstatt sinn­lo­se Rück­kehr­de­bat­ten zu füh­ren, hät­te die Bun­des­re­gie­rung eine gro­ße Exil-Kon­fe­renz orga­ni­sie­ren kön­nen. Aber es wird wei­ter­hin nicht mit uns gespro­chen, obwohl es in Deutsch­land die größ­te syri­sche Exil-Com­mu­ni­ty Euro­pas gibt. Sie soll­te an den Ver­hand­lun­gen auch mit der Über­gangs­re­gie­rung betei­ligt wer­den. Sie reprä­sen­tiert sowohl einen bedeu­ten­den Teil der deut­schen wie der syri­schen Bevölkerung.