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»Nur wenn die Rechte der Menschen verwirklicht werden, sind sie real«
Karim Al Wasiti flüchtete 1998 als Regimekritiker aus dem Irak. Er ist seit vielen Jahren deutscher Staatsbürger.
PRO ASYL: Karim, du bist vor fast 20 Jahren aus dem Irak geflohen und unterstützt inzwischen schon viele Jahre geflüchtete Menschen durch deine Arbeit beim Flüchtlingsrat Niedersachsen. Kannst du uns erzählen, was dich dahin geführt hat?
Karim Al Wasiti: Es ist für mich kein Job, es ist die menschliche Verantwortung gegenüber anderen Flüchtlingen. Ich kann mit dieser Arbeit ja auch meine eigene Geschichte verknüpfen. Warum ich selbst geflohen bin, wie ich gelitten habe, was ich vermisst habe – ich kenne das alles und weiß, wie sich Flüchtlinge fühlen – und wie sehr sie am Anfang auf Unterstützung, vor allem in rechtlichen Fragen, angewiesen sind.
Du machst mit bei der PRO ASYL-Kampagne »Flüchtlingsrechte sind Menschenrechte«. Du stehst dabei für die Aussage »Ich verteidige Dein Grundgesetz«. Was bedeutet Dir das Grundgesetz?
Sehr viel. Grundrechte wie das Recht auf Asyl oder der Schutz der Familie sind dort verankert. Wenn ich diese Rechte zum Beispiel im Interesse der Flüchtlinge verteidige, verteidige ich unser Grundgesetz selbst. Denn nur wenn die Rechte der Menschen verwirklicht werden, sind sie real. Ich möchte nicht, dass in Deutschland schutzsuchenden Menschen gegenüber eine Praxis existiert, die nicht mit unserem Grundgesetz übereinstimmt. Das Grundgesetz ist in meinen Augen fast eine Art Heiligtum, das unbedingt unversehrt bleiben muss.
»Ich bin im Irak geboren und habe mir immer gewünscht, in einem Land zu leben, in dem die Grundrechte nicht nur ein wertloses Stück Papier sind.«
Du hast mal gesagt, dass du dich lange Zeit danach gesehnt hast, in einem Staat zu leben, in dem die Menschenrechte gelten.
Es war immer eine große Sehnsucht! Sie hat mich, seit ich denken kann, begleitet. Ich bin im Irak geboren und habe mir immer gewünscht, in einem Land zu leben, in dem die Grundrechte nicht nur ein wertloses Stück Papier sind. Auch im Irak wollen die Menschen Freiheit und Rechte – sie haben die gleichen Bedürfnisse wie wir.
Sie kennen die Menschenrechte zumeist natürlich nicht im Detail, aber sie wissen, dass sie existieren. Sie wissen, dass es Rechte und Werte gibt, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Ich möchte nicht, dass Flüchtlinge aus Ländern wie dem Irak hierher nach Deutschland kommen und feststellen, sie können auch hier ihre Rechte nicht wahrnehmen.
Dein eigenes Asylverfahren war ziemlich schwierig. Kannst du dich noch daran erinnern?
Ja! Ich konnte einfach nicht begreifen, warum das Bundesamt meinen Asylantrag damals abgelehnt hat. Mich hat das jahrelang begleitet – ich fühlte mich durch die Ablehnung des Bundesamtes auf gewisse Weise beleidigt, ja gedemütigt. Ich hatte das Gefühl, mir war großes Unrecht geschehen – ausgerechnet in einem Rechtsstaat, dem ich selbst vertraute. Dieses Gefühl hatte mich krank gemacht.
Du musstest dann lange auf deine Verhandlung beim Verwaltungsgericht warten.
Drei lange Jahre habe ich gewartet. Als der Termin für das Gerichtsverfahren endlich feststand, war ich unglaublich aufgeregt. Ich erinnere mich an jedes kleinste Detail dieses Tages. Und dann war da dieser Richter: Er zeigte wirkliches Interesse an meiner Geschichte, er hatte sich gut vorbereitet. Endlich hatte ich die Gelegenheit, offen zu sprechen. Ein Richter, der die Verhältnisse in deinem Land kennt, der deine Geschichte kennt, an dessen Fragen du erkennst, dass er dich und deine Situation versteht – das hat meinen Glauben an die Justiz und den Rechtsstaat damals unglaublich vertieft.
»Wir müssen das Recht auf Familie gegen alle migrationspolitischen Einschränkungen unbedingt auch öffentlich verteidigen. Wir verteidigen damit generell die Gültigkeit der Grundrechte, unsere eigenen Standards.«
Das Grundrecht auf Asyl hat am Ende also in deinem Fall funktioniert. Gegenwärtig erlebst du bei deiner Arbeit große Probleme bei der Familienzusammenführung von Flüchtlingen, wobei die Familie ja ebenso grundrechtlich geschützt ist. Wird Flüchtlingen hier nicht ein Grundrecht verweigert? Und: Ist das Recht auf Familie für Flüchtlinge in Deutschland erreichbar?
Teilweise. Da sind die, die ein Recht auf Familienzusammenführung haben. Das Recht existiert, aber es dauert in den einzelnen Fällen meistens viele Jahre, wenn es überhaupt realisiert wird. Das ist für die Betroffenen nur sehr schwer erträglich.
Dann gibt es immer mehr nur »subsidiär Geschützte«, deren Recht auf Familie politisch ausgehebelt wurde. Diese Menschen sind richtig verzweifelt. Sie versuchen alles, um ihre Familien doch noch hierher zu bringen, meist ohne Erfolg. Meiner Meinung nach müssen wir das Recht auf Familie gegen alle migrationspolitischen Einschränkungen unbedingt auch öffentlich verteidigen. Wir verteidigen damit generell die Gültigkeit der Grundrechte, unsere eigenen Standards. Es ist wichtig, dass die Menschen das Vertrauen in die Grundrechte und das Grundgesetz nicht verlieren.
Deine Geschwister und ihre Familien leben noch im Irak. Wie geht es ihnen dort?
Sie müssen immer noch dort leben. Was die Entwicklung im Irak angeht, haben sie völlig die Hoffnung verloren. Aber sie setzen auch nicht darauf, nach Europa in einen Rechtsstaat zu gelangen – die harte und ablehnende Botschaft der europäischen Abschottungspolitik ist auch bei ihnen angekommen. Sie gehen davon aus, dass sie auch weiterhin in einem Land bleiben müssen, in dem es weder Frieden noch Sicherheit gibt, in dem sie permanent Gefahren ausgesetzt sind. Das bedrückt mich sehr.
Hast du selbst noch Hoffnung, dass sich die Situation im Irak irgendwann verbessert?
Ich bin dort in einer Diktatur aufgewachsen. In einem Land, in dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, in dem Kriege geführt wurden. Nach dem Sturz Saddam Husseins wurde sehr viel von Demokratie geredet. Aber dem steht einiges entgegen: Es kam zu Krieg und Bürgerkrieg. Jetzt ist Krieg gegen den IS, in dem ausländische Mächte mit eigenen Interessen mitmischen. Die Korruption ist immens.
Die Eliten setzen wie eh und je ihre Interessen gegen das Allgemeinwohl der Bevölkerung durch. So rutscht das Land von einer Krise in die nächste. Ich hoffe trotzdem sehr, dass die Menschen dort nicht das Vertrauen in die Demokratie als Prinzip verlieren – denn dann haben wir alles verloren.
Wie siehst du die politische Entwicklung in Deutschland? Verglichen mit deinen Erfahrungen aus den 1990er Jahren: Wie ist dein Eindruck heute?
Als ich nach Deutschland kam, gab es Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Lagerzwang und viele weitere Einschränkungen für alle Flüchtlinge, ganz egal woher sie kamen. In den darauf folgenden Jahren hat sich durch unseren Einsatz – den der Flüchtlingsinitiativen und der Zivilgesellschaft – vieles zum Guten verändert: Wir haben erreicht, dass Arbeitsverbote und Residenzpflicht weitgehend aufgehoben wurden.
Aber nun gibt es erneut eine Wende! Jetzt werden die Flüchtlinge unterteilt in solche mit guter und schlechter Bleibeperspektive. Ein Teil der Flüchtlinge wird rechtlich und räumlich extrem ausgegrenzt und die Gefahr besteht, dass wir wieder in die 90er-Jahre zurückfallen. Ich frage mich außerdem, wie viele weitere Krisenländer in Zukunft noch zu »sicheren Herkunftsländern« erklärt werden.
In meinen Augen wird dadurch das Ansehen Deutschlands beeinträchtigt. Wir konnten bis vor einiger Zeit doch wirklich stolz darauf sein, dass wir unserer Verantwortung für verfolgte Menschen gerecht werden. Dieses Bild ändert sich gerade.
Du erfährst vermutlich täglich, wie Flüchtlinge sich unter den geänderten Bedingungen fühlen.
Die, die zu uns kommen, haben eine Menge Probleme. Es gibt immer mehr negative Asylentscheidungen, die die Leute schockieren. Sie müssen dann klagen, brauchen Rechtsanwälte, Geld und Geduld. Aber die jahrelange Verweigerung von Integrationsmaßnahmen nimmt den Leuten jede Hoffnung, jede Perspektive. Sie fühlen sich von der Gesellschaft völlig ausgeschlossen. Sie verlieren dadurch ihre Energie, ihre Kraft und sehr viel wertvolle Zeit ihres Lebens – und dadurch wird auch unsere Gesellschaft verlieren. Wenn wir dem Grundgesetz treu bleiben wollen, müssen wir das unbedingt wieder verändern.