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Lampedusa: Härte gegen Schutzsuchende statt Humanität
Die humanitäre Situation auf Lampedusa spitzt sich zu. Das Leid der Schutzsuchenden ist das vorhersehbare Ergebnis eines politischen Versagens und wird instrumentalisiert, um Zerrbilder der »Überforderung« und des »Kontrollverlusts« zu kreieren. Sie werden aktuell bewusst genutzt, um flüchtlingsfeindlichen Politiken voranzutreiben.
Die Lage auf der italienischen Insel Lampedusa bleibt dramatisch. Vergangene Wochen haben innerhalb von drei Tagen ca. 8.500 Geflüchtete die 20 Quadratkilometer große Insel nach einer lebensgefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer erreicht. Obwohl seit vielen Jahren Schutzsuchende in Lampedusa anlanden, sind die Kapazitäten der Aufnahmestrukturen vor Ort nicht aufgestockt worden – das Erstaufnahmelager verfügt über nur 450 Plätze. Seit Jahresbeginn war es fast permanent überfüllt, und phasenweise mit bis zu 6.000 Menschen belegt.
Die menschenunwürdigen Aufnahmebedingungen, wie wir sie aktuell auf Lampedusa sehen, waren daher vorhersehbar. Die PRO ASYL-Partnerorganisation Maldusa berichtet von Missmanagement bei der Unterbringung, Versorgung und den Überstellungen aufs Festland. »Das Gefühl einer Krise entsteht durch das schlechte Management dieser Situation«, bestätigt auch Vincent Cochetel, UNHCR-Sonderbeauftragter für das Mittelmeer.
Politisches Kalkül: Lampedusa als Druckmittel
Flavio Di Giacomo, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), spricht von einer »Krise für die Insel, nicht für Italien«. Die PRO ASYL-Partnerorganisation borderline-europe macht Verwaltungsversagen für die humanitäre Katastrophe und die Mängel im italienischen Aufnahmesystem verantwortlich, mit denen Migrant*innen und Geflüchtete in Italien seit Jahren konfrontiert sind.
Die Vermutung liegt nahe, dass die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kein Interesse daran hat, die Aufnahmesituation in Italien zu verbessern. Denn die aktuelle Situation auf Lampedusa lässt sich gut instrumentalisieren, um die EU unter Druck zu setzen. Melonis Ziel: Die sofortige Umsetzung des von ihr vorangetriebenen und am 16. Juli beschlossenen EU-Tunesien-Deals, um Ankünfte in Italien zu verhindern. Seit der aufmerksamkeitsheischenden Unterzeichnung vor zwei Monaten ist das Abkommen weiterhin nicht in Kraft, Gelder an Tunesien sind noch keine geflossen und die Ankünfte in Italien nehmen weiter zu.
Dabei hatte Meloni im Wahlkampf versprochen, Ankünfte in Italien durch eine Seeblockade durch die Marine zu beenden. Innenpolitisch unter Druck forderte sie am Wochenende einen EU-Einsatz zur Blockade der Mittelmeerroute, um Menschen an der Überquerung zu hindern. Ein solches Abfangen von Schutzsuchenden wäre ein klarer Verstoß gegen Völkerrecht.
Der EUobserver berichtet, dass die Europäische Kommission nicht ausschließt, über eine Seeblockade zu diskutieren, um Migrant*innen und Flüchtlinge von der Flucht aus nordafrikanischen Ländern wie Tunesien abzuhalten. »Wir haben unsere Unterstützung für die Erkundung dieser Möglichkeiten ausgedrückt«, so ein Sprecher der Europäischen Kommission am 18. September.
10-Punkte-Plan: Fluchtverhinderung, Frontex, Tunesien-Deal
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen folgte einer Einladung Melonis umgehend und reiste nach Lampedusa, wo sie am 17. September einen 10-Punkte-Plan vorlegte. Dieser legt einen klaren Schwerpunkt auf Maßnahmen zur Fluchtverhinderung, die wie gewohnt unkonkret sind und keine neuen Vorschläge enthalten. Geplant ist eine strengere Überwachung des Mittelmeeres, mit der Option einer Ausweitung von Marine-Einsätzen sowie die volle Umsetzung des Deals mit Tunesien.
Im EU-Parlament wurde der Deal letzten Dienstag lautstark kritisiert. Kurz darauf wurde einer Gruppe von Abgeordneten des Europäischen Parlaments am 14. September die Einreise nach Tunesien verweigert.
Das Mitte Juli als Memorandum of Understanding unterzeichnete Abkommen sieht unter anderem den Ausbau der tunesischen Küstenwache vor, um Menschen von der Flucht abzuhalten. Von der Leyen schlug zudem eine Arbeitsvereinbarung zwischen der EU-Grenzschutzagentur Frontex und Tunesien vor und die Zusammenarbeit zwischen der EU-Polizeiagentur Europol mit tunesischen Behörden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser stellte sich am Wochenende hinter die Maßnahmen der EU-Kommission.
Der 10-Punkte-Plan folgt dem höchst gefährlichen Trend, den Zugang nach Europa und die Möglichkeiten auf Schutz zu verhindern. Dies wird Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, nicht davon abhalten, über das Mittelmeer zu fliehen. Aber es wird zu mehr Inhaftierung, Gewalt und Toten führen.
Kritik an schmutzigem Deal mit Tunesien reißt nicht ab
Die Kritik an dem schmutzigen Deal mit Tunesien reißt derweil nicht ab. Nach scharfer Kritik von europäischen Institutionen und 13 EU-Mitgliedstaaten befragt inzwischen auch die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly die Europäische Kommission, wie sie sicherstellen will, dass bei migrationspolitischen Maßnahmen im Rahmen des Pakts mit Tunesien keine Menschenrechtsstandards verletzt werden, und ob die Kommission Kriterien für die Aussetzung der Finanzierung festgelegt habe, sollten Menschenrechte nicht respektiert werden.
Im EU-Parlament wurde der Deal letzten Dienstag lautstark kritisiert. Kurz darauf wurde einer Gruppe von Abgeordneten des Europäischen Parlaments am 14. September die Einreise nach Tunesien verweigert. Sie wollten sich vor Ort über die Menschenrechtslage informieren und mit Organisationen der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und Oppositionspolitiker*innen treffen. Zuvor hatten sie den demokratischen Rückschritt im Land kritisiert. Das Einreiseverbot reiht sich ein in die zahlreichen Repressionen gegen kritische Stimmen, die tunesischen Opposition und die voranschreitende Aushöhlung der Unabhängigkeit der Justiz.
Verfolgung von Flüchtlingen in Tunesien geht weiter
Während Meloni und von der Leyen gemeinsam Lampedusa besuchten, kam es zu einer weiteren Verfolgungswelle gegen Schutzsuchende in Tunesien. Laut der Menschenrechtsorganisation Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) haben tunesische Behörden am vergangenen Sonntag bei einer großangelegten Razzia Hunderte von Flüchtlingen und Migrant*innen aus Subsahara-Afrika aus der Hafenstadt Sfax vertrieben. Laut Berichten wurde dem Roten Halbmond zudem untersagt, Migrant*innen auf den Straßen von Sfax mit Essen und Wasser zu versorgen. Die tunesische Küstenwache versucht derweil, gegenüber der EU durch das Abfangen von Fliehenden Kooperationsbereitschaft zu demonstrieren.
Tunesiens Ministerpräsident Kaïs Saïed, der mit der Verbreitung des rechten Verschwörungsmythos eines »Bevölkerungsaustauschs« den Anti-Schwarzen Rassismus in der Bevölkerung angeheizt hatte, und für das Aussetzen von Hunderten Migrant*innen in der Wüste verantwortlich ist, tut sich im Zusammenhang mit dem Sturm »Daniel« (nicht zum ersten Mal) unterdessen durch krude antisemitische Verschwörungstheorien hervor.
Mit dem Tunesien-Abkommen versucht die EU, sich erneut aus der Verantwortung zu ziehen. Die Einhaltung menschenrechtlicher Standards spielt bei solchen toxischen Abkommen schon lange keine Rolle mehr. Die EU hofiert Autokraten wie Saïed und umwirbt sie mit hunderten Millionen, damit diese Türsteher Europas spielen. Sie macht sich damit zur Komplizin der massiven Menschenrechtsverletzungen in Tunesien.
Italien: Mehr Abschiebungshaft, mehr Abschiebelager
Eigentlich sollte es in der aktuellen Debatte um das menschliche Leid der erschöpften Menschen gehen, die in Lampedusa anlanden. Sie sollten umgehend nach Sizilien und auf das italienische Festland gebracht und menschenwürdig versorgt werden, sowie Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren erhalten. Doch sowohl in Italien als auch in Deutschland wird Lampedusa zu einem Drohszenario aufgebauscht, um Debatten anzuheizen und menschenfeindliche Politiken voranzutreiben.
In Italien hatte Meloni letzte Woche »außergewöhnliche Maßnahmen« angekündigt. Am Montag beschloss das italienische Kabinett dann ein Maßnahmenpaket mit weitreichenden asylpolitischen Verschärfungen. Die mögliche Haftdauer für Menschen in Abschiebehaft soll auf 18 Monate verlängert werden – das ist das nach EU-Recht zulässige Maximum. Dafür sollen neue Abschiebelager in »abgelegenen, möglichst dünn besiedelten Gebieten« gebaut werden. Zudem sollen die tunesische Küstenwache und Polizei weiter unterstützt werden.
In Deutschland überbieten sich politisch Verantwortliche derweil mit menschenfeindlichen Forderungen und realitätsfernen Abwehr-Fantasien.
Deutschland: Entgrenzte Debatten
In Deutschland überbieten sich politisch Verantwortliche derweil mit menschenfeindlichen Forderungen und realitätsfernen Abwehr-Fantasien. Während Bayerns Ministerpräsident Markus Söder im Wahlkampfendspurt die populistische Leier der Obergrenze im vermeintlich neuen Gewand der »Integrationsobergrenze« anstimmt, fordert Ex-Bundespräsident Joachim Gauck weniger »Furcht vor einer brutal klingenden Politik, etwa der Abschottung oder Eingrenzung».
Innenministerin Faeser hat Ende August beschlossen, die Aufnahme aus Italien über den EU-Solidaritätsmechanismus auszusetzen – ein fatales Signal, zumal die geringe Anzahl von 3.500 Menschen, die im Rahmen der Relocation in Deutschland aufgenommen werden sollen, um hier ihr Asylverfahren zu durchlaufen, ohnehin eher symbolischer Art sind. Die Bundesregierung sollte sich umgehend wieder an dem Mechanismus beteiligen und sich mit Nachdruck für dessen Ausweitung einsetzen. So sieht Solidarität mit Menschen auf der Flucht, aber auch mit Staaten an den EU-Außengrenzen aus.
80 Organisationen mahnen humane Flüchtlingspolitik an
In der gemeinsamen Erklärung »Ankünfte auf Lampedusa. Solidarität und Widerstand angesichts der europäischen Aufnahmekrise!» zeigten sich am Montag PRO ASYL und 80 Organisationen aus Europa und Afrika, darunter auch die in Lampedusa ansässige PRO ASYL-Partnerorganisation Maldusa, tief besorgt angesichts der aktuellen Entwicklungen. Sie bekräftigen ihre Solidarität mit den Menschen, die in Europa Schutz suchen. Das zivilgesellschaftliche Bündnis fordert die EU-Mitgliedsstaaten auf, sichere und legale Fluchtwege zu ermöglichen, für menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu sorgen, internationale Gesetze zu achten und das Recht auf Asyl zu schützen.
(hk/mz)