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Ankunft auf Lampedusa. Foto: Jonas Bickmann / PRO ASYL

Die humanitäre Situation auf Lampedusa spitzt sich zu. Das Leid der Schutzsuchenden ist das vorhersehbare Ergebnis eines politischen Versagens und wird instrumentalisiert, um Zerrbilder der »Überforderung« und des »Kontrollverlusts« zu kreieren. Sie werden aktuell bewusst genutzt, um flüchtlingsfeindlichen Politiken voranzutreiben.

Die Lage auf der ita­lie­ni­schen Insel Lam­pe­du­sa bleibt dra­ma­tisch. Ver­gan­ge­ne Wochen haben inner­halb von drei Tagen ca. 8.500 Geflüch­te­te die 20 Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ße Insel nach einer lebens­ge­fähr­li­chen Über­fahrt über das Mit­tel­meer erreicht. Obwohl seit vie­len Jah­ren Schutz­su­chen­de in Lam­pe­du­sa anlan­den, sind die Kapa­zi­tä­ten der Auf­nah­me­struk­tu­ren vor Ort nicht auf­ge­stockt wor­den – das Erst­auf­nah­me­la­ger ver­fügt über nur 450 Plät­ze. Seit Jah­res­be­ginn war es fast per­ma­nent über­füllt, und pha­sen­wei­se mit bis zu 6.000 Men­schen belegt.

Die men­schen­un­wür­di­gen Auf­nah­me­be­din­gun­gen, wie wir sie aktu­ell auf Lam­pe­du­sa sehen, waren daher vor­her­seh­bar. Die PRO ASYL-Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Mal­du­sa berich­tet von Miss­ma­nage­ment bei der Unter­brin­gung, Ver­sor­gung und den Über­stel­lun­gen aufs Fest­land. »Das Gefühl einer Kri­se ent­steht durch das schlech­te Manage­ment die­ser Situa­ti­on«, bestä­tigt auch Vin­cent Coche­tel, UNHCR-Son­der­be­auf­trag­ter für das Mittelmeer.

Politisches Kalkül: Lampedusa als Druckmittel

Fla­vio Di Gia­co­mo, Spre­cher der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM), spricht von einer »Kri­se für die Insel, nicht für Ita­li­en«. Die PRO ASYL-Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on bor­der­line-euro­pe macht Ver­wal­tungs­ver­sa­gen für die huma­ni­tä­re Kata­stro­phe und die Män­gel im ita­lie­ni­schen Auf­nah­me­sys­tem ver­ant­wort­lich, mit denen Migrant*innen und Geflüch­te­te in Ita­li­en seit Jah­ren kon­fron­tiert sind.

Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass die ita­lie­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Gior­gia Melo­ni kein Inter­es­se dar­an hat, die Auf­nah­me­si­tua­ti­on in Ita­li­en zu ver­bes­sern. Denn die aktu­el­le Situa­ti­on auf Lam­pe­du­sa lässt sich gut instru­men­ta­li­sie­ren, um die EU unter Druck zu set­zen. Melo­nis Ziel: Die sofor­ti­ge Umset­zung des von ihr vor­an­ge­trie­be­nen und am 16. Juli beschlos­se­nen EU-Tune­si­en-Deals, um Ankünf­te in Ita­li­en zu ver­hin­dern. Seit der auf­merk­sam­keits­hei­schen­den Unter­zeich­nung vor zwei Mona­ten ist das Abkom­men wei­ter­hin nicht in Kraft, Gel­der an Tune­si­en sind noch kei­ne geflos­sen und die Ankünf­te in Ita­li­en neh­men wei­ter zu.

Dabei hat­te Melo­ni im Wahl­kampf ver­spro­chen, Ankünf­te in Ita­li­en durch eine See­blo­cka­de durch die Mari­ne zu been­den. Innen­po­li­tisch unter Druck for­der­te sie am Wochen­en­de einen EU-Ein­satz zur Blo­cka­de der Mit­tel­meer­rou­te, um Men­schen an der Über­que­rung zu hin­dern. Ein sol­ches Abfan­gen von Schutz­su­chen­den wäre ein kla­rer Ver­stoß gegen Völkerrecht.

Der EUob­ser­ver berich­tet, dass die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on nicht aus­schließt, über eine See­blo­cka­de zu dis­ku­tie­ren, um Migrant*innen und Flücht­lin­ge von der Flucht aus nord­afri­ka­ni­schen Län­dern wie Tune­si­en abzu­hal­ten. »Wir haben unse­re Unter­stüt­zung für die Erkun­dung die­ser Mög­lich­kei­ten aus­ge­drückt«, so ein Spre­cher der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on am 18. September.

Ankünf­te auf der Insel Lam­pe­du­sa. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann
Ein Boot der ita­lie­ni­schen Guar­dia di Finan­za bringt eine Grup­pe von mehr als 30 Per­so­nen an den Pier. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann
Im Hafen von Lam­pe­du­as sta­peln sich die Boo­te der ankom­men­den Men­schen. Vie­le wir­ken wenig hochseetauglich.<br /> Foto: PRO ASYL/ Jonas Bickmann

10-Punkte-Plan: Fluchtverhinderung, Frontex, Tunesien-Deal

EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en folg­te einer Ein­la­dung Melo­nis umge­hend und reis­te nach Lam­pe­du­sa, wo sie am 17. Sep­tem­ber einen 10-Punk­te-Plan vor­leg­te. Die­ser legt einen kla­ren Schwer­punkt auf Maß­nah­men zur Flucht­ver­hin­de­rung, die wie gewohnt unkon­kret sind und kei­ne neu­en Vor­schlä­ge ent­hal­ten. Geplant ist eine stren­ge­re Über­wa­chung des Mit­tel­mee­res, mit der Opti­on einer Aus­wei­tung von Mari­ne-Ein­sät­zen sowie die vol­le Umset­zung des Deals mit Tune­si­en.

Im EU-Par­la­ment wur­de der Deal letz­ten Diens­tag laut­stark kri­ti­siert. Kurz dar­auf wur­de einer Grup­pe von Abge­ord­ne­ten des Euro­päi­schen Par­la­ments am 14. Sep­tem­ber die Ein­rei­se nach Tune­si­en verweigert.

Das Mit­te Juli als Memo­ran­dum of Under­stan­ding unter­zeich­ne­te Abkom­men sieht unter ande­rem den Aus­bau der tune­si­schen Küs­ten­wa­che vor, um Men­schen von der Flucht abzu­hal­ten. Von der Ley­en schlug zudem eine Arbeits­ver­ein­ba­rung zwi­schen der EU-Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex und Tune­si­en vor und die Zusam­men­ar­beit zwi­schen der EU-Poli­zei­agen­tur Euro­pol mit tune­si­schen Behör­den. Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rin Nan­cy Fae­ser stell­te sich am Wochen­en­de hin­ter die Maß­nah­men der EU-Kommission.

Der 10-Punk­te-Plan folgt dem höchst gefähr­li­chen Trend, den Zugang nach Euro­pa und die Mög­lich­kei­ten auf Schutz zu ver­hin­dern. Dies wird Men­schen, deren Leben auf dem Spiel steht, nicht davon abhal­ten, über das Mit­tel­meer zu flie­hen. Aber es wird zu mehr Inhaf­tie­rung, Gewalt und Toten führen.

Kritik an schmutzigem Deal mit Tunesien reißt nicht ab

Die Kri­tik an dem schmut­zi­gen Deal mit Tune­si­en reißt der­weil nicht ab. Nach schar­fer Kri­tik von  euro­päi­schen Insti­tu­tio­nen und 13 EU-Mit­glied­staa­ten befragt  inzwi­schen auch die EU-Ombuds­frau Emi­ly O’Reil­ly die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on, wie sie sicher­stel­len will, dass bei migra­ti­ons­po­li­ti­schen Maß­nah­men im Rah­men des Pakts mit Tune­si­en kei­ne Men­schen­rechts­stan­dards ver­letzt wer­den, und ob die Kom­mis­si­on Kri­te­ri­en für die Aus­set­zung der Finan­zie­rung fest­ge­legt habe, soll­ten Men­schen­rech­te nicht respek­tiert werden.

Im EU-Par­la­ment wur­de der Deal letz­ten Diens­tag laut­stark kri­ti­siert. Kurz dar­auf wur­de einer Grup­pe von Abge­ord­ne­ten des Euro­päi­schen Par­la­ments am 14. Sep­tem­ber die Ein­rei­se nach Tune­si­en ver­wei­gert. Sie woll­ten sich vor Ort über die Men­schen­rechts­la­ge infor­mie­ren und mit Orga­ni­sa­tio­nen der Zivil­ge­sell­schaft, Gewerk­schaf­ten und Oppositionspolitiker*innen tref­fen. Zuvor hat­ten sie den demo­kra­ti­schen Rück­schritt im Land kri­ti­siert. Das Ein­rei­se­ver­bot reiht sich ein in die zahl­rei­chen Repres­sio­nen gegen kri­ti­sche Stim­men, die tune­si­schen Oppo­si­ti­on und die vor­an­schrei­ten­de Aus­höh­lung der Unab­hän­gig­keit der Justiz.

Verfolgung von Flüchtlingen in Tunesien geht weiter

Wäh­rend Melo­ni und von der Ley­en gemein­sam Lam­pe­du­sa besuch­ten, kam es zu einer wei­te­ren Ver­fol­gungs­wel­le gegen Schutz­su­chen­de in Tune­si­en. Laut der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Tune­si­sches Forum für wirt­schaft­li­che und sozia­le Rech­te (FTDES) haben tune­si­sche Behör­den am ver­gan­ge­nen Sonn­tag bei einer groß­an­ge­leg­ten Raz­zia Hun­der­te von Flücht­lin­gen und Migrant*innen aus Sub­sa­ha­ra-Afri­ka aus der Hafen­stadt Sfax ver­trie­ben. Laut Berich­ten wur­de dem Roten Halb­mond zudem unter­sagt, Migrant*innen auf den Stra­ßen von Sfax mit Essen und Was­ser zu ver­sor­gen. Die tune­si­sche Küs­ten­wa­che ver­sucht der­weil, gegen­über der EU durch das Abfan­gen von Flie­hen­den Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft zu demonstrieren.

Tune­si­ens Minis­ter­prä­si­dent Kaïs Saï­ed, der mit der Ver­brei­tung des rech­ten Ver­schwö­rungs­my­thos eines »Bevöl­ke­rungs­aus­tauschs« den Anti-Schwar­zen Ras­sis­mus in der Bevöl­ke­rung ange­heizt hat­te, und für das Aus­set­zen von Hun­der­ten Migrant*innen in der Wüs­te ver­ant­wort­lich ist, tut sich im Zusam­men­hang mit dem Sturm »Dani­el« (nicht zum ers­ten Mal) unter­des­sen durch kru­de anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­theo­rien hervor.

Mit dem Tune­si­en-Abkom­men ver­sucht die EU, sich erneut aus der Ver­ant­wor­tung zu zie­hen. Die Ein­hal­tung men­schen­recht­li­cher Stan­dards spielt bei sol­chen toxi­schen Abkom­men schon lan­ge kei­ne Rol­le mehr. Die EU hofiert Auto­kra­ten wie Saï­ed und umwirbt sie mit hun­der­ten Mil­lio­nen, damit die­se Tür­ste­her Euro­pas spie­len. Sie macht sich damit zur Kom­pli­zin der mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Tunesien.

Italien: Mehr Abschiebungshaft, mehr Abschiebelager 

Eigent­lich soll­te es in der aktu­el­len Debat­te um das mensch­li­che Leid der erschöpf­ten Men­schen gehen, die in Lam­pe­du­sa anlan­den. Sie soll­ten umge­hend nach Sizi­li­en und auf das ita­lie­ni­sche Fest­land gebracht und men­schen­wür­dig ver­sorgt wer­den, sowie Zugang zu rechts­staat­li­chen Asyl­ver­fah­ren erhal­ten. Doch sowohl in Ita­li­en als auch in Deutsch­land wird Lam­pe­du­sa zu einem Droh­sze­na­rio auf­ge­bauscht, um Debat­ten anzu­hei­zen und men­schen­feind­li­che Poli­ti­ken voranzutreiben.

In Ita­li­en hat­te Melo­ni letz­te Woche »außer­ge­wöhn­li­che Maß­nah­men« ange­kün­digt. Am Mon­tag beschloss das ita­lie­ni­sche Kabi­nett dann ein Maß­nah­men­pa­ket mit weit­rei­chen­den asyl­po­li­ti­schen Ver­schär­fun­gen. Die mög­li­che Haft­dau­er für Men­schen in Abschie­be­haft soll auf 18 Mona­te ver­län­gert wer­den – das ist das nach EU-Recht zuläs­si­ge Maxi­mum. Dafür sol­len neue Abschie­be­la­ger in »abge­le­ge­nen, mög­lichst dünn besie­del­ten Gebie­ten« gebaut wer­den. Zudem sol­len die tune­si­sche Küs­ten­wa­che und Poli­zei wei­ter unter­stützt werden.

Hin­ter Zäu­nen in der Hit­ze: Der Hot­spot in Pozz­al­lo auf Sizi­li­en. Foto: PRO ASYL/ Jonas Bickmann
Zäu­ne, Grä­ben, Über­wa­chungs­ka­me­ras und Sol­da­ten – Der Hot­spot auf Lam­pe­du­sa Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann
lampedusa hotspot
Zäu­ne, Grä­ben, Über­wa­chungs­ka­me­ras und Sol­da­ten – Der Hot­spot auf Lam­pe­du­sa Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

In Deutsch­land über­bie­ten sich poli­tisch Ver­ant­wort­li­che der­weil mit men­schen­feind­li­chen For­de­run­gen und rea­li­täts­fer­nen Abwehr-Fantasien.

Deutschland: Entgrenzte Debatten 

In Deutsch­land über­bie­ten sich poli­tisch Ver­ant­wort­li­che der­weil mit men­schen­feind­li­chen For­de­run­gen und rea­li­täts­fer­nen Abwehr-Fan­ta­sien. Wäh­rend Bay­erns Minis­ter­prä­si­dent Mar­kus Söder im Wahl­kampf­end­spurt die popu­lis­ti­sche Lei­er der Ober­gren­ze im ver­meint­lich neu­en Gewand der »Inte­gra­ti­ons­ober­gren­ze« anstimmt, for­dert Ex-Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck weni­ger »Furcht vor einer bru­tal klin­gen­den Poli­tik, etwa der Abschot­tung oder Eingrenzung».

Innen­mi­nis­te­rin Fae­ser hat Ende August beschlos­sen, die Auf­nah­me aus Ita­li­en über den EU-Soli­da­ri­täts­me­cha­nis­mus aus­zu­set­zen – ein fata­les Signal, zumal die gerin­ge Anzahl von 3.500 Men­schen, die im Rah­men der Relo­ca­ti­on in Deutsch­land auf­ge­nom­men wer­den sol­len, um hier ihr Asyl­ver­fah­ren zu durch­lau­fen, ohne­hin eher sym­bo­li­scher Art sind. Die Bun­des­re­gie­rung soll­te sich umge­hend wie­der an dem Mecha­nis­mus betei­li­gen und sich mit Nach­druck für des­sen Aus­wei­tung ein­set­zen. So sieht Soli­da­ri­tät mit Men­schen auf der Flucht, aber auch mit Staa­ten an den EU-Außen­gren­zen aus.

80 Organisationen mahnen humane Flüchtlingspolitik an

In der gemein­sa­men Erklä­rung »Ankünf­te auf Lam­pe­du­sa. Soli­da­ri­tät und Wider­stand ange­sichts der euro­päi­schen Auf­nah­me­kri­se!» zeig­ten sich am Mon­tag PRO ASYL und 80 Orga­ni­sa­tio­nen aus Euro­pa und Afri­ka, dar­un­ter auch die in Lam­pe­du­sa ansäs­si­ge PRO ASYL-Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Mal­du­sa, tief besorgt ange­sichts der aktu­el­len Ent­wick­lun­gen. Sie bekräf­ti­gen ihre Soli­da­ri­tät mit den Men­schen, die in Euro­pa Schutz suchen. Das zivil­ge­sell­schaft­li­che Bünd­nis for­dert die EU-Mit­glieds­staa­ten auf, siche­re und lega­le Flucht­we­ge zu ermög­li­chen, für men­schen­wür­di­ge Auf­nah­me­be­din­gun­gen zu sor­gen, inter­na­tio­na­le Geset­ze zu ach­ten und das Recht auf Asyl zu schützen.

(hk/mz)