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Humanitäre Krise in Griechenland droht zu eskalieren
Seit die Einreisebestimmungen entlang der Balkanroute verschärft wurden, sitzen Tausende Flüchtlinge in Griechenland fest. Ihre ohnehin prekäre Lage wird immer verzweifelter: Medien berichten von Selbstmordversuchen von Flüchtlingen, Sitzprotesten, Hungerstreiks. Die humanitäre Krise spitzt sich zu – mit unabsehbaren Folgen. Mitarbeiterinnen des PRO ASYL-Projekts RSPA, Salinia Stroux und Chrissi Wilkens, berichten.
Die Bilder an der griechisch-mazedonischen Grenze glichen einem Schreckensszenario: Am vergangenen Montag wurde der Grenzzaun in Idomeni von Flüchtlingen teilweise niedergerissen. Grenzpolizisten setzten Tränengas gegen hunderte Protestierender ein – unter den Verletzten waren Dutzende Kinder. Viele hatten Atemprobleme. Momentan harren mehr als 8.000 Flüchtlinge an der Grenze zu Mazedonien aus. Nur wenige schaffen es, die Grenze zu passieren und weiter zu reisen. Am 24. Februar waren es gerade mal 250 syrische und irakische Schutzsuchende. Am Tag danach nur rund 100. Am vergangenen Montag, vor dem Versuch die Grenze niederzureißen, schafften es gerade noch 30 Personen.
Tausende schon jetzt obdachlos
Laut aktuellen Schätzungen sitzen mehr als 27.000 Schutzsuchende an über 18 Orten Griechenlands fest. Die Regierung in Athen rechnet damit, dass wegen der Schließung seiner Grenze zu Mazedonien in den kommenden Tagen mehr als 100.000 Migranten in Griechenland festsitzen könnten. Sie hat für Flüchtlinge speziell Fähren gechartert, um die Verteilung auf den Inseln und dem Festland zu regulieren. Auch nach der Fahrt von den ägäischen Inseln nach Piräus oder Kavala übernachten Tausende unter freiem Himmel – im Hafen, aber auch entlang der Autobahnen, im Zentrum Athens. Andere versuchen, hunderte Kilometer zu Fuß zu laufen, um die griechisch-mazedonische Grenze zu erreichen: Darunter Menschen in Rollstühlen, Neugeborene, alte Menschen, die von ihren Kindern auf den Schultern getragen werden. „In Idomeni, in Athen und in anderen Orten des Landes gibt es Menschen, die unter freiem Himmel schlafen, die nicht einmal Zugang zu Basis-Leistungen haben. Die Situation wird jeden Tag schlimmer“, so Marie Elisabeth Ingres, Leiterin von Ärzte ohne Grenzen der Mission in Griechenland, gegenüber RSPA.
EinwohnerInnen und lokale Behörden haben in den vergangenen Tagen versucht, hunderte Flüchtlinge zu versorgen. Ohne ihren Einsatz wäre die Situation weitaus dramatischer. Ehrenamtliche auf den Inseln, in Athen und Idomeni kochen in sozialen Suppenküchen rund um die Uhr – für bis zu jeweils 5.000 Menschen. Alle Nahrungsmittel wurden gespendet. Doch nicht überall solidarisiert sich die Bevölkerung mit den Flüchtlingen. Am 28. Februar gab es auf zwei geplante Flüchtlingslager im Norden Griechenlands Brandanschläge.
Militärlager für Flüchtlinge überall in Griechenland
Die Regierung versucht, der dramatischen Krise mit der Eröffnung neuer Transitlager entgegenzuwirken. Zum einen geht es um weitere „Hot Spots“: Neben den fünf Hot Spots auf den Inseln der Ägäis sind weitere fünf in den Regionen von Kilkis und Giannitsa im Norden geplant. Zum anderen werden in Diavata, Schisto, Elaionas und Elliniko sogenannte „Relocation Lager“ errichtet. Es handelt sich dabei um Massenlager, die vom Militär meist in ehemaligen Kasernen aufgebaut und mit Stacheldraht umzäunt werden. Mittlerweile sind die schon bestehenden Lager – Zeltlager, Hafenhallen, olympische Sportanlagen und Containerlager – überfüllt. Viele Schutzsuchende haben Angst, dass die vom Militär geleiteten Massenunterkünfte in Gefängnisse umfunktioniert werden könnten. Vorige Woche haben Flüchtlinge im neueingerichteten Lager in Diavata bei Thessaloniki die Zäune eingerissen und sich zu Fuß Richtung Idomeni auf den Weg gemacht. Journalisten haben seit Montag keinen Zugang zu den Lagern mehr. Es herrscht Notstand in Griechenland.
Öffentliche Plätze in Athen werden zu Zeltstädten
Auf dem Viktoria-Platz in Athen, der schon seit einigen Jahren ein Treffpunkt von Flüchtlingen ist, um Informationen auszutauschen und die Weiterreise zu planen, ist die Stimmung seit letzter Woche angespannt. Auf dem Zementboden liegen Familien mit ihren Babys auf dreckigen Decken. Menschen bitten um Essen und Wasser. NGO-MitarbeiterInnen rennen verzweifelt hin und her. “Brot, Wasser, Milch, Decken. Dies ist die einzige Hilfe, die wir denen geben können. Was können wir sonst tun?“, sagt einer von ihnen. Mehrere Flüchtlinge haben die vergangenen Nächte mit ihren Kindern hier übernachtet. In den Flüchtlingslagern und anderen provisorischen Aufnahmestrukturen gibt es keinen Platz für sie. Flüchtlinge und HelferInnen erzählen von katastrophalen, untragbaren Zuständen in den Lagern: von Hunger, Durst und vergammeltem Essen, das vom Militär gestellt wird. “Jeden Tag füllt sich der Viktoria-Platz von neuem. Es sind nicht nur Afghanen hier, sondern auch Syrer und Iraker, Iraner und Schutzsuchende aus anderen Ländern. Alle hoffen, dass die Grenzen bald wieder geöffnet werden. Nachbarn und Ladenbesitzer sind aufgewühlt. Wir fürchten, dass es sehr bald wieder rassistische Übergriffe geben wird”, beobachtet RSPA-Mitarbeiter Mubarak Shah.
Die Regierung versucht, auch in Parks und diversen kleineren Einrichtungen weitere Notunterkünfte zu schaffen. Doch die meisten Schutzsuchenden wollen aufgrund der systemischen Mängel bei der Aufnahme und Integration nicht in dem krisengeschüttelten Land bleiben, in dem die Arbeitslosenquote offiziell zur Zeit bei mehr als 24 Prozent liegt. Sie verlassen die Massenunterkünfte, in die sie verbracht werden, auch zu Fuß: entweder direkt wieder Richtung Grenze oder nach Athen, um ihre Weiterreise zu organisieren.
„Wir müssen weiter“
“Wir müssen weiter. Wir fliehen vor dem Krieg, wir haben Familienmitglieder auf der Flucht verloren. Während der Überfahrt in der Ägäis und auch an der Grenze zwischen Iran und der Türkei. Wir können nicht einfach aufgeben”, sagt A., ein junger Mann aus Afghanistan, der wie Tausende andere Schutzsuchende in Idomeni festsitzt. Seit Mazedonien auch auf den Druck Österreichs und der Visegrád-Staaten hin beschlossen hat, keine afghanischen Flüchtlinge durchzulassen, sitzt er mit seiner Familie in Griechenland fest. Die afghanischen Schutzsuchenden, die jetzt nicht mehr die Grenze überqueren können, machen rund 28 Prozent der Flüchtlinge aus, die in Griechenland anlanden. Laut einer UNCHR-Studie fliehen über 70 Prozent der afghanischen Flüchtlinge vor Konflikten und Gewalt. Auch syrische und irakische Schutzsuchende kommen nur dann weiter, wenn sie einen Pass oder Personalausweis vorweisen können und wenn keine Stempel von den türkischen Behörden darin sichtbar sind.
”Wir können nicht in Griechenland bleiben. Wir wissen, dass uns hier nicht geholfen werden kann, das Land steckt doch selbst ein einer schweren finanziellen Krise”, sagt ein junger Mann aus dem Iran. Viele sind hoffnungslos. Vorige Woche unternahmen zwei pakistanische Schutzsuchende Suizidversuche. Sie versuchten, sich an einem Baum auf dem Platz zu erhängen. Beide konnten noch rechtzeitig gerettet werden. Einer von ihnen musste im Krankenhaus versorgt werden.
Schleppergeschäft floriert aufgrund geschlossener Grenze
Das Schleppergeschäft in der Athener Innenstadt blüht gerade neu auf. 3.000 bis 4.000 Euro bezahlen Flüchtlinge mittlerweile, um über die Grenze gebracht zu werden, sei es über die Berge Albaniens oder per Boot von Westgriechenland nach Italien. Noch vor ein paar Tagen, als die Grenzen für afghanische Schutzsuchende noch offen waren, lag der Preis bei 2.000 bis 2.500 Euro. Doch die steigende Nachfrage lässt die Preise in die Höhe schnellen. Die politische Entscheidung, den humanitären Balkankorridor zu schließen, wird immer mehr Flüchtlinge zwingen, illegale und somit risikoreichere und teurere Wege zu finden, um Mitteleuropa zu erreichen.
Drastische Zuspitzung der humanitären Krise erwartet
UnterstützerInnen und Menschenrechtorganisationen in Griechenland sind alarmiert. “Wenn die Grenze zu Mazedonien für Afghanen nicht bald geöffnet wird, dann wird binnen acht Tagen die Aufnahmefähigkeit Griechenlands erschöpft sein”, warnte die Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen bereits am 23. Februar. Unter den Flüchtlingen, die in Griechenland festsitzen, befindet sich eine Vielzahl von Familien, Kindern und Minderjährigen.
Die Lage könnte sich sehr schnell weiter zuspitzen. Laut Schätzungen erreichen täglich durchschnittlich 2.000 Flüchtlinge die griechische Küste in meist seeuntauglichen Schlauchbooten und Fischkuttern. Seit Anfang des Jahres sind schon über 120.000 Schutzsuchende in Griechenland gelandet, von denen knapp zwei Dritten Frauen und Kinder sind.
Wer vor dem Krieg flieht, ist durch Zäune nicht zu stoppen
Auf dem Viktoria-Platz versucht Maria Galinou von der Internationalen Heilsarmee ärztliche Hilfe für ein Mädchen aus Afghanistan zu finden, das bei der Überfahrt durch die Ägäis eine Lungenentzündung bekommen hat. “Egal wie viele Steine man ihnen in den Weg legt, die Menschen werden andere gefährlichere Wege suchen, um an einem sicheren Ort anzukommen”, kommentiert sie die Verschärfung der Grenzkontrollen.
Ein paar Meter weiter sitzt der junge M., zusammen mit mehreren Familien aus Afghanistan unter einem Baum. Auf dem Boden haben sie Decken ausgebreitet. An den Ästen des Baumes sind zerschnittene Plastiktüten befestigt, die vor dem Regen schützen sollen. Seit mehr als vier Tagen schlafen sie hier. Der 23-jährige Afghane versucht, sich täglich über die Lage an der Grenze zu informieren. Er will nach Deutschland, jedoch nicht mit der Hilfe von Schleppern. „Ich habe kein Geld dafür. Abgesehen davon haben wir es satt auf illegalen Wegen zu reisen und unser Leben zu riskieren. Ich selbst habe fünf tote Menschen gesehen auf meiner Flucht von Kabul bis Athen. Wir wollen, dass für uns legale Wege geschaffen werden.”
„Wir sterben hier langsam“ – zur Situation in Idomeni (11.03.16)