News
»Hofheim ist meine Heimat, hier kenne ich jeden Stein, jede Ecke, jeden Baum«

Ramin Mohabat (36) kommt aus Afghanistan. 2015 ist der Journalist nach Deutschland geflohen. Wir treffen ihn in einem Café in der Hofheimer Altstadt. Während unseres Interviews winkt er vielen Menschen, die vorbeigehen, lächelt Bekannten zu. Schnell wird klar: Vor uns sitzt einer, der wirklich angekommen ist.
Zehn Jahre ist es her, seit Sie nach Deutschland gekommen sind. Was war Ihr erster Eindruck von diesem Land?
Es war ein Schock. Ich hatte nicht damit gerechnet, mit 8.000 Leuten in einem Flüchtlingscamp untergebracht zu werden. Das war in Gießen, und ich habe zusammen mit rund fünfhundert anderen Geflüchteten in einem riesigen Zelt geschlafen. Ich habe mir ja gedacht, dass es schwierig werden würde, aber solche Zustände hatte ich nicht erwartet. Es war eine Katastrophe. Ich war so froh, als ich irgendwann in einem Wohnwagen übernachten und die Tür hinter mir zuziehen konnte.
Aber da war auch eine große Erleichterung in mir. Deutschland war mein Ziel, und ich bin zuerst über Passau eingereist. Als ich das endlich geschafft hatte, konnte ich aufatmen. Da war mein erster Gedanke: »Hier kann mich niemand töten.«
»Damals durften Afghanen wie ich keinen staatlichen Deutschkurs besuchen.«
Was war für Sie nach Ihrer Ankunft besonders schwierig?
Die Sprache zu lernen war schwer. Damals durften Afghanen wie ich keinen staatlichen Deutschkurs besuchen. Also habe ich mir selbst Deutsch beigebracht, mithilfe von Youtube. Und ich habe einen Sozialarbeiter um Hilfe gebeten, weil ich unbedingt die Sprache lernen wollte. 2017 habe ich dann endlich über die Volkshochschule einen Platz in einem Deutschkurs bekommen. Und dann gab es auch noch die Deutschkurse, die Ehrenamtliche angeboten haben. Zeitweise habe ich vormittags, nachmittags und abends je einen Kurs besucht.
Welches Gefühl hat Sie während der ersten Monate in Deutschland begleitet?
Ich hatte keine Angst mehr, das war das Wichtigste. In Afghanistan habe ich Journalismus studiert und als Journalist gearbeitet. Als Reporter war ich im ganzen Land unterwegs und als Nachrichtensprecher in meiner Heimat Herat sehr bekannt. Außerdem habe ich Demos für Frauenrechte und gegen die Taliban organisiert. Deshalb haben sie mich verfolgt.
Fühlt sich Deutschland inzwischen nach Heimat für Sie an – oder nach Exil?
Deutschland fühlt sich einhundert Prozent nach Heimat an. Ich kann mir nicht vorstellen, zurück nach Afghanistan zu gehen. Dort ist mir alles viel zu religiös und konservativ. Ich habe mit Religion nichts am Hut. Hofheim ist meine Heimat, hier lebe ich seit 2017 und kenne jeden Stein, jede Ecke, jeden Baum. Ich weiß, wo es zum Sonnenuntergang besonders schön ist, wo man ein gutes Radler trinken und wo ich mit meinem Sohn Eis essen gehen kann.
»Man kann die Erinnerungen nicht einfach wegretuschieren!«
Erzählen Sie uns von Ihrer Familie.
Ich lebe mit meiner Partnerin, einer Deutschen, und unserem gemeinsamen Sohn zusammen. Er ist zweieinhalb. Im August vergangenen Jahres sind wir umgezogen und haben ein altes Haus renoviert. Das war viel Arbeit, vor allem, weil ich ja auch noch meine Arbeit sowie zwei Nebenjobs habe. Meine Eltern und Brüder leben seit drei Jahren auch in Deutschland. Sie haben für die NATO gearbeitet und waren nach der Machtübernahme der Taliban in großer Gefahr. Seit sie hier in Sicherheit sind, ist Herat endgültig abgehakt für mich.
Dieses Abhaken war sicher nicht einfach; in Afghanistan haben Sie Schlimmes erlebt. Einmal wurden Sie von den Taliban gekidnappt, ein andermal haben Sie gesehen, wie ein Mann geköpft wurde, bloß weil er Hazara war und westliche Kleidung trug. Verfolgen diese Bilder Sie noch?
Das verfolgt mich immer noch. Man kann das nicht einfach wegretuschieren. Aber ich habe gelernt, damit zu leben. Was mir hilft, ist Waldbaden. Mindestens drei Mal in der Woche gehe ich in den Wald, da komme ich runter, da habe ich meine Ruhe. In den ersten Jahren in Deutschland war ich bei einem Therapeuten, aber er konnte mir nicht helfen. Jahrelang habe ich schlecht geschlafen. Da bin ich oft die ganze Nacht durch Hofheim und Diedenbergen gelaufen, nur um nicht wach im Bett liegen zu müssen. Was mir auch hilft, ist Lesen und Meditieren. Dankbar sein. Es geht mir so gut.
Neben der Natur ist auch die Fotografie ein Halt für Sie…
Ja, in Afghanistan war ich Kriegsfotograf, aber in Deutschland habe ich beschlossen, nur die schönen Dinge zu fotografieren. Als Naturfotograf braucht man Geduld. Manchmal warte ich stundenlang, bis mir ein Eisvogel vor die Linse kommt. Wenn ich mit meiner Kamera unterwegs bin, vergesse ich die ganze Welt.
Die Fotografie ist nicht nur ein Hobby für Sie, richtig?
Stimmt. Hauptberuflich arbeite ich zwar als Schul- und Teilhabeassistent an einer Schule. Ich begleite und betreue ein autistisches Kind im Alltag. Das ist eine sehr schöne Aufgabe. Aber nebenberuflich arbeite ich als Fotograf, erstens für die Stadt Hofheim, zweitens für eine Wohnungsbaugesellschaft. Ich will der Stadt, die mir zur Heimat geworden ist, etwas zurückgeben. Das mache ich durch meine Bilder.
Welche Begegnungen haben Sie besonders berührt – und welche entsetzt?
Viele Menschen, die mich am Anfang unterstützt haben, sind inzwischen wie Familie für mich. Michael und Barbara zum Beispiel. Michael war mein erster Deutschlehrer, und seitdem sind wir gute Freunde. Mein Sohn ist ein Mal in der Woche bei den beiden und fühlt sich sehr wohl dort. Ja, es gab auch blöde Begegnungen, verletzende Kommentare im Zug oder so, aber darüber möchte ich nicht sprechen.
Welches ist Ihr Lieblingsort in Ihrer deutschen Heimatstadt?
Am Türmchen bin ich sehr gerne, das gehörte früher zur Hofheimer Stadtmauer und war auch mal eine Synagoge. Heute ist es ein Lokal. Vor allem zu Sonnenaufgang ist es toll dort. Ich liebe die Altstadt hier, diese ganze Geschichte.
Was ist das Schönste, das Sie bisher in Deutschland gesehen haben?
Da gibt es so viele schöne Orte. München, Dresden, Köln… Auch Kassel gefällt mir. In Bayern bin ich besonders gerne, wegen der Berge. Ich komme auch aus einem bergigen Land. Mein Traum ist es, mal eine lange Deutschlandreise zu machen und alles zu fotografieren.
Bitte vervollständigen Sie den Satz: »Mir hier ein neues Leben aufzubauen, wäre so viel einfacher gewesen, wenn…«
… nicht der ganze Papierkram, diese Bürokratie wäre!
Wenn Sie auf all das zurückblicken, was Sie in den letzten zehn Jahren geschafft haben, worauf sind Sie besonders stolz?
Auf meine Deutschkenntnisse bin ich stolz. Außerdem darauf, dass ist es geschafft habe, eine Familie zu gründen. Und wieder seelisch gesund zu werden, das ist wichtig.
Was möchten Sie den Menschen in Deutschland zurufen?
Es ist sehr gefährlich gerade. Die Geschichte wiederholt sich, wenn so viele Deutsche weiter die Rechten wählen. Ihr wisst nicht, wie es ist, in einer Diktatur zu leben! Ich weiß es. Die politische Situation macht mir Angst, aber ich tue was dagegen, ich engagiere mich beim Bündnis »MTK – Deine Stimme gegen rechts«. Ich finde, jeder muss gegen Rechts aufstehen und seine Meinung sagen. Denn was ihr und eure Eltern in den letzten achtzig Jahren geschafft haben, steht gerade auf dem Spiel.
Ramin Mohabat wurde mit Mitteln des PRO ASYL-Rechtshilfefonds unterstützt, erfolgreich gegen einen zunächst negativen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vorzugehen. Bereits 2017 gab er PRO ASYL ein Interview über seine damalige Lebenssituation: »Wenn du Angst hast, lernst du nicht«.
(er)