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Familiennachzug: Mutmachende Signale aus dem EuGH
Ein syrischer Vater, der in Deutschland als Flüchtling anerkannt wurde, möchte seine Tochter aus dem Kriegsgebiet zu sich holen. Doch im Laufe des Verfahrens ist diese volljährig geworden. Besteht dennoch ein Anspruch auf Familiennachzug?
Das war am 16. Dezember Thema am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg: Generalanwalt Collins hat seine Schlussanträge vorgelegt. Sie sind eine gute Nachricht für viele zerrissene Familien.
Geflüchtete, die in Deutschland Schutz zugesprochen bekommen, kämpfen oft jahrelang darum, ihre engsten Familienangehörigen nachholen zu dürfen. Mal wartet ein Mann auf seine Ehefrau, mal eine Mutter auf ihre Kinder – etwa aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan. Der Familiennachzug steht ihnen rechtlich zu, zieht sich aber in der Praxis häufig viele Jahre hin. Besonders brisant ist das im Falle von Minderjährigen. Erlischt das Recht auf Familiennachzug, wenn sie volljährig werden? Und welcher Zeitpunkt ist dafür entscheidend?
Mit diesen Fragen hat sich Mitte Dezember der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg beschäftigt (Rechtssache C‑279/20). Die Schlussanträge von Generalanwalt Collins, die den Luxemburger Richter*innen für ihr noch ausstehendes Urteil als eine Art Gutachten dienen, geben Grund zur Hoffnung für geflüchtete Familien, die auf den Nachzug ihrer Angehörigen warten. Darin wird deutlich:
Bei der Frage nach Familiennachzug und Volljährigkeit ist der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem von der Person, die in die EU gekommen ist, der Antrag auf Flüchtlingsschutz gestellt wird.
Sind nachziehende Familienmitglieder zu diesem Zeitpunkt minderjährig, haben sie einen Anspruch auf Familiennachzug – auch dann, wenn sie in dem Moment, in dem sie ihren Antrag auf Familiennachzug stellen (können), volljährig sind.
Bundesverwaltungsgericht hat den Fall einer jungen Syrerin zu entscheiden
Der Fall, zu dem Collins am 16. Dezember seine Schlussanträge veröffentlichte, kommt aus Deutschland: Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich mit der Bitte um Klärung an den EuGH gewandt. Geklagt hat eine junge Syrerin, die zu ihrem Vater ziehen möchte, dem in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Ihren Antrag stellte sie aber erst, als sie bereits volljährig war. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Jahren in der Türkei; die Mutter ist verstorben. Zu dem Zeitpunkt, zu dem ihr Vater in Deutschland Flüchtlingsschutz beantragt hatte, war sie hingegen noch minderjährig. Das Bundesverwaltungsgericht möchte insbesondere wissen, ob es nach der Richtlinie beim Kindernachzug zu Flüchtlingen für die Minderjährigkeit des nachzugswilligen Kindes auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des Flüchtlings (hier also des Vaters) ankommt. Zudem will das Bundesverwaltungsgericht vom EuGH wissen, welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen familiären Bindungen zwischen dem inzwischen volljährig gewordenen Kind und dem Flüchtling zu stellen sind.
Generalanwalt Collins zufolge wäre es rechtswidrig, »für die Beurteilung ihrer Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem ihrem Vater die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und nicht auf den Zeitpunkt, zu dem die Flüchtlingseigenschaft entstand. Wäre es anders, könnte das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht werden, die in vollem Umfang den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen wären und zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen.« (RN 55) Ein solcher Ansatz liefe der EU-Grundrechtecharta zuwider. Das bedeutet:
Der Generalanwalt erteilt einer willkürlichen Praxis eine klare Absage, die es Behörden und Gerichten erlauben würde, auf dem Rücken Schutzsuchender die Verfahren absichtlich in die Länge zu ziehen, sodass das Recht auf Familiennachzug in der Praxis für viele Menschen unerreichbar wäre.
Allerdings gibt es durchaus Voraussetzungen für den Nachzug. Die wichtigste ist, dass der Antrag auf Familienzusammenführung nicht später als drei Monate nach der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling gestellt wird. Im konkreten Fall bekam der syrische Vater im Juli 2017 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Flüchtlingsschutz zuerkannt, und seine Tochter stellte am 10. August 2017 am deutschen Generalkonsulat in Istanbul einen Antrag auf Familienzusammenführung – also klar innerhalb der Dreimonatsfrist. Die Bundesregierung hätte dem Antrag der Tochter auf Familienzusammenführung nach Einschätzung von Collins stattgeben müssen.
Zusammenleben unter einem Dach nicht nötig
Zu der Frage des Bundesverwaltungsgerichts, welche Art der familiären Bindungen für den Familiennachzug erforderlich sein müssen, stellt Collins klar, »dass es unangemessen und überzogen wäre, wenn die betroffenen Personen in einem gemeinsamen Haushalt oder unter demselben Dach zusammenleben müssten, um Anspruch auf Familienzusammenführung zu haben«. (Rn. 63) Die zugrunde liegende Richtlinie 2003/86 schreibe »keinerlei Modell oder Norm dafür vor, wie das Familienleben gestaltet sein sollte«. Deshalb schlussfolgert Collins, »es sei für junge Erwachsene völlig normal, von ihren Eltern und sonstigen Familienangehörigen getrennt zu wohnen« (Rn. 64). Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte seien ausreichend, um ihnen die (Wieder-) herstellung oder (Wieder-) aufnahme ihrer familiären Bindungen zu ermöglichen.
Generalanwalt Collins hat mit seinen Schlussanträgen die Rechte von Flüchtlingsfamilien gestärkt. Ob die Luxemburger Richter*innen der Argumentation des Generalanwalts folgen, wie es häufig der Fall ist, bleibt abzuwarten – wann genau das Urteil in der Rechtssache verkündet wird, steht noch nicht fest.
Umgekehrter Fall: Flüchtling in Deutschland wird volljährig – was dann?
Doch wie verhält es sich im umgekehrten Fall, wenn derjenige, dem die Flüchtlingseigenschaft in Deutschland zuerkannt wurde, im Laufe des langen Verfahrens zum Familiennachzug volljährig wird? Dürfen die Eltern dann noch kommen?
PRO ASYL unterstützt beispielsweise einen jungen Afghanen, der auf der Flucht von seiner Familie getrennt wurde und schließlich alleine in Deutschland ankam. Omid war damals zwölf Jahre alt und erhielt hier Schutz als Flüchtling – doch auf seine Familie wartet er noch immer. Sein Vater wurde von den Taliban entführt, von ihm fehlt jede Spur; die Mutter ist mit den drei jüngeren Kindern in den Iran geflüchtet, fürchtet aber eine Abschiebung nach Afghanistan, was für sie als Angehörige einer Minderheit lebensgefährlich ist. Die deutschen Behörden haben den Familiennachzug extrem in die Länge gezogen – dieses Jahr ist Omid volljährig geworden. Erlischt damit das Recht auf Familiennachzug?
Auch diese Frage hat das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH mit der Bitte um Beantwortung vorgelegt. Hierzu wird es gesonderte Schlussanträge geben. Womöglich befasst sich ein anderer Generalanwalt damit, der zu anderen Schlussfolgerungen als Collins kommen könnte. Doch es darf vermutet werden, dass die Schlussanträge zu dieser umgekehrten Fallkonstellation ähnlich ausfallen könnten wie jene, die Mitte Dezember verkündet wurden – also zugunsten der Geflüchteten. Das liegt aus zwei Gründen nahe:
Erstens: Bereits vor einigen Jahren hatte ein niederländisches Gericht dem EuGH diese Frage in einem Vorabentscheidungsverfahren vorgelegt. Im konkreten Fall ging es um eine Eritreerin, die kurz vor ihrem 18. Geburtstag in die Niederlande einreiste, dort einen Asylantrag stellte, der positiv beschieden wurde, und dann – nach Erreichen der Volljährigkeit – ihre Eltern und drei jüngere Brüder nachholen wollte. Hier erklärte der EuGH das Alter zum Zeitpunkt der Einreise als maßgeblich. Richtlinie 2003/86/EG sei dahingehend auszulegen, »dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als »Minderjähriger« im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist«, lautete das Urteil der Richter*innen von April 2018. Die deutsche Regierung ignorierte dieses Urteil bislang und behauptete, die Rechtslage in den Niederlanden sei mit der in Deutschland nicht zu vergleichen.
Hintergrund ist, dass das deutsche Recht den nachziehenden Eltern ein Aufenthaltsrecht nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit des stammberechtigten Kindes zugesteht.
Zweitens: Generalanwalt Collins betont in seinen Schlussanträgen vom 16. Dezember, aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs gehe hervor, »dass der Gerichtshof in konsistenter Weise sichergestellt hat, dass das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um minderjährige Kinder geht, nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder Familienzusammenführung ausgehöhlt werden kann.« (Rn. 42) Er führt weiter aus, dass sowohl die Ziele der Richtlinie zur Familienzusammenführung verletzt würden als auch die Rechtssicherheit untergraben würde, wenn die Beurteilung der Minderjährigkeit und des Rechts auf Familienzusammenführung davon abhängig gemacht würde, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde dem Zusammenführenden die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt. (Rn. 45, 46, 47)
Das lässt darauf schließen, dass es im Lichte der europäischen Gesetzgebung keinen Unterschied macht, ob das nachziehende Familienmitglied im Laufe des Verfahrens volljährig geworden ist – wie die Syrerin, um die es in den Schlussanträgen vom 16. Dezember ging – oder ob ein Jugendlicher, dem in Deutschland Flüchtlingsschutz zuerkannt wurde, volljährig wird, während er auf seine Eltern wartet – so wie Omid: Ob sie beziehungsweise ihre Angehörigen ein Recht auf Familiennachzug haben, hängt davon ab, wie alt sie waren, als der Antrag auf Flüchtlingsschutz gestellt wurde. Das suggerieren zumindest die Schlussanträge von Generalanwalt Collins und die bisherige Rechtsprechung aus Luxemburg. Ob auch die Urteile entsprechend ausfallen werden, bleibt abzuwarten.
(er)