17.09.2025
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Das Lager Amygdaleza Foto: picture alliance/dpa | Yannis Kolesidis

Der Straßburger Gerichtshof hat der aktuellen Aussetzung von Asylverfahren in Griechenland vorerst Einhalt geboten: Mit zwei einstweiligen Anordnungen schützt das Gericht Menschen, denen der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wurde. Im Interview ordnet Minos Mouzourakis, Rechtsanwalt der PRO ASYL-Schwesterorganisation RSA, den wichtigen Erfolg ein.

Lie­ber Minos, du und dei­ne Kolleg*innen von Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) haben erfolg­reich beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) inter­ve­niert. Das Gericht hat wie­der­holt Schutz­su­chen­de in Grie­chen­land vor einer sofor­ti­gen Abschie­bung geschützt, bevor ihre indi­vi­du­el­le Situa­ti­on geprüft wur­de. Wie ist es über­haupt mög­lich, dass Grie­chen­land, ein Mit­glied der EU, die Abschie­bung von Schutz­su­chen­den anord­net, ohne zuvor ihre Situa­ti­on zu prüfen?

Mit­te Juli die­ses Jah­res traf Grie­chen­land die radi­ka­le Ent­schei­dung, Men­schen, die aus Nord­afri­ka – meist über Liby­en – kom­men, den Zugang zu Asyl zu ver­wei­gern. Die Aus­set­zung des Asyl­rechts gilt aktu­ell bis zum 14. Okto­ber für drei Monate.

Die grie­chi­sche Regie­rung reagier­te damit auf einen Anstieg der Ankünf­te auf den süd­grie­chi­schen Inseln Kre­ta und Gav­dos. Wäh­rend die Zah­len der Ankünf­te in ande­ren Tei­len des Lan­des wei­ter­hin gering sind und zurück­ge­hen, hält der Anstieg der Ankünf­te im Süden seit fast zwei Jah­ren an. In die­ser Zeit hat das für die Auf­nah­me und Unter­brin­gung zustän­di­ge grie­chi­sche Minis­te­ri­um es ver­säumt, Struk­tu­ren zu schaf­fen, um grund­le­gen­de Auf­nah­me­stan­dards für Neu­an­kom­men­de zu eta­blie­ren. Es gab ein­fach kei­ne Reak­ti­on – bis jetzt.

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Minos Mouz­ou­ra­kis, Rechts­an­walt der PRO ASYL-Schwes­ter­or­ga­ni­sa­ti­on RSA. Foto: PRO ASYL / Jonas Bickmann

Ange­sichts des geo­gra­fi­schen Fokus dürf­ten unter den Betrof­fe­nen vie­le Schutz­su­chen­de vom afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent sein …

Zu den­je­ni­gen, denen der Zugang zum Ver­fah­ren ver­wehrt wird, gehö­ren vor allem Män­ner, aber auch Frau­en aus dem Sudan, dem Süd­su­dan, dem Jemen und Eri­trea. Das sind Her­kunfts­län­der, die sich in bewaff­ne­ten Kon­flik­ten befin­den und bei denen laut den grie­chi­schen Asyl­be­hör­den die Chan­cen auf Schutz hoch sind. Sie, und alle ande­ren, die über Liby­en kom­men, wer­den inhaf­tiert und von der Außen­welt abgeschnitten.

Nach einer lan­gen und gefähr­li­chen Flucht wer­den sie aufs Fest­land in ein Abschie­be­la­ger gebracht. Eini­ge die­ser Haft­an­stal­ten waren frü­her offe­ne Lager. Schutz­su­chen­de, die unter die Aus­set­zung fal­len, erhal­ten dort sofort eine Rück­füh­rungs­an­ord­nung in ihr Her­kunfts- oder Tran­sit­land. Die­se Rück­füh­rungs­ent­schei­dun­gen wer­den ohne indi­vi­du­el­le Prü­fung der poten­zi­el­len Risi­ken getrof­fen. Wir spre­chen von stan­dar­di­sier­ten For­mu­la­ren – nicht ein­mal das Ziel­land ist spe­zi­fi­ziert. Die Situa­ti­on ist sehr ähn­lich zu der, die wir im März 2020 bei der rechts­wid­ri­gen Aus­set­zung des Zugangs zum Asyl­ver­fah­ren erlebt haben. Erneut haben wir es nicht nur mit der Aus­set­zung des Asyl­ver­fah­rens, son­dern auch mit der Ent­schei­dung zur sofor­ti­gen Abschie­bung zu tun.

Seit der Aus­set­zung wur­den Schät­zun­gen zufol­ge bereits 1.000 Men­schen inhaf­tiert. Wie sind die Haftbedingungen?

Wir ste­hen haupt­säch­lich mit Asyl­su­chen­den in Kon­takt, die im Nor­den Athens in der Abschie­be­haft Amyg­da­le­za inhaf­tiert sind. Nach den Berich­ten, die wir von dort, aber auch aus ver­schie­de­nen ande­ren Abschie­be­haft­an­stal­ten erhal­ten, ist die Lage alarmierend.

Selbst nach Tagen und Wochen tra­gen eini­ge inhaf­tier­te Asyl­su­chen­de immer noch die Klei­der, in denen sie in Grie­chen­land ange­kom­men sind. Sie erhal­ten weder sau­be­re Klei­der noch sau­be­re Bett­wä­sche. Amyg­da­le­za besteht aus Con­tai­nern, die nur dürf­tig in Stand gehal­ten wer­den. Eini­ge von ihnen sind auf­grund von Schä­den unbe­wohn­bar, in ande­ren gibt es weder flie­ßen­des Was­ser noch Strom oder eine Kli­ma­an­la­ge. Die Men­schen kön­nen nicht ein­mal duschen und lei­den unter den extre­men Tem­pe­ra­tu­ren im Som­mer. Die Auf­recht­erhal­tung der per­sön­li­chen Hygie­ne wird so extrem schwie­rig. Die Geflüch­te­ten in Haft sind von der Außen­welt abge­schnit­ten. Nur weni­ge haben noch ihre Mobil­te­le­fo­ne. Doch auch für sie ist der Kon­takt zur Außen­welt extrem eingeschränkt.

In die­ser Situa­ti­on lei­test du und dei­ne Kolleg*innen von Refu­gee Sup­port Aege­an recht­li­che Schrit­te ein. Kannst du beschrei­ben, wie das aussieht? 

Wir von RSA und Kolleg*innen von ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen bemü­hen uns, Schutz­su­chen­de zunächst über ihre aktu­el­le Situa­ti­on, ihre Rech­te und mög­li­che recht­li­che Schrit­te auf­zu­klä­ren. Wir ver­su­chen, ihnen den Zugang zum Asyl­sys­tem zu ermög­li­chen – das ist ein Men­schen­recht, das nie­mals genom­men wer­den darf. Dafür unter­stüt­zen wir Betrof­fe­ne per­sön­lich und schrift­lich in Grie­chen­land einen Asyl­an­trag ein­zu­rei­chen. Das wird natür­lich ignoriert.

Ich möch­te beto­nen, dass dies in einer Situa­ti­on geschieht, in der es in Abschie­be­haft kei­ne kos­ten­lo­se Rechts­be­ra­tung gibt. Grie­chen­land ist eigent­lich ver­pflich­tet, recht­li­chen Bei­stand in Haft anzu­bie­ten, aber es gibt kein Rechts­hil­fe­sys­tem. Tau­sen­de von Men­schen in Haft soll­ten Zugang zu einem Anwalt haben, sind aber wei­ter­hin nicht­ver­tre­ten. Die Zivil­ge­sell­schaft springt ein und ver­sucht, betrof­fe­ne Men­schen dabei zu unter­stüt­zen ihre Rech­te wahr­zu­neh­men. Aber natür­lich sind unse­re Kapa­zi­tä­ten zu gering, um den Bedarf zu decken.

Anstel­le eines Asyl­ver­fah­rens erhal­ten die Men­schen, denen Sie in der Haft begeg­nen, also stan­dar­di­sier­te Rückführungsentscheidungen?

Ja. Ihre Abschie­bung, ent­we­der in ihr Hei­mat­land oder in das Tran­sit­land, wird ange­ord­net – ohne vor­her zu prü­fen, ob sie dort sicher oder mög­li­cher­wei­se Risi­ken aus­ge­setzt sind. Selbst wenn es einer asyl­su­chen­den Per­son gelingt, inner­halb der extrem kur­zen Frist von fünf Tagen gegen die­se Ent­schei­dung Beru­fung ein­zu­le­gen und vor Gericht eine gericht­li­che Über­prü­fung zu bean­tra­gen, schützt sie das nicht vor der Abschie­bung. Dies ist eine erheb­li­che und bekann­te Lücke im Rechts­schutz in Grie­chen­land. Um unse­re Man­dan­ten vor der Abschie­bung zu schüt­zen, bis der Fall vom inner­staat­li­chen Gericht ord­nungs­ge­mäß geprüft wur­de, haben wir den Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te um einst­wei­li­ge Maß­nah­men ersucht.

Sie spre­chen von der ers­ten einst­wei­li­gen Anord­nung, die der Gerichts­hof am 14. August erlas­sen hat? 

Ja. Am 14. August hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te das Recht von acht Flücht­lin­gen aus dem Sudan gesi­chert. Ihr Auf­ent­halt im Land ist so lan­ge zu wah­ren, bis das Ver­wal­tungs­ge­richt ihre Aus­set­zungs­an­trä­ge gegen die Abschie­bungs­an­ord­nung geprüft hat. Es war das ers­te Mal seit Juli, dass die Acht tat­säch­lich vor der Abschie­bung und den Gefah­ren, denen sie in ihrem Hei­mat- oder Tran­sit­land aus­ge­setzt sein könn­ten, geschützt wur­den. Die­se Anord­nung signa­li­siert auch die Aner­ken­nung der ernst­haf­ten Risi­ken, denen die acht Per­so­nen bei einer Abschie­bung aus­ge­setzt sind und die einen trif­ti­gen Grund für ihre Asyl­an­trä­ge dar­stel­len. Vier der Antrag­stel­ler wer­den von Refu­gee Sup­port Aege­an ver­tre­ten, vier von ihnen vom Grie­chi­schen Flüchtlingsrat.

Nur weni­ge Wochen spä­ter, am 29. August, erhiel­ten Sie eine wei­te­re Ent­schei­dung über eine einst­wei­li­ge Anord­nung des EGMRs im Fall von vier eri­tre­ischen Flücht­lin­gen. Hat das Gericht genau­so entschieden?

Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te ging dies­mal noch wei­ter. Er beton­te, dass vier Flücht­lin­gen aus Eri­trea gestat­tet wer­den muss, in Grie­chen­land zu blei­ben, bis sie Zugang zu Asyl­ver­fah­ren erhal­ten haben. Die Poli­zei hat­te zuvor die Ein­sprü­che der von RSA ver­tre­te­nen Flücht­lin­ge gegen die Rück­füh­rungs­an­ord­nung ohne Prü­fung abge­lehnt, da sie nach Ablauf der fünf­tä­gi­gen Frist ein­ge­reicht wor­den waren.

Die Ent­schei­dung des Gerichts kommt nicht über­ra­schend. RSA, PRO ASYL und 107 Orga­ni­sa­tio­nen haben die Aus­set­zung als kla­ren Ver­stoß gegen ver­bind­li­ches inter­na­tio­na­les Men­schen­rechts­recht sowie EU-Recht scharf verurteilt.

Die Aus­set­zung hat nicht nur in Grie­chen­land, son­dern auch in der EU und auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne schar­fe Kri­tik her­vor­ge­ru­fen. Unter ande­rem haben sich die grie­chi­sche Men­schen­rechts­kom­mis­si­on, die Ver­ei­ni­gung grie­chi­scher Verwaltungsrichter*innen und Mitarbeiter*innen des grie­chi­schen Migra­ti­ons­mi­nis­te­ri­ums sowie der Men­schen­rechts­kom­mis­sar des Euro­pa­ra­tes und das UNHCR gegen die Ent­schei­dung ausgesprochen.

Das Schwei­gen der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on, deren insti­tu­tio­nel­le Auf­ga­be es ist, die Ein­hal­tung der Ver­trä­ge und Vor­schrif­ten der Euro­päi­schen Uni­on sicher­zu­stel­len, ist jedoch auf­fäl­lig. Seit Inkraft­tre­ten der Aus­set­zung sind nun schon zwei Mona­te ver­gan­gen. Die Kom­mis­si­on hat bis­lang ledig­lich erklärt, dass sie die Ver­fah­rens­wei­se beob­ach­tet, wäh­rend Grie­chen­land mit einer außer­ge­wöhn­li­chen Situa­ti­on kon­fron­tiert sei. Die­se Hal­tung ist unver­bind­lich und wird von der grie­chi­schen Regie­rung als Unter­stüt­zung interpretiert.

Stop­pen die Ent­schei­dun­gen des Gerichts die Plä­ne Griechenlands?

Das ist schwer zu beur­tei­len. Wir haben wenig Hoff­nung, dass es auf poli­ti­scher Ebe­ne zu einer Über­prü­fung kom­men wird. Die Regie­rung hat bereits Inter­es­se an einer Ver­län­ge­rung der Aus­set­zung bekundet.

Aber zumin­dest ist bis­lang kei­ne tat­säch­li­che Abschie­bung bekannt. Wenn wir in die Ver­gan­gen­heit bli­cken, wur­de auch im März 2020 nie­mand wirk­lich abge­scho­ben. Den­noch dau­ert das unnö­ti­ge mensch­li­che Leid und die unnö­ti­gen Rechts­ver­let­zun­gen an, nur um die Asyl­an­trä­ge der der­zeit inhaf­tier­ten Men­schen dann spä­ter zu bear­bei­ten. Und ich möch­te hin­zu­fü­gen, dass dies auch eine unnö­ti­ge Belas­tung für die Ver­wal­tung dar­stellt. Es ist eine Sache, Asyl­an­trä­ge nach­ein­an­der zu prü­fen, und eine ande­re, Tau­sen­de auf ein­mal zu erhal­ten, wenn die Aus­set­zung schließ­lich endet.

Gleich­zei­tig könn­ten die Rück­füh­rungs­an­ord­nun­gen jeder­zeit voll­streckt wer­den, Abschie­bun­gen könn­ten jeder­zeit statt­fin­den. Das ist die rea­le Bedro­hung und die Rea­li­tät, die die Men­schen erleben.

»Den­noch dau­ert das unnö­ti­ge mensch­li­che Leid und die unnö­ti­gen Rechts­ver­let­zun­gen an«

Nach der ers­ten Inter­ven­ti­on des Gerichts­hofs behaup­te­ten Regie­rungs­ver­tre­ter, ihrer Mei­nung nach wür­den die an den Fäl­len betei­lig­ten Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen unter­gra­ben. Orga­ni­sa­tio­nen wie Refu­gee Sup­port Aege­an wer­den also ins Visier genommen.

Die jüngs­ten Äuße­run­gen rich­ten sich nicht nur gegen zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, die Men­schen beim Zugang zu ihren gesetz­li­chen Rech­ten unter­stüt­zen, son­dern unter­gra­ben auch das indi­vi­du­el­le Recht auf Rechts­be­hel­fe, gericht­li­che Kon­trol­le und Rechts­staat­lich­keit im wei­te­ren Sinne.

Die Regie­rung kün­dig­te zudem auch Plä­ne an, die Regis­trie­rungs­vor­schrif­ten für NGOs zu ver­schär­fen. Seit fünf Jah­ren steht das berüch­tig­te NGO-Regis­ter an vor­ders­ter Front der Bemü­hun­gen, die Hand­lungs­fä­hig­keit zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen ein­zu­schrän­ken. Nach der Ent­schei­dung des EGMR hat der Migra­ti­ons­mi­nis­ter die Zivil­ge­sell­schaft ins Visier genom­men und in Aus­sicht gestellt, Orga­ni­sa­tio­nen, die Asylbewerber*innen bei der Anfech­tung staat­li­cher Ent­schei­dun­gen unter­stüt­zen, aus dem Regis­ter zu strei­chen. Dies hät­te mas­si­ve Aus­wir­kun­gen auf unse­re Arbeits­fä­hig­keit, da die Regis­trie­rung eine Vor­aus­set­zung für jeg­li­che Tätig­keit im Bereich Asyl und Migra­ti­on ist. Die bereits bestehen­de man­geln­de Unter­stüt­zung wür­de so noch verschärfen.

Wir neh­men die­se Dro­hun­gen sehr ernst. Wir haben uns an natio­na­le, EU- und inter­na­tio­na­le Insti­tu­tio­nen gewandt, um sicher­zu­stel­len, dass dies nicht nur klar doku­men­tiert, son­dern auch als Angriff auf die Rechts­staat­lich­keit im Land ver­ur­teilt wird. Wir wer­den unse­re Mandant*innen wei­ter­hin ver­tre­ten und dabei unter­stüt­zen, ihre Rech­te ein­zu­for­dern. Damit ver­tei­di­gen wir auch die Rechtsstaatlichkeit.