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»Es reicht ein Geräusch, ein Blick, ein Formular – und alles ist wieder da«

Minire Neziri wurde abgeschoben, damals war sie 14. Mit 23 verfasste sie einen Text über diesen schrecklichen Tag im Juni 2005. Mit 28 kam sie nach Deutschland zurück. Aber bis heute wirken die Erfahrungen von damals nach. Darüber schreibt sie jetzt in ihrem neuen Text "Ankommen".
Ankommen…
Es war der 21. Juni 2005 … zwanzig Jahre sind seit der Abschiebung vergangen. Ich war damals erst 14. Verdammt. Jetzt bin ich 34. Und trotzdem reicht auch heute noch ein Geräusch, ein Blick, ein Formular – und alles ist wieder da. Alles.
Trauma. Manchmal ist es schwer, so etwas beim Namen zu nennen. Aber Schönreden bringt auch nichts. Ein Trauma ist eine starke psychische Erschütterung, die im Unterbewusstsein noch lange nachwirkt. Aber wie lange eigentlich? Wie lange trägt man etwas mit sich herum, das längst vorbei sein sollte? Wie lange wirkt etwas nach, das offiziell abgeschlossen ist – auf dem Papier, nicht im Kopf?
Ich dachte, irgendwann würde es leichter werden. Irgendwann würde das Zittern aufhören, die Enge im Brustkorb, das Gefühl, nie ganz dazuzugehören – weder dort, noch hier. Aber so funktioniert das nicht. So einfach ist das nicht. Trauma hat kein Ablaufdatum. Und manchmal – das ist das Bitterste daran – hat auch das Ankommen keins.
»Für viele ist das wahrscheinlich schwer nachvollziehbar, aber ich denke oft an diesen Tag – an meine Abschiebung. Es kann eine laut zuknallende Tür sein. Ein Polizist, der mir auf der Straße entgegenläuft. Ein Blick, der mich von oben bis unten mustert.«
Übertreib doch nicht.
Das ist so lange her.
Das ist Vergangenheit.
Andere haben’s viel schlimmer.
Du bist doch wieder hier.
Du bist jetzt sicher.
Wie oft ich solche Sätze gehört habe. Noch immer höre. Ich bin jetzt sicher … aber bin ich das wirklich? Und wenn es so ist – warum fühlt es sich dann nicht so an?
Für viele ist das wahrscheinlich schwer nachvollziehbar, aber ich denke oft an diesen Tag – an meine Abschiebung. Unfreiwillig, natürlich. Es kann eine laut zuknallende Tür sein. Ein Polizist, der mir auf der Straße entgegenläuft. Ein Blick, der mich von oben bis unten mustert. Das schrille Weinen eines Babys. Alltägliche, beinahe banale Dinge. Und doch lösen sie bei mir etwas aus. Sie triggern mich, katapultieren mich gedanklich zurück in eine Zeit, in die ich nie wieder zurückwill.
Ich war weg.
14 lange Jahre.
Abgeschoben in ein mir fremdes Land. Herausgerissen aus meiner vertrauten Umgebung, dem einzigen Leben, das ich kannte. Und da saß ich dann – mit kindlicher, unschuldiger Hoffnung – und suchte nach dem Sinn dieses »neuen Lebens«. Vergeblich.
Ja, jetzt bin ich wieder hier. Zurück in Deutschland. Seit November 2019 sogar schon. Nicht mehr als Kind, nein – auch nicht in Polizeibegleitung. Ich kam mit einem Visum. Mit Papieren. Mit einem Ausbildungsvertrag in der Hand. Ich kam, um mir das zurückzuholen, was mir damals genommen wurde: ein Leben. Oder wenigstens die Chance auf eines.
Ich habe die Ausbildung durchgezogen. Trotz allem. Trotz des unsagbaren Drucks, der ständigen Angst. Trotz der inneren Stimme, die mir immer wieder sagte: Wenn du jetzt schlappmachst, wenn du versagst – dann war alles umsonst. Ich hatte keinen Raum für Fehler – nicht wie andere. Für sie wäre ein Ausbildungsabbruch eine Station gewesen, ein Umweg. Für mich: das Ende.
Und oh, wie oft ich ans Aufgeben gedacht habe. Wie oft ich heulend in meinem Zimmer saß. Wie oft ich mit dem Gedanken gespielt habe, meinen Koffer zu packen. Aber ich habe durchgehalten. Ich habe mich durchgeboxt. Durch die Bürokratie. Durch ein System, das einem immer wieder Steine in den Weg legt. Unsichtbare Hürden, an denen man immer wieder stolpert. Auflagen. Termine. Endloser Papierkram. Immer wieder neue Formulare, neue Anträge, neue Fristen – die dir das Gefühl geben, du würdest durch Zement laufen.
»Ich stehe immer wieder vor meterhohen Mauern. […] Ständig muss ich mich beweisen. Alles doppelt. Dass ich fleißig bin. Dankbar.
Unauffällig. Nicht versage.«
Erst vor ein paar Monaten stand ich wieder beim Amt für Migration. 100 Kilometer Hin- und Rückfahrt. Wofür? Für eine Arbeitserlaubnis, um neben meinem Vollzeitjob einen Minijob ausüben zu dürfen – weil mein Aufenthaltstitel mich jahrelang an eine bestimmte Branche bindet. Als wäre ich kein Mensch, sondern ein Produkt. Nur eine Fachkraft. Diese Absurdität muss man sich mal vorstellen: Man will arbeiten, will mehr machen – und muss BITTEN. Kämpfen. Für Dinge, die für andere selbstverständlich sind.
Ich stehe immer wieder vor meterhohen Mauern. Das ist keine Integration. Das ist Ignoranz. Es ist ein System, das dich nicht sieht – und durch das es keine Heilung gibt. Ständig muss ich mich beweisen. Alles doppelt. Dass ich fleißig bin. Dankbar. Unauffällig. Nicht versage.
Und ja – ich habe es geschafft. Direkt beim ersten Versuch habe ich die Ausbildung abgeschlossen. Seit zweieinhalb Jahren bin ich Fachkraft. Ich zahle Steuern. Steuern, mit denen damals Abschiebungen wie meine finanziert wurden … und noch heute werden. Abschiebekosten, die ich selbst – 14 Jahre später – als “Schulden an den Staat” zurückzahlen musste. Ironie des Lebens: Dass ich für meine eigene, unfreiwillige Entwurzelung bezahlen musste, war Voraussetzung, um überhaupt wieder Wurzeln schlagen zu dürfen.
Wurzeln schlagen ist auch so eine Sache. Egal, wie sehr man es will. Egal, wie sehr man es fühlt – es gibt Dinge, die ändern sich nicht. Ein Name, der für viele ein Zungenbrecher ist. Eine zu dunkle Haut. Zu dunkle Haare. Es reicht nie. Nicht, hier geboren zu sein. Nicht, sich deutsch zu fühlen, deutsch zu denken, voll integriert zu sein, diverse Sprachniveaus gelernt zu haben. Auch ein deutscher Pass wird nichts daran ändern, dass ich für viele immer die Ausländerin bleiben werde. Die mit dem Migrationshintergrund.
Und das spürt man. Täglich. Gerade in dieser politischen Lage. In einem Land, das sich – so modern und divers es auch scheint – immer weiter nach rechts bewegt. Wo rechtsradikale Kräfte Stück für Stück die Oberhand gewinnen. Wo rassistische und diskriminierende Parolen nicht nur gesagt, sondern beklatscht werden.
Ich glaube, Worte haben Macht – leider nicht nur im positiven Sinn. Oft sind es scheinbar harmlose Sätze:
»Dein Deutsch ist aber echt gut.«
»Du siehst gar nicht muslimisch aus.«
Struktureller, unterschwelliger Rassismus. Alltagsdiskriminierung. Viele meinen es nicht böse. Denken, sie machen einem ein Kompliment. Aber solche Sätze zeigen, wie tief Vorurteile wirklich sitzen. Sie brennen sich ein. Als würde man Öl in ein nie ganz gelöschtes Feuer gießen. Und es brennt. Tief unter der Haut, auch wenn sonst alles ruhig scheint.
Ich erinnere mich an einen Moment im Bürgerbüro – als wäre es gestern. Gut gelaunt lief ich mit meinen Dokumenten rein. In der Hand: der Antrag auf Einbürgerung. Nach all den Jahren. Nach der Rückkehr, der Ausbildung, dem ganzen Papierkram, der Selbstbeherrschung – wollte ich den letzten Schritt gehen. Staatsbürgerin werden. Ich saß da, geduldig, während die Sachbearbeiterin meine Unterlagen durchsah. Sie las meinen Geburtsort vor.
»Ellwangen?«, fragte sie irritiert. Ich nickte.
Kein Fehler. »Ich bin gebürtige Deutsche«, sagte ich.
Sie lachte. Nicht bösartig, wirklich nicht. Aber auch nicht harmlos. »Wenn Sie gebürtige Deutsche wären, dann würden Sie jetzt nicht hier sitzen.«
Bam. Das hat gesessen. Ich lachte peinlich berührt auf. Und sie blätterte weiter. Als wäre nichts gewesen.
Warum tut so ein einfacher Satz so weh? Warum zieht sich mein Inneres noch Monate später zusammen, wenn ich daran denke? Weil sie im Grunde recht hatte. Ich saß da – im Ausländeramt – als Ausländerin. Trotz allem. Ich habe eine Rechnung bezahlt, die ich nie unterschrieben habe. Ich habe die Sprache nie verlernt, obwohl ich sie mir selbst erhalten musste. Ich habe zurückgefunden – ohne dass jemand wirklich auf mich gewartet hat.
Und trotzdem muss ich mich rechtfertigen. Mich beweisen. Immer wieder. Solche Aussagen sind nicht nur verletzend. Sie sind entwertend. Sie zeigen mir: Es wird nie ganz reichen. Ich werde nie ganz reichen. Nicht, wenn du perfekt sprichst. Dich anpasst. Alles richtig machst. Sogar deutsch denkst. Nicht einmal, wenn du hier geboren bist. Du wirst deine eigene Identität immer wieder infrage stellen.
»Keine Angst mehr vor einem Abschiebebrief. Keine Polizisten mehr, die nachts vor der Tür stehen. Keine Koffer im Flur – nur für den Fall.«
Ich merke, wie sehr all das mein Leben beeinflusst. Meine Ängste. Meine Unsicherheiten. Das tiefe, intensive Fühlen. Das ständige Zweifeln. Das ständige »Niemandem zur Last fallen«. All das wurzelt in der Vergangenheit.
Und jetzt warte ich – mal wieder. Aber diesmal ist es ein anderes Warten. Jetzt, zwei Jahrzehnte nach jener Nacht, die mein Leben in ein Davor und ein Danach geschnitten hat, warte ich ohne Angst. Keine Angst mehr vor einem Abschiebebrief. Keine Polizisten mehr, die nachts vor der Tür stehen. Keine Koffer im Flur – nur für den Fall.
Der Antrag auf Niederlassung ist gestellt. Die Einbürgerung läuft. Zum ersten Mal hängt meine Zukunft nicht mehr an einer Duldung, an einem Aktenzeichen, an der Gnade eines Sachbearbeiters. Bald ist mein Hiersein nicht mehr an tausend Bedingungen geknüpft.
Bald – ganz bald – kann ich sagen: Ich habe es geschafft. Ich bin angekommen. Vielleicht nicht ganz. Vielleicht nie ganz. Aber mehr als je zuvor.
Ankommen…
ist ein riesengroßes Wort.
Ankommen ist Heimat.
Und wo die ist, entscheidet kein Papier. Keine Behörde.
Ankommen ist dein Platz. Dein Sitz. Dein Zuhause.
Und dein Herz wird dir hier die einzig richtige Antwort liefern.
(Minire Neziri)
Minire Neziri, geboren 1991 in Ellwangen, lebt und arbeitet heute in Süddeutschland. Nach ihrer Abschiebung im Jahr 2005 kehrte sie 2019 mit Visum nach Deutschland zurück, absolvierte erfolgreich eine Ausbildung und veröffentlichte seither mehrere autobiografische Texte. 2014 erschien ein Erfahrungsbericht bei Pro Asyl, 2017 gab sie ein Interview für den WDR, 2018 wurde ihre Kurzgeschichte in einer Anthologie des SadWolf Verlags veröffentlicht. Ihr Text »Heimat«, den sie während ihrer Ausbildung schrieb, wurde von PRO ASYL geteilt. Instagram: Minire Neziri