01.07.2025
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Die Autorin Minire Neziri. Foto: privat

Minire Neziri wurde abgeschoben, damals war sie 14. Mit 23 verfasste sie einen Text über diesen schrecklichen Tag im Juni 2005. Mit 28 kam sie nach Deutschland zurück. Aber bis heute wirken die Erfahrungen von damals nach. Darüber schreibt sie jetzt in ihrem neuen Text "Ankommen".

Ankommen…

Es war der 21. Juni 2005 … zwan­zig Jah­re sind seit der Abschie­bung ver­gan­gen. Ich war damals erst 14. Ver­dammt. Jetzt bin ich 34. Und trotz­dem reicht auch heu­te noch ein Geräusch, ein Blick, ein For­mu­lar – und alles ist wie­der da. Alles.

Trau­ma. Manch­mal ist es schwer, so etwas beim Namen zu nen­nen. Aber Schön­re­den bringt auch nichts. Ein Trau­ma ist eine star­ke psy­chi­sche Erschüt­te­rung, die im Unter­be­wusst­sein noch lan­ge nach­wirkt. Aber wie lan­ge eigent­lich? Wie lan­ge trägt man etwas mit sich her­um, das längst vor­bei sein soll­te? Wie lan­ge wirkt etwas nach, das offi­zi­ell abge­schlos­sen ist – auf dem Papier, nicht im Kopf?

Ich dach­te, irgend­wann wür­de es leich­ter wer­den. Irgend­wann wür­de das Zit­tern auf­hö­ren, die Enge im Brust­korb, das Gefühl, nie ganz dazu­zu­ge­hö­ren – weder dort, noch hier. Aber so funk­tio­niert das nicht. So ein­fach ist das nicht. Trau­ma hat kein Ablauf­da­tum. Und manch­mal – das ist das Bit­ters­te dar­an – hat auch das Ankom­men keins.

»Für vie­le ist das wahr­schein­lich schwer nach­voll­zieh­bar, aber ich den­ke oft an die­sen Tag – an mei­ne Abschie­bung. Es kann eine laut zuknal­len­de Tür sein. Ein Poli­zist, der mir auf der Stra­ße ent­ge­gen­läuft. Ein Blick, der mich von oben bis unten mustert.«

Mini­re Neziri

Über­treib doch nicht. 

Das ist so lan­ge her. 

Das ist Vergangenheit. 

Ande­re haben’s viel schlimmer. 

Du bist doch wie­der hier. 

Du bist jetzt sicher.

Wie oft ich sol­che Sät­ze gehört habe. Noch immer höre. Ich bin jetzt sicher … aber bin ich das wirk­lich? Und wenn es so ist – war­um fühlt es sich dann nicht so an?

Für vie­le ist das wahr­schein­lich schwer nach­voll­zieh­bar, aber ich den­ke oft an die­sen Tag – an mei­ne Abschie­bung. Unfrei­wil­lig, natür­lich. Es kann eine laut zuknal­len­de Tür sein. Ein Poli­zist, der mir auf der Stra­ße ent­ge­gen­läuft. Ein Blick, der mich von oben bis unten mus­tert. Das schril­le Wei­nen eines Babys. All­täg­li­che, bei­na­he bana­le Din­ge. Und doch lösen sie bei mir etwas aus. Sie trig­gern mich, kata­pul­tie­ren mich gedank­lich zurück in eine Zeit, in die ich nie wie­der zurückwill.

Ich war weg.

14 lan­ge Jahre.

Abge­scho­ben in ein mir frem­des Land. Her­aus­ge­ris­sen aus mei­ner ver­trau­ten Umge­bung, dem ein­zi­gen Leben, das ich kann­te. Und da saß ich dann – mit kind­li­cher, unschul­di­ger Hoff­nung – und such­te nach dem Sinn die­ses »neu­en Lebens«. Vergeblich.

Ja, jetzt bin ich wie­der hier. Zurück in Deutsch­land. Seit Novem­ber 2019 sogar schon. Nicht mehr als Kind, nein – auch nicht in Poli­zei­be­glei­tung. Ich kam mit einem Visum. Mit Papie­ren. Mit einem Aus­bil­dungs­ver­trag in der Hand. Ich kam, um mir das zurück­zu­ho­len, was mir damals genom­men wur­de: ein Leben. Oder wenigs­tens die Chan­ce auf eines.

Ich habe die Aus­bil­dung durch­ge­zo­gen. Trotz allem. Trotz des unsag­ba­ren Drucks, der stän­di­gen Angst. Trotz der inne­ren Stim­me, die mir immer wie­der sag­te: Wenn du jetzt schlapp­machst, wenn du ver­sagst – dann war alles umsonst. Ich hat­te kei­nen Raum für Feh­ler – nicht wie ande­re. Für sie wäre ein Aus­bil­dungs­ab­bruch eine Sta­ti­on gewe­sen, ein Umweg. Für mich: das Ende.

Und oh, wie oft ich ans Auf­ge­ben gedacht habe. Wie oft ich heu­lend in mei­nem Zim­mer saß. Wie oft ich mit dem Gedan­ken gespielt habe, mei­nen Kof­fer zu packen. Aber ich habe durch­ge­hal­ten. Ich habe mich durch­ge­boxt. Durch die Büro­kra­tie. Durch ein Sys­tem, das einem immer wie­der Stei­ne in den Weg legt. Unsicht­ba­re Hür­den, an denen man immer wie­der stol­pert. Auf­la­gen. Ter­mi­ne. End­lo­ser Papier­kram. Immer wie­der neue For­mu­la­re, neue Anträ­ge, neue Fris­ten – die dir das Gefühl geben, du wür­dest durch Zement laufen.

»Ich ste­he immer wie­der vor meter­ho­hen Mau­ern. […] Stän­dig muss ich mich bewei­sen. Alles dop­pelt. Dass ich flei­ßig bin. Dankbar.
Unauf­fäl­lig. Nicht versage.«

Mini­re Neziri

Erst vor ein paar Mona­ten stand ich wie­der beim Amt für Migra­ti­on. 100 Kilo­me­ter Hin- und Rück­fahrt. Wofür? Für eine Arbeits­er­laub­nis, um neben mei­nem Voll­zeit­job einen Mini­job aus­üben zu dür­fen – weil mein Auf­ent­halts­ti­tel mich jah­re­lang an eine bestimm­te Bran­che bin­det. Als wäre ich kein Mensch, son­dern ein Pro­dukt. Nur eine Fach­kraft. Die­se Absur­di­tät muss man sich mal vor­stel­len: Man will arbei­ten, will mehr machen – und muss BITTEN. Kämp­fen. Für Din­ge, die für ande­re selbst­ver­ständ­lich sind.

Ich ste­he immer wie­der vor meter­ho­hen Mau­ern. Das ist kei­ne Inte­gra­ti­on. Das ist Igno­ranz. Es ist ein Sys­tem, das dich nicht sieht – und durch das es kei­ne Hei­lung gibt. Stän­dig muss ich mich bewei­sen. Alles dop­pelt. Dass ich flei­ßig bin. Dank­bar. Unauf­fäl­lig. Nicht versage.

Und ja – ich habe es geschafft. Direkt beim ers­ten Ver­such habe ich die Aus­bil­dung abge­schlos­sen. Seit zwei­ein­halb Jah­ren bin ich Fach­kraft. Ich zah­le Steu­ern. Steu­ern, mit denen damals Abschie­bun­gen wie mei­ne finan­ziert wur­den … und noch heu­te wer­den. Abschie­be­kos­ten, die ich selbst – 14 Jah­re spä­ter – als “Schul­den an den Staat” zurück­zah­len muss­te. Iro­nie des Lebens: Dass ich für mei­ne eige­ne, unfrei­wil­li­ge Ent­wur­ze­lung bezah­len muss­te, war Vor­aus­set­zung, um über­haupt wie­der Wur­zeln schla­gen zu dürfen.

Wur­zeln schla­gen ist auch so eine Sache. Egal, wie sehr man es will. Egal, wie sehr man es fühlt – es gibt Din­ge, die ändern sich nicht. Ein Name, der für vie­le ein Zun­gen­bre­cher ist. Eine zu dunk­le Haut. Zu dunk­le Haa­re. Es reicht nie. Nicht, hier gebo­ren zu sein. Nicht, sich deutsch zu füh­len, deutsch zu den­ken, voll inte­griert zu sein, diver­se Sprach­ni­veaus gelernt zu haben. Auch ein deut­scher Pass wird nichts dar­an ändern, dass ich für vie­le immer die Aus­län­de­rin blei­ben wer­de. Die mit dem Migrationshintergrund.

Und das spürt man. Täg­lich. Gera­de in die­ser poli­ti­schen Lage. In einem Land, das sich – so modern und divers es auch scheint – immer wei­ter nach rechts bewegt. Wo rechts­ra­di­ka­le Kräf­te Stück für Stück die Ober­hand gewin­nen. Wo ras­sis­ti­sche und dis­kri­mi­nie­ren­de Paro­len nicht nur gesagt, son­dern beklatscht werden.

Ich glau­be, Wor­te haben Macht – lei­der nicht nur im posi­ti­ven Sinn. Oft sind es schein­bar harm­lo­se Sätze:

»Dein Deutsch ist aber echt gut.«

»Du siehst gar nicht mus­li­misch aus.«

Struk­tu­rel­ler, unter­schwel­li­ger Ras­sis­mus. All­tags­dis­kri­mi­nie­rung. Vie­le mei­nen es nicht böse. Den­ken, sie machen einem ein Kom­pli­ment. Aber sol­che Sät­ze zei­gen, wie tief Vor­ur­tei­le wirk­lich sit­zen. Sie bren­nen sich ein. Als wür­de man Öl in ein nie ganz gelösch­tes Feu­er gie­ßen. Und es brennt. Tief unter der Haut, auch wenn sonst alles ruhig scheint.

Ich erin­ne­re mich an einen Moment im Bür­ger­bü­ro – als wäre es ges­tern. Gut gelaunt lief ich mit mei­nen Doku­men­ten rein. In der Hand: der Antrag auf Ein­bür­ge­rung. Nach all den Jah­ren. Nach der Rück­kehr, der Aus­bil­dung, dem gan­zen Papier­kram, der Selbst­be­herr­schung – woll­te ich den letz­ten Schritt gehen. Staats­bür­ge­rin wer­den. Ich saß da, gedul­dig, wäh­rend die Sach­be­ar­bei­te­rin mei­ne Unter­la­gen durch­sah. Sie las mei­nen Geburts­ort vor.

»Ell­wan­gen?«, frag­te sie irri­tiert. Ich nickte.

Kein Feh­ler. »Ich bin gebür­ti­ge Deut­sche«, sag­te ich.

Sie lach­te. Nicht bös­ar­tig, wirk­lich nicht. Aber auch nicht harm­los. »Wenn Sie gebür­ti­ge Deut­sche wären, dann wür­den Sie jetzt nicht hier sitzen.«

Bam. Das hat geses­sen. Ich lach­te pein­lich berührt auf. Und sie blät­ter­te wei­ter. Als wäre nichts gewesen.

War­um tut so ein ein­fa­cher Satz so weh? War­um zieht sich mein Inne­res noch Mona­te spä­ter zusam­men, wenn ich dar­an den­ke? Weil sie im Grun­de recht hat­te. Ich saß da – im Aus­län­der­amt – als Aus­län­de­rin. Trotz allem. Ich habe eine Rech­nung bezahlt, die ich nie unter­schrie­ben habe. Ich habe die Spra­che nie ver­lernt, obwohl ich sie mir selbst erhal­ten muss­te. Ich habe zurück­ge­fun­den – ohne dass jemand wirk­lich auf mich gewar­tet hat.

Und trotz­dem muss ich mich recht­fer­ti­gen. Mich bewei­sen. Immer wie­der. Sol­che Aus­sa­gen sind nicht nur ver­let­zend. Sie sind ent­wer­tend. Sie zei­gen mir: Es wird nie ganz rei­chen. Ich wer­de nie ganz rei­chen. Nicht, wenn du per­fekt sprichst. Dich anpasst. Alles rich­tig machst. Sogar deutsch denkst. Nicht ein­mal, wenn du hier gebo­ren bist. Du wirst dei­ne eige­ne Iden­ti­tät immer wie­der infra­ge stellen.

»Kei­ne Angst mehr vor einem Abschie­be­brief. Kei­ne Poli­zis­ten mehr, die nachts vor der Tür ste­hen. Kei­ne Kof­fer im Flur – nur für den Fall.«

Mini­re Neziri

Ich mer­ke, wie sehr all das mein Leben beein­flusst. Mei­ne Ängs­te. Mei­ne Unsi­cher­hei­ten. Das tie­fe, inten­si­ve Füh­len. Das stän­di­ge Zwei­feln. Das stän­di­ge »Nie­man­dem zur Last fal­len«. All das wur­zelt in der Vergangenheit.

Und jetzt war­te ich – mal wie­der. Aber dies­mal ist es ein ande­res War­ten. Jetzt, zwei Jahr­zehn­te nach jener Nacht, die mein Leben in ein Davor und ein Danach geschnit­ten hat, war­te ich ohne Angst. Kei­ne Angst mehr vor einem Abschie­be­brief. Kei­ne Poli­zis­ten mehr, die nachts vor der Tür ste­hen. Kei­ne Kof­fer im Flur – nur für den Fall.

Der Antrag auf Nie­der­las­sung ist gestellt. Die Ein­bür­ge­rung läuft. Zum ers­ten Mal hängt mei­ne Zukunft nicht mehr an einer Dul­dung, an einem Akten­zei­chen, an der Gna­de eines Sach­be­ar­bei­ters. Bald ist mein Hier­sein nicht mehr an tau­send Bedin­gun­gen geknüpft.

Bald – ganz bald – kann ich sagen: Ich habe es geschafft. Ich bin ange­kom­men. Viel­leicht nicht ganz. Viel­leicht nie ganz. Aber mehr als je zuvor.

Ankommen…

ist ein rie­sen­gro­ßes Wort.

Ankom­men ist Heimat.

Und wo die ist, ent­schei­det kein Papier. Kei­ne Behörde.

Ankom­men ist dein Platz. Dein Sitz. Dein Zuhause.

Und dein Herz wird dir hier die ein­zig rich­ti­ge Ant­wort liefern.

(Mini­re Neziri)

Mini­re Nezi­ri, gebo­ren 1991 in Ell­wan­gen, lebt und arbei­tet heu­te in Süd­deutsch­land. Nach ihrer Abschie­bung im Jahr 2005 kehr­te sie 2019 mit Visum nach Deutsch­land zurück, absol­vier­te erfolg­reich eine Aus­bil­dung und ver­öf­fent­lich­te seit­her meh­re­re auto­bio­gra­fi­sche Tex­te. 2014 erschien ein Erfah­rungs­be­richt bei Pro Asyl, 2017 gab sie ein Inter­view für den WDR, 2018 wur­de ihre Kurz­ge­schich­te in einer Antho­lo­gie des Sad­Wolf Ver­lags ver­öf­fent­licht. Ihr Text »Hei­mat«, den sie wäh­rend ihrer Aus­bil­dung schrieb, wur­de von PRO ASYL geteilt. Insta­gram: Mini­re Neziri