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El Hierro: Trotz hoher Ankunftszahlen setzt die Insel auf Menschlichkeit
Die kanarische Insel El Hierro ist in Spanien der Hauptankunftsort von Booten mit fliehenden oder migrierenden Menschen. Mit einer deutsch-spanischen Gruppe besuchte Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL, die Insel und lernt Ehrenamtliche kennen, die für die Versorgung der ankommenden Menschen an ihre Grenzen gehen.
Auf Spanisch werden sie Cajucos genannt, Kanus: die Boote, mit denen die Menschen von der afrikanischen Küste aus zu den Kanarischen Inseln fahren. Sie sind meist tagelang unterwegs – fünf bis 15 Tage kann die Überfahrt dauern. Die Vorräte sind begrenzt, in den letzten Tagen auf dem Meer haben sie dann weder Wasser noch Essen. Manche trinken dann das Meerwasser – was sie jedoch in einen wahnähnlichen Zustand treiben kann.
Die Cajucos kommen im Hafen von La Restinga auf El Hierro an, ein Fischer- und Taucherhafen und der südlichste Punkt Europas. Von der Kaimauer schaut man weit über das Meer. Die Sonne knallt, der Himmel ist blau, das Meer wirkt spiegelglatt. Doch die Ruhe täuscht. Der Atlantik ist wild, bis zu vier Meter hoch können sich die Wellen türmen. Doch wenn die Boote nicht über den Wellenkamm kommen, dann können die Radare sie nicht erfassen, kann die Küstenwache die Menschen nicht retten.
El Hierro ist die kleinste und westlichste der kanarischen Inseln – und der südlichste Teil der EU, auf gleicher Höhe mit der Westsahara und Mauretanien. Eine ruhige Insel, bekannt für ihre wilde Natur. Im Rahmen der 17. Europäischen Asylkonferenz war ich mit einer deutsch-spanischen Gruppe im Oktober 2025 für drei Tage auf El Hierro. Wir wollten mehr über die Situation an dieser europäischen Außengrenze erfahren.
Steigende Zahlen auf der Route zu den Kanaren
Die West-Atlantik-Route (per Boot meist von Mauretanien, Senegal oder Gambia auf die kanarischen Inseln) wurde viele Jahre lang wenig genutzt. Doch im Jahr 2020 stiegen die Zahlen plötzlich. Kamen im Jahr 2019 noch weniger als 3.000 Menschen auf allen kanarischen Inseln zusammen an, waren es 2020 mehr als 23.000 Menschen. Im Jahr 2023 verdoppelte sich die Zahl noch einmal (mehr als 40.000) und stieg 2024 auf 46.000 (Zahlen von UNHCR). 24.000 dieser Menschen erreichten El Hierro. Erklärungsansätze für die steigenden Zahlen finden sich sowohl in den Herkunftsländern – etwa im Senegal, wo das Meer von internationalen Flotten leer gefischt wird und es außerdem politische Konflikte gab – als auch in zunehmender Migrationskontrolle auf anderen Routen.
In diesem Jahr sind auf El Hierro bisher 11.000 Menschen angekommen, deutlich weniger als im Vorjahr – und etwa so viele, wie die Insel Bewohner*innen hat. Wenn das Wetter an der afrikanischen Küste gut genug bleibt und die Ankünfte in gleicher Höhe weitergehen, dann rechnen die Aktiven auf El Hierro mit insgesamt circa 15.000 Ankünften bis Ende des Jahres. Laut UNHCR sind die Hauptherkunftsländer auf der Route aktuell Mali (42 Prozent), Senegal, Guinea, Marokko und Mauretanien.
Der Hafen La Restinga: Der südlichste Punkt Europas
Früher kamen eher kleine Boote mit bis zu 50 Menschen auf den Kanaren an, jetzt deutlich größere Schiffe mit bis zu 300 Personen an Bord. Während wir auf El Hierro sind, kommt ein Boot mit nur 28 Personen an, die zwölf Tage von Guinea aus unterwegs waren. Drei Tage später ein Boot mit 98 Menschen, das eine Woche von Gambia aus gebraucht hatte.
Wenn sie trotz der oft hohen Wellen ein Cajuco sichtet, fährt die Küstenwache raus. Je nach Zustand des Bootes werden die Menschen noch auf See evakuiert oder das Boot wird in den Hafen geleitet. Dort findet eine Erstversorgung durch das Rote Kreuz statt, bevor die Menschen in das Aufnahmezentrum gebracht werden. Manchmal dauert das jedoch länger, als gut wäre. Denn auf El Hierro hat die Verwaltung nur zwei Busse zur Verfügung – und wenn diese zum Beispiel gerade als Schulbus eingesetzt werden, dann müssen die gerade Angekommenen warten.
In Hafenort La Restinga ist die Tatsache, dass El Hierro einer der Hauptankunftsorte für nach Europa fliehende Menschen geworden ist, am offensichtlichsten Auf der Kaimauer stehen seit Monaten die Container vom Roten Kreuz für die Notversorgung. Das führt zu Spannungen mit den Anwohner*innen, die den Hafen gern selbst wieder voll nutzen würden. In den meisten Orten der kleinen Insel hingegen bekommt man von den Ankünften nichts mit.
Eine lebensgefährliche und oft tödliche Fahrt
Vor fünf Monaten, am 28. Mai 2025, wurde der Hafen von La Restinga Schauplatz einer besonderen Tragödie: Ein mit 152 Menschen überfülltes Boot kommt, begleitet von der Küstenwache, im Hafen an. Als die Küstenwache mit der Evakuierung der Menschen beginnt, dreht sich das Boot plötzlich um. Die Menschen, die unter Deck sind, sind gefangen – insbesondere Kinder, die zum Schutz vor der Witterung auf See in Holzverschlägen untergebracht sind. Viele Menschen beteiligen sich an der Rettung, auch Anwohner*innen und gerade erst selbst Gerettete. Doch sieben Menschen verlieren ihr Leben: Vier Frauen und drei Mädchen ertrinken im Hafenbecken, wenige Meter und Minuten von der Rettung entfernt. Die Katastrophe wird live von einem spanischen Kamerateam, das zufällig an dem Tag zum Filmen im Hafen ist, übertragen. Das Unglück macht in ganz Spanien Schlagzeilen – und zeigt doch nur exemplarisch, wie gefährlich die Überfahrt in den Cajucos ist.
Denn die meisten Toten werden nie gefunden. Um nicht von der mauretanischen oder marokkanischen Küstenwache entdeckt zu werden, die auch von der spanischen Guardia Civil unterstützt werden, um die Abfahrten zu verhindern, fahren viele Boote nicht in sichereren Gewässern in Küstennähe, sondern möglichst weit raus. Doch da ist die Gefahr groß, von den starken Strömungen erfasst und weit aufs Meer gezogen zu werden. Tausende Menschen sind in den letzten Jahren mitsamt den Booten auf hoher See verschwunden.
Auf El Hierro hören die Helfer*innen immer wieder, dass weitere Boote mit Angehörigen oder Freunden der Menschen kommen würden – doch dann tauchen diese Boote nie auf. Für die ersten fünf Monate von 2025 hat die NGO Caminando Fronteras für die Route auf die Kanaren 1.482 Tote festgestellt. Für die fünf Monate hat die NGO dokumentiert, dass allein 38 Boote, die in Richtung Spanien (Inseln und Festland) aufbrachen, samt ihren Insassen völlig verschwunden sind. Das tödlichste Jahr, das die NGO je dokumentierte, war 2024: Nach ihrer Zählung starben 9.757 Menschen allein auf der Route zu den Kanarischen Inseln – damit seit diese Flucht- und Migrationsroute die tödlichste weltweit gewesen.
Beerdigungen als letzter Akt der Menschlichkeit
Zumindest den Menschen, die vor El Hierro tot geborgen werden, möchten die Bewohner*innen der Insel ein letztes Zeichen des Respekts und der Würde zollen, diese letzte Geste der Menschlichkeit ist ihnen wichtig. Sie begraben die Toten auf ihren Friedhöfen und schmücken die Gräber der Migrant*innen. Auf dem Friedhof in El Pinar liegen auch die Mädchen und Frauen begraben, die am 28. Mai 2025 starben. Der Pfarrer der Gemeinde erzählt uns, dass zu den Beerdigungen meist zwischen acht und 50 Menschen kommen. Da sie nicht wissen, welche Religion die Verstorbenen haben, führen sie keine christliche Beerdigung durch.
NGOs kritisieren jedoch, dass zum Teil Beerdigungen stattgefunden haben, bevor die Verstorbenen identifiziert wurden, und keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen wurden, um dies zu ermöglichen.
72 Stunden Aufenthalt und Haft auf El Hierro
Diejenigen, die auf El Hierro ankommen, bleiben in der Regel nur 72 Stunden auf der Insel. Nach der Erstversorgung am Hafen werden sie in das CATE gebracht, das Centro de Atención Temporal de Extranjeros (Temporäres Betreuungszentrum für Ausländer). Diese Zentren unterstehen der Nationalpolizei in Spanien und sind für die Erstregistrierung gedacht. Rechtlich sind sie nicht genau geregelt, aber werden als Erweiterung von Polizeistationen der Nationalpolizei gesehen (Spanien AIDA Bericht, S. 152).
Für diese ersten 72 Stunden werden die Menschen – auch Minderjährige – dort inhaftiert. Nach den 72 Stunden wäre nach spanischem Recht eine richterliche Anordnung nötig, zum Beispiel, um die Person für eine Abschiebung zu inhaftieren (Spanien AIDA Bericht, S. 46). Amnesty International kritisiert, dass insgesamt Haft für Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus in Spanien fast automatisch und pauschal angewendet wird. Wie uns berichtet wird, erhalten alle Personen noch im CATE eine Abschiebungsanordnung. Tatsächlich funktioniert diese Anordnung letztlich als Identifikation in der Zeit danach und die darin vergebene Nummer garantiert den Zugang zum Gesundheitssystem. Asylanträge sind auch dann noch möglich, doch nicht alle stellen einen Antrag.
Das CATE auf El Hierro ist auf einem der Berg neben einem kleinen Dorf und besteht aus Zelten. Dort kann es nachts auch mal nur 2 Grad haben. In einem Bericht der spanischen Ombudsperson wurden 2023 die Bedingungen im CATE auf El Hierro stark kritisiert (Spanien AIDA Bericht, S. 152).
Aus dem CATE werden die meisten Menschen von El Hierro aus nach Teneriffa oder Gran Canaria gebracht. Nur unbegleitete Minderjährige bleiben oft länger auf der Insel, für sie sind die Regionalverwaltungen direkt zuständig.
Ehrenamtliche Erstversorgung – auch zwei bis drei Tage ohne Schlaf
Auf El Hierro leisten Ehrenamtliche einen großen Teil der Versorgung der Ankommenden. Wir treffen Francis, der für die Protección Civil – ein ehrenamtlicher Zivilschutz unter der Schirmherrschaft des spanischen Innenministeriums – die Einsätze leitet. An diesem Samstag ist er seit 5 Uhr unterwegs: Für ein Radrennen mussten sie rund um die Insel die Straßen sperren.
Doch meist geht es um eine andere Art der Arbeit. Nach der Ankunft der Boote leistet das spanische Rote Kreuz am Hafen die Erstversorgung – doch dann übernimmt Protección Civil die komplette soziale und praktische Unterstützung der Menschen für die circa 72 Stunden im CATE. Bei der Protección Civil auf El Hierro engagieren sich 43 Menschen, doch der harte Kern sind nur 17 Menschen, berichtet Francis – sie übernehmen 24-Stunden Schichten, oft zwei bis drei hintereinander. An den Tagen ist er dann nur im CATE, geht nicht nach Hause.
Ehrenamtliche versorgen geschwächte und verletzte Menschen
Nach der tagelangen Überfahrt kommen die Menschen meist extrem geschwächt auf El Hierro an, sie haben Scheuerwunden vom tagelangen Sitzen und Festhalten, Verätzungen vom Benzin und stark geschwollene Füße und Beine. Francis zeigt uns Fotos der Verletzungen, die kaum zu ertragen sind. Oft versorgen die Ehrenamtlichen die Wunden selbst, mittlerweile sind sie darin gut geübt. Sie helfen den Menschen beim Waschen, kleiden sie neu ein, kochen Tee und teilen Essen aus. Und sie sind auch nachts da, falls es Notfälle gibt.
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Menschlichkeit als Ethos und Anspruch
Eine Schlüsselrolle bei den Ehrenamtlichen kommt Omar zu. Er ist selbst vor zwei Jahren vom Senegal aus auf El Hierro angekommen und dolmetscht nun für die Protección Civil und die Polizei. Ohne ihn wäre die Verständigung in den meisten Fällen nicht möglich. Auf El Hierro fühlt er sich zu Hause, die Inselbewohner*innen sind seine zweite Familie. Auch er lebt das Motto der Insel: Das Wichtigste im Leben, so sagt er uns, sei die Menschlichkeit. Er ist einer der wenigen, die per Boot auf El Hierro ankommen und bleiben.
Von der spanischen Regierung werden die Polizisten gestellt, die auf der Insel wohnen und für die Identifizierung und Registrierung zuständig sind und das CATE bewachen. Außerdem gibt es noch einen medizinischen Dienst sowie das Rote Kreuz am Hafen. Die restliche Arbeit wird von den Ehrenamtlichen gestemmt. Das Interessante: Auf die Frage, ob sie sich nicht mehr staatliche Unterstützung wünschen würden, winkt Francis vehement ab. Für sie ist wichtig: Sie tun das für die Menschen, nicht für Geld. Und damit begegneten sie den Ankommenden auch anders als die, die es als Job machten, sagt er.
Große Probleme in den Aufnahmestrukturen der Kanaren
El Hierro ist aber auch in einer besonderen Situation: Hier steht die Erstversorgung nach der Ankunft im Fokus. Das ist es, worauf sich die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, konzentrieren. Doch für die Geflüchteten geht es natürlich weiter: Auf die anderen Kanarischen Inseln, wo, so die kanarische Verwaltung bei der Asylkonferenz, drei Mal mehr Menschen untergebracht werden als Kapazitäten da sind. Besonders die Situation für unbegleitete Minderjährige ist dramatisch: Auf die nur 900 Aufnahmeplätze kamen im August 2025 über 5.000 Minderjährige. Hinzu kommt ein gewaltiger Skandal: Nach Berichten über Misshandlungen an Minderjährigen wurden zwei Zentren einer NGO auf den Kanarischen Inseln im Sommer 2025 geschlossen.
Einen regulären Verteilungsschlüssel wie in Deutschland gibt es in Spanien nicht. Erst im März 2025 wurde eine Verordnung in Spanien erlassen, laut der unbegleitete Minderjährige auf andere spanische Regionen verteilt werden, wenn eine Region in einer »Krise« ist und drei Mal mehr Menschen als Aufnahmeplätze vorhanden sind. Doch erst nach einem Urteil des Obersten spanischen Gerichts wurden im August die ersten Minderjährigen von Gran Canaria aufs Festland geflogen.
Migration als gelebte Realität
Etwas, das uns immer wieder auf El Hierro gesagt wird: Migration ist hier Normalität. So leben viele Menschen aus Venezuela auf der Insel – von unserer Gastwirtin bis hin zu dem Priester, der sich ehrenamtlich für die auf Booten Ankommenden engagiert. Gleichzeitig sind viele Einheimische in den vergangenen Jahren nach Venezuela migriert.
Dadurch entsteht – so wirkt es – ein anderer Umgang mit denjenigen, die nun von der afrikanischen Küste aufbrechen und auf El Hierro ankommen. Ihre Motivation, ihr Recht, ihr Land zu verlassen und eine neue Perspektive zu suchen, werden von den Inselbewohner*innen nicht hinterfragt. Wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, der wird schon seine Gründe haben. Alle Gesprächspartner – von der lokalen Verwaltung über den Priester bis hin zu Francis, dem Chef der Ehrenamtlichen – sagen: Es geht um Menschen, nicht um Zahlen.
Die Europäische Asylkonferenz und der Vor-Besuch auf El Hierro wurden von Diakonie Deutschland, Brot für die Welt, Commission of the Churches for Migrants in Europe (CCME) und der Evangelischen Kirche Spaniens organisiert.
(wj)



