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Beschluss des EU-Rates zur Flüchtlingspolitik nach den Katastrophen vor Lampedusa
Die Staats- und Regierungschefs der EU sehen trotz des fortwährenden Sterbens Schutzsuchender an den EU-Außengrenzen keine Notwendigkeit, die EU-Flüchtlingspolitik zu verändern. Allein die Maßnahmen, mit denen Schutzsuchende an den Grenzen abgewehrt werden, sollen ausgebaut werden.
Die Bundesregierung will alles beim Alten lassen – für eine Neuausrichtung der EU-Flüchtlingspolitik sieht sie auch nach den Katastrophen vor Lampedusa mit weit über 400 Toten, die der Öffentlichkeit das Sterben Schutzsuchender an den Außengrenzen ins Bewusstsein gerufen hatten, keinen Anlass. Auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel habe man nicht über „qualitative Veränderungen“ gesprochen, so Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel. Die Bundesregierung hatte sich schon im Vorfeld gegen eine grundlegende Änderung der EU-Flüchtlingspolitik verwahrt.
Nach Merkel müsse sich die EU „mehr mit den kurzfristigen Maßnahmen beschäftigen, die vor Lampedusa wirklich hilfreich sein können“. So sei es „ganz wichtig, dass die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern beim Flüchtlingsschutz gestärkt wird“, sagte Merkel. „Die Stärkung der Grenzschutzagentur Frontex hat eine große Rolle gespielt und natürlich die Versuche bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität.“
Der deutschen Position folgend enthält der Beschluss des EU-Rates unter Punkt 46 zum Thema „Migrationsströme“ zwar Betroffenheitsbekundungen sowie den Satz, dass „geleitet vom Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten“ konsequente Maßnahmen ergriffen werden sollen, „um zu verhindern, dass sich solche menschlichen Tragödien wiederholen“. Eine Änderung der Dublin-Verordnung, die die Hauptverantwortung für den Flüchtlingsschutz an die EU-Randstaaten abschiebt, wird jedoch nicht angesprochen.
Stattdessen setzt der EU-Rat auf die menschenrechtlich mehr als bedenkliche Kooperation mit Transit- und Herkunftsstaaten, auf den Ausbau on Frontex und die schnelle Umsetzung von EUROSUR sowie darauf, das Problem in eine Taskforce auszulagern bzw. es bis Juni 2014 zu vertagen (Eine detaillierte Kommentierung des Ratsbeschlusses findet sich unten).
Zugleich regt sich verstärkt Kritik am EU-Asylzuständigkeitssystem. Jüngst sagte UN-Flüchtlingskommissar António Guterres im Interview mit der Welt dass sich Flüchtlinge innerhalb der EU frei bewegen dürfen sollten. „Die Drittstaatenregelung und Dublin II müssen geändert werden. Die Grundannahme dieser Gesetze ist, dass überall in der EU gute Bedingungen für Flüchtlinge herrschen. Diese Grundannahme ist aber falsch“, so Guterres.
Auf EU-Ebene hatten sich vor allem Italiens Ministerpräsident Enrico Letta, Maltas Premier Joseph Muscat für eine grundlegende Änderung der Asylzuständigkeitsregelung ausgesprochen. Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann brachte als Alternative zur bisherigen Regelung eine Quotenregelung ins Gespräch.
Aus Deutschland hatte sich vor allem EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) für einen grundlegenden Wandel der EU-Flüchtlingspolitik stark gemacht: Er hatte mehrfach gefordert, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. Die Flüchtlinge müssten in Zukunft gerechter auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden, so Schulz. Der SPD-Politiker leitet im Rahmen der derzeitigen Koaltionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD die Arbeitsgruppe „Bankenregulierung/Europa/Euro“. Ob die Bundesregierung künftig ihre Blockadehaltung gegen eine Änderung der EU-Flüchtlingspolitik fortsetzt oder aufgibt, hängt nunmehr auch von den Sozialdemokraten ab.
Details zum Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU vom 24./25 Oktober:
Kooperation mit Transit- und Herkunftsstaaten
Neben den Betroffenheitserklärungen unterstreicht der Rat in seinen Schlussfolgerungen, wie wichtig es sei, „dass die eigentlichen Ursachen der Migrationsströme bekämpft werden, indem die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern – auch durch eine angemessene EU-Entwicklungsförderung und eine wirksame Rückführungspolitik – verstärkt wird“.
Realistisch betrachtet hieße eine Kooperation mit Transitstaaten angesichts der gegenwärtigen Situation in der Praxis, dass nordafrikanische Staaten wie Libyen und Ägypten trotz ihrer politisch instabilen Lage, ihrer äußerst problematischen Menschenrechtssituation und ihrer fortgesetzten Missachtung von Flüchtlingsrechten dazu angehalten werden, Schutzsuchende von der Flucht nach Europa abzuhalten.
Nach Angaben des italienischen Innenministeriums machten unter den rund 25.000 Schutzsuchenden, die Italien in 2013 mit dem Boot erreichten, syrische Flüchtlinge die größte Gruppe aus, (9.805) gefolgt von eritreischen (8.843) und somalischen Schutzsuchenden (3.140). Angesichts dessen müsste die geplante „Kooperation mit Herkunftsstaaten“ in der Praxis bedeuten, dass die Europäische Union mit dem syrischen Assad-Regime, mit dem eritreischen Diktator Isayas Afewerki und somalischen Warlords in Verhandlungen tritt.
Ausbau von Frontex, Umsetzung von EUROSUR
Zusätzlich will der EU-Rat den Kampf gegen Schleusung und Menschenhandel intensivieren – ungeachtet der Tatsache, dass Menschen, die etwa aus Syrien, Eritrea oder Somalia fliehen und in der EU hohe Chancen haben, einen Schutzstatus zu erhalten, kaum andere Möglichkeiten haben, als ihre Flucht mithilfe von Schleusern zu bewerkstelligen, da ihnen legale und damit gefahrenfreie Einreisemöglichkeiten verwehrt werden.
Als Maßnahmen zur Schleuserbekämpfung beschloss der EU-Rat, die Aktivitäten von Frontex im Mittelmeer und an den südöstlichen Grenzen der EU zu verstärken. Die rasche Einführung des neuen Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) durch die Mitgliedstaaten werde entscheidend dazu beitragen, dass Schiffe und illegale Einreisen entdeckt werden. Dies trage dazu bei, dass Menschenleben an den Außengrenzen der EU geschützt und gerettet werden.
Tatsächlich dürfte eher das Gegenteil der Fall sein, da Schutzsuchende aufgrund verstärkter Grenzschutzmaßnahmen auf weitere und gefährlichere Fluchtrouten abgedrängt werden. Aus Sicht von PRO ASYL ist überaus zweifelhaft, inwieweit Maßnahmen mit dem Ziel, Fluchtbewegungen zu verhindern, geeignet sind, um Menschenleben von Schutzsuchenden zu retten.
Auslagern und Vertagen
Da derzeit kaum politischer Wille erkennbar ist, das Sterben von Schutzsuchenden auf dem Meer effektiv zu beenden, wurde das Problem in eine „Task Force Mittelmeerraum“ ausgelagert, die seitens des EU-Rates aufgefordert ist, „vorrangige Maßnahmen für eine wirksamere kurzfristige Nutzung der europäischen Strategien und Instrumente festzulegen“. Im Dezember 2013 solle die EU-Kommission dem Rat über die Arbeit der Task Force Bericht erstatten. Zudem wolle der Rat im Juni 2014 „im Rahmen einer breiter und längerfristig angelegten politischen Perspektive auf Migrations- und Asylfragen zurückkommen, wenn strategische Leitlinien für die weitere gesetzgeberische und operative Planung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts festgelegt werden.“
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