28.10.2013
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Angela im Gespräch mit ihrem italienischen Amtskollegen Enrico Letta am 25. Oktober in Brüssel. Foto: flickr / European Council

Die Staats- und Regierungschefs der EU sehen trotz des fortwährenden Sterbens Schutzsuchender an den EU-Außengrenzen keine Notwendigkeit, die EU-Flüchtlingspolitik zu verändern. Allein die Maßnahmen, mit denen Schutzsuchende an den Grenzen abgewehrt werden, sollen ausgebaut werden.

Die Bun­des­re­gie­rung will alles beim Alten las­sen – für eine Neu­aus­rich­tung der EU-Flücht­lings­po­li­tik sieht sie auch nach den Kata­stro­phen vor Lam­pe­du­sa mit weit über 400 Toten, die der Öffent­lich­keit das Ster­ben Schutz­su­chen­der an den Außen­gren­zen ins Bewusst­sein geru­fen hat­ten, kei­nen Anlass. Auf dem Tref­fen der Staats- und Regie­rungs­chefs in Brüs­sel habe man nicht über „qua­li­ta­ti­ve Ver­än­de­run­gen“ gespro­chen, so Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel nach dem Gip­fel. Die Bun­des­re­gie­rung hat­te sich schon im Vor­feld gegen eine grund­le­gen­de Ände­rung der EU-Flücht­lings­po­li­tik verwahrt.

Nach Mer­kel müs­se sich die EU „mehr mit den kurz­fris­ti­gen Maß­nah­men beschäf­ti­gen, die vor Lam­pe­du­sa wirk­lich hilf­reich sein kön­nen“. So sei es „ganz wich­tig, dass die Zusam­men­ar­beit mit den Her­kunfts- und Tran­sit­län­dern beim Flücht­lings­schutz gestärkt wird“, sag­te Mer­kel. „Die Stär­kung der Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex hat eine gro­ße Rol­le gespielt und natür­lich die Ver­su­che bei der Bekämp­fung der Schleuserkriminalität.“

Der deut­schen Posi­ti­on fol­gend ent­hält der Beschluss des EU-Rates unter Punkt 46 zum The­ma „Migra­ti­ons­strö­me“ zwar Betrof­fen­heits­be­kun­dun­gen sowie den Satz, dass „gelei­tet vom Grund­satz der Soli­da­ri­tät und der gerech­ten Auf­tei­lung der Ver­ant­wort­lich­kei­ten“ kon­se­quen­te Maß­nah­men ergrif­fen wer­den sol­len, „um zu ver­hin­dern, dass sich sol­che mensch­li­chen Tra­gö­di­en wie­der­ho­len“. Eine Ände­rung der Dub­lin-Ver­ord­nung, die die Haupt­ver­ant­wor­tung für den Flücht­lings­schutz an die EU-Rand­staa­ten abschiebt, wird jedoch nicht angesprochen.

Statt­des­sen setzt der EU-Rat auf die men­schen­recht­lich mehr als bedenk­li­che Koope­ra­ti­on mit Tran­sit- und Her­kunfts­staa­ten, auf den Aus­bau on Fron­tex und die schnel­le Umset­zung von EUROSUR sowie dar­auf, das Pro­blem in eine Taskforce aus­zu­la­gern bzw. es bis Juni 2014 zu ver­ta­gen (Eine detail­lier­te Kom­men­tie­rung des Rats­be­schlus­ses fin­det sich unten).

Zugleich regt sich ver­stärkt Kri­tik am EU-Asyl­zu­stän­dig­keits­sys­tem. Jüngst sag­te UN-Flücht­lings­kom­mis­sar Antó­nio Guter­res im Inter­view mit der Welt dass sich Flücht­lin­ge inner­halb der EU frei bewe­gen dür­fen soll­ten. „Die Dritt­staa­ten­re­ge­lung und Dub­lin II müs­sen geän­dert wer­den. Die Grund­an­nah­me die­ser Geset­ze ist, dass über­all in der EU gute Bedin­gun­gen für Flücht­lin­ge herr­schen. Die­se Grund­an­nah­me ist aber falsch“, so Guterres.

Auf EU-Ebe­ne hat­ten sich vor allem Ita­li­ens Minis­ter­prä­si­dent Enri­co Let­ta, Mal­tas Pre­mier Joseph Mus­cat für eine grund­le­gen­de Ände­rung der Asyl­zu­stän­dig­keits­re­ge­lung aus­ge­spro­chen. Öster­reichs Bun­des­kanz­ler Wer­ner Fay­mann brach­te als Alter­na­ti­ve zur bis­he­ri­gen Rege­lung eine Quo­ten­re­ge­lung ins Gespräch.

Aus Deutsch­land hat­te sich vor allem EU-Par­la­ments­prä­si­dent Mar­tin Schulz (SPD) für einen grund­le­gen­den Wan­del der EU-Flücht­lings­po­li­tik stark gemacht: Er hat­te mehr­fach gefor­dert, dass Deutsch­land mehr Flücht­lin­ge auf­neh­men soll­te, die über das Mit­tel­meer nach Euro­pa kom­men. Die Flücht­lin­ge müss­ten in Zukunft gerech­ter auf die EU-Mit­glied­staa­ten ver­teilt wer­den, so Schulz. Der SPD-Poli­ti­ker lei­tet im Rah­men der der­zei­ti­gen Koal­ti­ons­ver­hand­lun­gen zwi­schen CDU/CSU und SPD die Arbeits­grup­pe „Bankenregulierung/Europa/Euro“. Ob die Bun­des­re­gie­rung künf­tig ihre Blo­cka­de­hal­tung gegen eine Ände­rung der EU-Flücht­lings­po­li­tik fort­setzt oder auf­gibt, hängt nun­mehr auch von den Sozi­al­de­mo­kra­ten ab.

Details zum Beschluss der Staats- und Regierungschefs der EU vom 24./25 Oktober:

Koope­ra­ti­on mit Tran­sit- und Herkunftsstaaten

Neben den Betrof­fen­heits­er­klä­run­gen unter­streicht der Rat in sei­nen Schluss­fol­ge­run­gen, wie wich­tig es sei, „dass die eigent­li­chen Ursa­chen der Migra­ti­ons­strö­me bekämpft wer­den, indem die Zusam­men­ar­beit mit den Her­kunfts- und Tran­sit­län­dern – auch durch eine ange­mes­se­ne EU-Ent­wick­lungs­för­de­rung und eine wirk­sa­me Rück­füh­rungs­po­li­tik – ver­stärkt wird“.

Rea­lis­tisch betrach­tet hie­ße eine Koope­ra­ti­on mit Tran­sit­staa­ten ange­sichts der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on in der Pra­xis, dass nord­afri­ka­ni­sche Staa­ten wie Liby­en und Ägyp­ten trotz ihrer poli­tisch insta­bi­len Lage, ihrer äußerst pro­ble­ma­ti­schen Men­schen­rechts­si­tua­ti­on und ihrer fort­ge­setz­ten Miss­ach­tung von Flücht­lings­rech­ten dazu ange­hal­ten wer­den, Schutz­su­chen­de von der Flucht nach Euro­pa abzuhalten.

Nach Anga­ben des ita­lie­ni­schen Innen­mi­nis­te­ri­ums mach­ten unter den rund 25.000 Schutz­su­chen­den, die Ita­li­en in 2013 mit dem Boot erreich­ten, syri­sche Flücht­lin­ge die größ­te Grup­pe aus, (9.805) gefolgt von eri­tre­ischen (8.843) und soma­li­schen Schutz­su­chen­den (3.140). Ange­sichts des­sen müss­te die geplan­te „Koope­ra­ti­on mit Her­kunfts­staa­ten“ in der Pra­xis bedeu­ten, dass die Euro­päi­sche Uni­on mit dem syri­schen Assad-Regime, mit dem eri­tre­ischen Dik­ta­tor Isay­as Afe­werki und soma­li­schen War­lords in Ver­hand­lun­gen tritt.

Aus­bau von Fron­tex, Umset­zung von EUROSUR

Zusätz­lich will der EU-Rat den Kampf gegen Schleu­sung und Men­schen­han­del inten­si­vie­ren – unge­ach­tet der Tat­sa­che, dass Men­schen, die etwa aus Syri­en, Eri­trea oder Soma­lia flie­hen und in der EU hohe Chan­cen haben, einen Schutz­sta­tus zu erhal­ten, kaum ande­re Mög­lich­kei­ten haben, als ihre Flucht mit­hil­fe von Schleu­sern zu bewerk­stel­li­gen, da ihnen lega­le und damit gefah­ren­freie Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten ver­wehrt werden.

Als Maß­nah­men zur Schleu­ser­be­kämp­fung beschloss der EU-Rat, die Akti­vi­tä­ten von Fron­tex im Mit­tel­meer und an den süd­öst­li­chen Gren­zen der EU zu ver­stär­ken. Die rasche Ein­füh­rung des neu­en Euro­päi­schen Grenz­über­wa­chungs­sys­tems (EUROSUR) durch die Mit­glied­staa­ten wer­de ent­schei­dend dazu bei­tra­gen, dass Schif­fe und ille­ga­le Ein­rei­sen ent­deckt wer­den. Dies tra­ge dazu bei, dass Men­schen­le­ben an den Außen­gren­zen der EU geschützt und geret­tet werden.

Tat­säch­lich dürf­te eher das Gegen­teil der Fall sein, da Schutz­su­chen­de auf­grund ver­stärk­ter Grenz­schutz­maß­nah­men auf wei­te­re und gefähr­li­che­re Flucht­rou­ten abge­drängt wer­den. Aus Sicht von PRO ASYL ist über­aus zwei­fel­haft, inwie­weit Maß­nah­men mit dem Ziel, Flucht­be­we­gun­gen zu ver­hin­dern, geeig­net sind, um Men­schen­le­ben von Schutz­su­chen­den zu retten.

Aus­la­gern und Vertagen

Da der­zeit kaum poli­ti­scher Wil­le erkenn­bar ist, das Ster­ben von Schutz­su­chen­den auf dem Meer effek­tiv zu been­den, wur­de das Pro­blem in eine „Task Force Mit­tel­meer­raum“ aus­ge­la­gert, die sei­tens des EU-Rates auf­ge­for­dert ist, „vor­ran­gi­ge Maß­nah­men für eine wirk­sa­me­re kurz­fris­ti­ge Nut­zung der euro­päi­schen Stra­te­gien und Instru­men­te fest­zu­le­gen“. Im Dezem­ber 2013 sol­le die EU-Kom­mis­si­on dem Rat über die Arbeit der Task Force Bericht erstat­ten. Zudem wol­le der Rat im Juni 2014 „im Rah­men einer brei­ter und län­ger­fris­tig ange­leg­ten poli­ti­schen Per­spek­ti­ve auf Migra­ti­ons- und Asyl­fra­gen zurück­kom­men, wenn stra­te­gi­sche Leit­li­ni­en für die wei­te­re gesetz­ge­be­ri­sche und ope­ra­ti­ve Pla­nung im Raum der Frei­heit, der Sicher­heit und des Rechts fest­ge­legt werden.“

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