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Alarmierende Reformvorhaben zum europäischen Asylsystem: Menschenrechte geraten unter die Räder
Schläge, gewaltvolle Pushbacks, Verweigerung der Annahme von Asylanträgen – seit Jahren sind Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen immer mehr Grausamkeiten ausgesetzt. Und es soll noch schlimmer werden, auch mit mehr »sicheren Drittstaaten«. Im Innenausschuss ist die Expertise von PRO ASYL zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gefragt.
Schaut man an die Außengrenzen der Europäischen Union – von der polnischen Grenze zu Belarus über die bulgarische und griechische Grenze zur Türkei bis hin zum Mittelmeer – dann wird deutlich, dass die Wertegemeinschaft der EU dort kaum weiter von ihren Kernwerten wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten entfernt sein könnte als jetzt. Die EU als ein Raum der Freiheit und des Rechts steht sowohl intern als auch extern stark unter Druck. Deshalb müssen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie innerhalb der EU verteidigt werden. Der Zugang zum Recht auf Asyl ist ein Lackmustest dafür, in welche Richtung die EU sich als Wertegemeinschaft bewegt: hin zu einer Stärkung oder hin zu einer Schwächung von Menschenrechten.
So gehört zur derzeit diskutierten Reform des europäischen Asylsystems eine neue Asylverfahrensverordnung mit verpflichtenden Grenzverfahren, während denen die Asylsuchenden als »nicht-eingereist« gelten. Das würde bedeuten, dass die Schutzsuchenden kein EU-Land betreten dürfen, sondern an den Außengrenzen festgehalten werden, solange ihre Asylanträge geprüft würden – weitgehend isoliert, abgeschnitten von Hilfe und Beratung und absehbar unter haftähnlichen Bedingungen.
»Sichere Drittstaaten« sind nicht sicher
Hinzu kommen die Pläne der EU-Kommission für die Ausweitung des Konzept der sogenannten sicheren Drittstaaten: Ziel der Prüfung im Asylverfahren könnte primär die Frage werden, ob nicht ein außereuropäischer Drittstaat für die Schutzsuchenden »sicher« sei, so dass sofort dahin abgeschoben werden kann, ohne den Asylantrag überhaupt zu prüfen. Die Anforderungen daran, was als »sicher« gilt, sollen laut aktuellen Plänen im Rat der EU massiv gesenkt werden. Schutzsuchende sollen demnach sogar in Länder abgeschoben werden können, in denen sie noch nie waren oder in denen sie keinen Zugang zum Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben.
Schutzsuchende sollen demnach sogar in Länder abgeschoben werden können, in denen sie noch nie waren oder in denen sie keinen Zugang zum Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben.
Die Genfer Flüchtlingskonvention selbst kennt das Konzept von »sicheren Drittstaaten« oder vergleichbare Ansätze nicht. Zwar gibt es in ihr kein explizites Recht auf freie Wahl des Schutzlandes. Genauso wenig gibt es in ihr aber eine Verpflichtung für Flüchtlinge, im ersten möglichen Staat Asyl zu suchen.
Derzeit sieht Art. 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie vor, dass EU-Mitgliedstaaten Asylanträge als unzulässig ablehnen können, wenn sie sich in einem individuellen Verfahren davon überzeugt haben, dass die Person in dem Drittstaat unter anderem
- keiner Gefährdung von Leib und Leben aufgrund von Rassismus, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung ausgesetzt ist;
- nicht Gefahr läuft, einer illegalen Zurückweisung zum Opfer zu fallen;
- die Möglichkeit hat, einen Asylantrag zu stellen und als Flüchtling gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden.
Außerdem muss es bislang eine Verbindung zwischen der in der EU asylsuchenden Person und dem außereuropäischen Mitgliedstaat geben, aufgrund derer es »vernünftig« erscheint, dass die Person sich in diesen Staat begibt (Art. 38 Abs. 2 lit. a EU-Asylverfahrensrichtlinie).
Obwohl die in Europa schutzsuchende Person gegebenenfalls noch nie in dem außereuropäischen Drittstaat war, soll sie selbst darlegen, warum das Land für sie nicht sicher sei.
Doch die GEAS-Reform könnte massive Verschärfungen bringen, die das Konzept der »sicheren Drittstaaten« noch gefährlicher machen. So soll es nicht mehr notwendig sein, dass eine schutzsuchende Person in dem Land, in das sie abgeschoben werden soll, überhaupt die Chance auf einen Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention hat, sondern es reicht, wenn sie dort »effektiven Schutz« bekommen kann. Dies sei schon der Fall, wenn die Person sich auf dem Territorium des Drittstaats aufhalten darf, einen »adäquaten Lebensstandard im Verhältnis zu der generellen Aufnahmesituation im Land« haben kann und Zugang zu medizinischer Notfallversorgung und zu Grundschulbildung hat (vgl. Art. 43a des im Rat diskutierten Entwurfs der Asylverfahrensverordnung).
Es soll sowohl territoriale als auch »personelle« Ausnahmen von der Einstufung als »sicherer Drittstaat« geben können (vgl. Art. 45 Abs. 1a des im Rat diskutierten Entwurf der Asylverfahrensverordnung). Das heißt, dass der Drittstaat selbst dann als »sicher« eingestuft wird, wenn in einem Landesteil oder bestimmten Personengruppen Verfolgung oder anderen Menschenrechtsverletzungen drohen. Obwohl die in Europa schutzsuchende Person gegebenenfalls noch nie in dem außereuropäischen Drittstaat war, soll sie selbst darlegen, warum das Land für sie nicht sicher sei.
Verstöße gegen das Völkerrecht
»Dies widerspricht aber der völkerrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass sie das Non-Refoulement-Prinzip einhalten, also eine Person keinen schweren Menschenrechtsverletzungen aussetzen«, heißt es in der Stellungnahme, die PRO ASYL am 27. März 2023 in der öffentlichen Anhörung zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Innenausschuss des deutschen Bundestags vorstellte.
Wenn die Kriterien für einen »sicheren Drittstaat« gesenkt werden, erhöht sich massiv die Gefahr von völkerrechtswidrigen Abschiebungen von Flüchtlingen in Länder, in denen sie schutzlos und von Kettenabschiebungen ins Herkunftsland bedroht sind. Absehbar würden sich auch andere Länder an der EU ein Beispiel nehmen und Schutzsuchende abweisen. Selbst wenn in der Praxis auch künftig funktionierende Kooperationen mit Drittstaaten nicht besonders wahrscheinlich sind, so haben sie dennoch gravierende Konsequenzen für die Antragsteller*innen – wie schon jetzt in Griechenland zu sehen ist.
Nicht einmal das geltende Recht wird geachtet
All das geht in die völlig falsche Richtung und bedeutet einen systematischen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz bis hin zu seinem Ende. Dabei müsste eigentlich das Ziel einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sein, für Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechten von Schutzsuchenden zu sorgen – sowohl an den Außengrenzen als auch in den Mitgliedstaaten. Hierfür würde es ausreichen, das bereits geltende Recht zu achten und dessen Überwachung unter anderem durch Vertragsverletzungsverfahren zu gewährleisten. PRO ASYL kämpft seit vielen Jahren mit Projektpartnern in verschiedenen Mitgliedstaaten für die Einhaltung von EU-Recht und Menschenrechten.
Doch die aktuell diskutierten Vorschläge der Kommission zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) von 2016 und 2020 (dem New Pact on Migration and Asylum) würden aus Sicht von PRO ASYL den Zugang zu Asyl in Europa gefährden und die Situation von schutzsuchenden Menschen weiter verschlechtern. Gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen hat PRO ASYL dies mehrfach kritisiert und andere Vorschläge präsentiert.
Kritik an den Plänen der EU
Deshalb konzentriert sich die Stellungnahme für die öffentlichen Anhörung auf vier Schwerpunkte: Keine Auslagerung des Flüchtlingsschutzes an Drittstaaten, faire Asylverfahren statt Grenzverfahren unter Haftbedingungen, Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen beenden und ein solidarisches Aufnahmesystem.
Die größte Gefahr für den Flüchtlingsschutz in Europa sieht PRO ASYL in den aktuellen Vorschlägen für eine ausgeweitete Anwendung des Konzepts von »sicheren Drittstaaten«, bei gleichzeitiger massiver Absenkung der für die Anwendung erforderlichen Standards (zum Beispiel kein Bezug zu dem Drittstaat und kein Zugang zu Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention). Ohne Prüfung der Fluchtgründe kommt es dann – wie heute schon in Griechenland – zur Ablehnung des Asylantrags als unzulässig.
Die Umsetzung der Vorschläge hätte zur Folge, dass die EU sich systematisch aus dem Flüchtlingsschutz zurückziehen würde. Und dass, obwohl global gesehen die meisten Flüchtlinge in den Nachbarländern ihrer Herkunftsstaaten und häufig in armen oder strukturschwachen Ländern aufgenommen werden.
Asylverfahren sind entscheidend für die Frage, ob eine verfolgte Person Schutz bekommt. Entsprechend hoch müssen die Qualitätsstandards sein, um faire Verfahren zu verwirklichen. Mit der GEAS-Reform könnten aber problematische Grenzverfahren in vielen Mitgliedstaaten zum neuen Standardverfahren werden. Abgeschottet von der Außenwelt würden die Schutzsuchenden offiziell als »nicht-eingereist« in Zentren an den Grenzen oder im Inland ein Asylverfahren durchlaufen, in dem zuerst geprüft wird, ob sie in einen angeblich »sicheren Drittstaat« abgeschoben werden können. Die sogenannte Fiktion der Nicht-Einreise führt absehbar zu haftähnlichen Zuständen. Notwendige unabhängige rechtliche und humanitäre Hilfe sind so in der Praxis nicht möglich. Die Bundesregierung sollte entsprechende Verschärfungen ablehnen und für faire und sorgfältige Asylverfahren eintreten.
Die zahlreichen brutalen und menschenrechtswidrigen Pushbacks an den europäischen Außengrenzen sind gut dokumentiert. Trotzdem gibt es bislang keine ernsthaften politischen Bestrebungen in der EU, an den Außengrenzen wieder zur Achtung von Recht zu kommen. Vorschläge wie die Instrumentalisierungsverordnung würden den Menschenrechtsverletzungen stattdessen weiter Vorschub leisten. Die Bundesregierung sollte sich stattdessen für einen unabhängigen und solidarischen Monitoringmechanismus einsetzen, in dessen Rahmen unangekündigte Kontrollen möglich sind. Hierfür braucht es ein eigenes Pilotprojekt, konkrete Vorschläge liefert eine von PRO ASYL mitfinanzierte Machbarkeitsstudie von 2022.
Das bisherige Dublin-System ist gescheitert – darin sind sich fast alle Beobachter*innen einig. Trotzdem wird im Rahmen der GEAS-Reform an zentralen Punkten, wie dem Prinzip der Ersteinreise, festgehalten. Die Vorschläge für einen Solidaritätsmechanismus sind nicht geeignet, um Entlastung für die Außengrenzstaaten zu garantieren.
Aufnahme von Ukrainer*innen als Vorbild
Dass eine andere Flüchtlingspolitik in der EU möglich ist, die gefahrenfreie Fluchtwege, schnellen Schutz und die Selbstbestimmung der fliehenden Menschen in den Mittelpunkt stellt, zeigt dagegen die Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge seit dem russischen Angriffskrieg vom 24. Februar 2022. Ein entscheidender Faktor für die erfolgreiche Aufnahme der Ukrainer*innen ist, dass sie ihre Netzwerke nutzen können, zu Freund*innen und Verwandten ziehen dürfen. Anderen Schutzsuchenden wird dies verweigert.
Der politische Druck, dass es auf EU-Ebene eine Einigung über die Flucht- und Migrationspolitik geben muss, ist hoch. Doch er birgt die große Gefahr, dass es Kompromisse geben wird, in denen Menschenrechte kaum eine Rolle spielen. Das dann geschaffene Recht wird aber auf Jahre bestehen bleiben und als Verordnungen direkte Anwendung finden. Auch in Deutschland wird sich das Asylrecht damit fundamental ändern.
»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.«
Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung starke menschenrechtliche Positionen bei den Verhandlungen über die GEAS-Reform vertritt. Dabei sollte sie immer auch den Artikel 2 Satz 1 des Vertrags über die Europäische Union im Blick haben: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.«
Informationen zu den Sachverständigen und ihre Stellungnahmen finden sich hier, die Stellungnahme von Wiebke Judith auch hier. PRO ASYL hat zudem notwendige rote Linien der Bundesregierung für die Verhandlungen zur europäischen Asylreform veröffentlicht.
(wj/wr)