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picture alliance / Middle East Images | Muhammad Balabuluki

Obwohl der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Taliban-Anführer erlässt, sucht die Bundesregierung den diplomatischen Dialog mit genau diesen. Zum ersten Mal unter der neuen Bundesregierung gab es einen Abschiebeflug nach Kabul. 81 Menschen wurden nach Afghanistan abgeschoben, trotz Menschenrechtsverletzungen und Elend vor Ort.

Fast vier Jah­re sind ver­gan­gen, seit die Tali­ban Afgha­ni­stan im August 2021 zurück­er­ober­ten. Die Macht­über­nah­me stürz­te das Land und die Men­schen in die Kata­stro­phe – men­schen­recht­lich, huma­ni­tär und öko­no­misch. Auf­grund der dra­ma­ti­schen Lage vor Ort ver­sto­ßen jeg­li­che Abschie­bun­gen in das Land gegen das völ­ker­recht­li­che Abschie­bungs­ver­bot, da Fol­ter oder unmensch­li­che Behand­lung droht.

Der UN-Hoch­kom­mis­sar für Men­schen­rech­te for­dert des­we­gen einen Stopp jeg­li­cher Zwangs­rück­füh­run­gen von Afghan*innen in das Land. Auch das Deut­sche Insti­tut für Men­schen­rech­te lehnt Abschie­bun­gen in das Land auf­grund der dor­ti­gen Men­schen­rechts­si­tua­ti­on ab. Trotz­dem hat die deut­sche Bun­des­re­gie­rung, zum ers­ten Mal unter Kanz­ler Fried­rich Merz, am 18. Juni 2025 ins­ge­samt 81 Afgha­nen nach Kabul abge­scho­ben. PRO ASYL und Amnes­ty Inter­na­tio­nal kri­ti­sier­ten den Flug scharf.

Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Beson­ders erschre­ckend: Erst weni­ge Tage vor der Abschie­bung hat­te der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof (IStGH) in Den Haag Haft­be­feh­le gegen Anfüh­rer der mili­tant-isla­mis­ti­schen Tali­ban erlas­sen. Die Haft­be­feh­le rich­ten sich gegen den Tali­ban-Chef Hai­ba­tul­lah Achundsa­da und den Obers­ten Rich­ter Afgha­ni­stans, Abdul Hakim Hak­ka­ni. Der Tali­ban-Füh­rung wer­den Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit zur Last gelegt. Sie sol­len gezielt Mäd­chen, Frau­en und ande­re Per­so­nen, deren Geschlechts­iden­ti­tät oder ‑aus­druck nicht mit der Tali­ban-Ideo­lo­gie über­ein­stim­men sowie deren Unterstützer*innen, ver­folgt haben.

Seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban am 15. August 2021 hat das Regime laut dem IStGH grund­le­gen­de Rech­te mas­siv ein­ge­schränkt. Dazu gehört u. a. das Ver­bot von Bil­dung, Bewe­gung, Mei­nungs­frei­heit und Reli­gi­ons­frei­heit spe­zi­ell für Frau­en. Außer­dem gab es schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wie Mord, Fol­ter, Ver­ge­wal­ti­gung, Gefäng­nis­stra­fen und Verschwindenlassen.

Die Haft­be­feh­le ver­deut­li­chen die Dra­ma­tik der Situa­ti­on in Afgha­ni­stan und zei­gen, wel­che Ver­bre­chen von den Tali­ban began­gen wer­den. Damit muss klar sein: Mit einem sol­chen Regime darf die Bun­des­re­gie­rung nicht koope­rie­ren. Ins­be­son­de­re nicht, da Deutsch­land Mit­glieds­staat beim Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof ist.

Bundesregierung erwägt Kooperation mit den Taliban

Doch die Bun­des­re­gie­rung will die Koope­ra­tio­nen mit den Tali­ban vor­an­trei­ben, um regel­mä­ßi­ge Abschie­bun­gen zu ermög­li­chen. Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Alex­an­der Dob­rindt strebt sogar direk­te Gesprä­che mit den isla­mis­ti­schen Tali­ban in Afgha­ni­stan an, um Abschie­bun­gen von Straf­tä­tern zu erleich­tern: »Mir schwebt vor, dass wir direkt mit Afgha­ni­stan Ver­ein­ba­run­gen tref­fen, um Rück­füh­run­gen zu ermöglichen«.

Am 14. Juli 2025 gab zudem die afgha­ni­sche Bot­schaft in Doha bekannt, dass sich der Bot­schaf­ter der Tali­ban-De-fac­to-Regie­rung, Suhail Shaheen und Rolf Die­ter Rein­hard, der Geschäfts­trä­ger der deut­schen Bot­schaft für Afgha­ni­stan, getrof­fen haben. Am 22. Juli 2025 wur­de öffent­lich, dass Deutsch­land zwei Ver­tre­tern der Tali­ban Visa erteilt hat und die­se bereits ein­ge­reist sind, damit sie in der Bot­schaft in Ber­lin und dem Kon­su­lat in Bonn arbei­ten können.

Eine Koope­ra­ti­on zwi­schen Deutsch­land und den Tali­ban wäre jedoch ein fata­ler Schritt in Rich­tung Nor­ma­li­sie­rung der Bezie­hun­gen mit einem isla­mis­ti­schen Ter­ror­re­gime. Bis­lang hat nur Russ­land die Tali­ban offi­zi­ell anerkannt.

Dramatische humanitäre Situation in Afghanistan

Die Unter­drü­ckung der Bevöl­ke­rung, das zuneh­mend repres­si­ve Kli­ma und die bru­ta­len Ein­schrän­kun­gen der Medi­en sowie zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen, haben Afgha­ni­stan in eine Men­schen­rechts­kri­se geführt. Frau Dr. Ale­ma hat für ein von der Stif­tung PRO ASYL geför­der­tes Pro­jekt an der Frank­furt Uni­ver­si­ty of Appli­ed Sci­en­ces die Lage in Afgha­ni­stan mit Stand Juli 2025 hier zusammengefasst.

Die restrik­ti­ve Poli­tik der Tali­ban, zu der auch die Durch­set­zung des »Geset­zes zur För­de­rung der Tugend und Ver­hin­de­rung des Las­ters« (PVPV) sowie das Ver­bot der Aus­bil­dung von Mäd­chen und der medi­zi­ni­schen Aus­bil­dung gehö­ren, schränkt den Hand­lungs­spiel­raum der noch vor Ort täti­gen inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen zudem immer wei­ter ein. Gleich­zei­tig gehen die Finanz­mit­tel der Geber ste­tig zurück, sodass die Part­ner gezwun­gen sind, wich­ti­ge Diens­te ein­zu­stel­len. Dadurch gera­ten Mil­lio­nen Men­schen in Gefahr.

Die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) warnt ange­sichts feh­len­der För­der­gel­der zudem vor dra­ma­ti­schen Kon­se­quen­zen für die Gesund­heits­ver­sor­gung in Afgha­ni­stan. 80 Pro­zent der von der Orga­ni­sa­ti­on geför­der­ten Gesund­heits­zen­tren müss­ten mög­li­cher­wei­se schlie­ßen, dies wür­de Mil­lio­nen von Men­schen betreffen.

Die Wirt­schaft ist wei­ter­hin insta­bil und kann die grund­le­gen­den Bedürf­nis­se der wach­sen­den Bevöl­ke­rung nicht decken. Schät­zungs­wei­se 23,7 Mil­lio­nen Afghan*innen sind auf huma­ni­tä­re Hil­fe ange­wie­sen, was die­se Regi­on in eine der schlimms­ten huma­ni­tä­ren Lage welt­weit gestürzt hat. Etwa 14,8 Mil­lio­nen Men­schen sind der­zeit auf­grund von wirt­schaft­li­chen Unsi­cher­hei­ten und ungüns­ti­gen kli­ma­ti­schen Bedin­gun­gen in Afgha­ni­stan mit aku­ter Nah­rungs­mit­tel­un­si­cher­heit kon­fron­tiert. 3,1 Mil­lio­nen Men­schen lei­den unter lebens­be­droh­li­chem Hunger.

Massenabschiebungen aus Nachbarländern verschärfen die Lage

Die eh schon äußerst schwie­ri­ge huma­ni­tä­re Lage wird noch dadurch erschwert, dass seit eini­ger Zeit die Nach­bar­län­der Paki­stan und Iran die dort leben­den Afghan*innen mas­siv unter Druck set­zen, nach Afgha­ni­stan aus­zu­rei­sen und auch mas­sen­haft Abschie­bun­gen durchführen.

Von Sep­tem­ber 2023 bis Janu­ar 2024 ver­lie­ßen mehr als 800.000 afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Paki­stan in Rich­tung Afgha­ni­stan; vie­le von ihnen wur­den in Paki­stan gebo­ren oder leb­ten dort schon seit Jahr­zehn­ten. Davon gaben 85 % an, aus Angst vor einer Ver­haf­tung geflo­hen zu sein. Mehr als 38.000 Men­schen wur­den nach Fest­nah­men nach Afgha­ni­stan abge­scho­ben. Im Rah­men einer neu­en Abschie­be­wel­le seit Anfang April 2025 ver­lie­ßen nach Anga­ben des UN-Flücht­lings­hilfs­werks (UNHCR) bis zur Mit­te des Monats mehr als 127.000 afgha­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge Paki­stan nach Afgha­ni­stan; davon sei­en 26.000 Men­schen abge­scho­ben worden.

Den Iran haben seit Jah­res­be­ginn 2025 mehr als 1,2 Mil­lio­nen Afghan*innen in Rich­tung Afgha­ni­stan ver­las­sen, mehr als die Hälf­te wur­de laut UNHCR abge­scho­ben. Bis zu 30.000 Afghan*innen wer­den täg­lich von den ira­ni­schen Behör­den abge­scho­ben. Ins­be­son­de­re wäh­rend des Kriegs zwi­schen Isra­el und dem Iran sind die Afghan*innen im Iran zur Ziel­schei­be der repres­si­ven Poli­tik des Regimes geworden.

Ins­ge­samt leben in der Regi­on schät­zungs­wei­se 9 Mil­lio­nen ver­trie­be­ne Afghan*innen, was glo­bal eine der größ­ten Ver­trei­bungs­si­tua­tio­nen darstellt.

Herrschaft der Unterdrückung

De fac­to fes­ti­gen die Tali­ban ihre Macht und set­zen ihre Herr­schaft durch Unter­drü­ckung, insti­tu­tio­na­li­sier­te Angst und Schre­cken durch. Ins­be­son­de­re die Aus­wei­tung der Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en und Mäd­chen, der schwin­den­de Hand­lungs­spiel­raum für die Zivil­ge­sell­schaft, die Ver­let­zung eth­ni­scher und reli­giö­ser Rech­te sowie die alar­mie­ren­de Zunah­me von kör­per­li­cher Züch­ti­gung und ande­ren For­men der Gewalt füh­ren zu einer Herr­schaft ohne Legitimität.

Am 21. Febru­ar 2025 ver­öf­fent­lich­ten die Ver­ein­ten Natio­nen ihren tur­nus­mä­ßi­gen Bericht zur Lage in Afgha­ni­stan (Dezem­ber 2024 bis Febru­ar 2025). UNAMA doku­men­tier­te in die­sem Zeit­raum Tötun­gen, will­kür­li­che Ver­haf­tun­gen sowie Fol­ter und Miss­hand­lung ehe­ma­li­ger Regie­rungs- und Sicher­heits­kräf­te. Zudem wur­den will­kür­li­che Inhaf­tie­run­gen sowie Fol­ter und sexu­el­le Gewalt gegen LGBTIQ+-Personen durch De-fac­to-Beam­te doku­men­tiert. Ein Bericht der UNAMA vom 10. April 2025 zeigt, dass die Tali­ban die Unter­drü­ckung der Gesell­schaft in jün­ge­rer Zeit noch intensivieren.

Die Gen­der-Apart­heid und Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en haben ein alar­mie­ren­des Aus­maß erreicht. Inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen und die Ver­ein­ten Natio­nen berich­ten von außer­ge­richt­li­chen Tötun­gen, will­kür­li­chen Ver­haf­tun­gen, Fol­ter und wei­te­ren Miss­hand­lun­gen durch die Tali­ban. Das UNHCR betont, dass die meisten

Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen undo­ku­men­tiert blei­ben und die Ver­fol­gungs­ge­fahr unvor­her­seh­bar ist. Die Euro­päi­sche Asyl­agen­tur bestä­tigt zudem in ihrer Coun­try Gui­dance zu Afgha­ni­stan vom Mai 2024, dass es im Land kei­ne inter­nen Schutz­al­ter­na­ti­ven vor der Ver­fol­gung der Tali­ban gibt.

Wie eine Recher­che von Human Rights Watch zeigt, kön­nen auch die zum Bei­spiel aus Paki­stan zurück­ge­kehr­te Afghan*innen zu Opfern der Tali­ban wer­den. So wur­de ein Mann, den die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on inter­viewt hat, nach der Abschie­bung von den Tali­ban ver­haf­tet und zwei Mona­te lang fest­ge­hal­ten, weil er für die Sicher­heits­kräf­te der frü­he­ren Regie­rung gear­bei­tet hatte.

PRO ASYL: Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan!

Abschie­bun­gen in Län­der, in denen Fol­ter, Miss­hand­lun­gen und wei­te­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen dro­hen, sind mit dem Rechts­staat und dem Völ­ker­recht unver­ein­bar und dür­fen nicht statt­fin­den. Das gilt auch für Men­schen, die Straf­ta­ten began­gen haben. PRO ASYL for­dert des­we­gen gemein­sam mit den Flücht­lings­rä­ten der Län­der einen Abschie­bungs­stopp für Afgha­ni­stan. Außer­dem soll­ten auf­grund der gra­vie­ren­den Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch ihre Herr­schaft kei­ner­lei diplo­ma­ti­sche Bezie­hun­gen zu den Tali­ban auf­ge­nom­men werden.

(wj, nb)