30.07.2014
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Rund 75.000 Schutzsuchende erreichten im ersten Halbjahr 2014 Europa über den lebensgefährlichen Seeweg. Foto: flickr / UNHCR

2014 starben bereits über 800 Menschen beim Versuch, auf der Suche nach Schutz nach Europa zu gelangen. Die Zahl der Toten wird weiter steigen, wenn die EU nicht endlich Schutzsuchenden die lebensgefährliche Flucht durch legale Einreisemöglichkeiten erspart.

In weni­ger als zehn Tagen star­ben nach UNHCR-Infor­ma­tio­nen zuletzt 260 Flücht­lin­ge auf dem Weg nach Euro­pa: Schutz­su­chen­de Män­ner, Frau­en und Kin­der, die ertran­ken, in den Bäu­chen der Schif­fe an Abga­sen erstick­ten oder im Brack­was­ser ertran­ken oder beim ver­zwei­fel­ten Ver­such getö­tet wur­den, aus den Abga­sen her­aus irgend­wie an Deck zu gelan­gen. Auch am Mitt­woch star­ben wie­der Dut­zen­de Schutz­su­chen­de, als ein Boot nahe der liby­schen Küs­te ken­ter­te. Über 800 Men­schen star­ben nach der Zäh­lung des UNHCR auf der Flucht über das Meer im Jahr 2014 – jetzt schon mehr als 2013 (600) und  2012 (500). Seit dem Jahr 2000 star­ben nach Recher­chen des Pro­jekts The Migrant Files 23.000 Men­schen auf der Flucht nach Europa.

Für den Tod der Flücht­lin­ge wer­den in der öffent­li­chen Debat­te häu­fig die Schleu­ser­or­ga­ni­sa­tio­nen ver­ant­wort­lich gemacht – in vie­len Fäl­len zu Recht, doch das eigent­li­che Pro­blem liegt tie­fer: Schutz­su­chen­de, die vor dem Bür­ger­krieg in Syri­en oder etwa vor der Mili­tär­dik­ta­tur Eri­tre­as oder aus Soma­lia flie­hen sehen auf­grund der uner­träg­li­chen Lebens­be­din­gun­gen und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Erst­auf­nah­me- und Tran­sit­staa­ten wie etwa Liby­en kei­ne ande­re Wahl, als nach Euro­pa wei­ter­zu­flie­hen. Da es kaum lega­le Ein­rei­se­mög­lich­kei­ten gibt, sehen sich die Betrof­fe­nen gezwun­gen, ihr Leben den Schleu­sern anzu­ver­trau­en. „Es sind Boo­te des Todes. Aber wir hat­ten kei­ne ande­re Wahl“, so ein Betrof­fe­ner in einem aktu­el­len Video-Bericht des UNHCRs, das die dra­ma­ti­sche Situa­ti­on auf dem Mit­tel­meer hier mit einem Mul­ti­me­dia-Dos­sier auf­be­rei­tet hat. 

Gestie­ge­ne Zahl von Ankünf­ten: Kein Grund zur Panik – und kei­ner zur Abschottung

Rund 75.000 Schutz­su­chen­de erreich­ten im ers­ten Halb­jahr 2014 Euro­pa über den lebens­ge­fähr­li­chen See­weg: Rund  230 Schutz­su­chen­de erreich­ten Mal­ta, 1000 lan­de­ten in Spa­ni­en, 10.000 in Grie­chen­land und rund 64.000 in Ita­li­en, das im Rah­men der Mari­ne-Ope­ra­ti­on „Mare Nos­trum“ bis­lang rund 60.000 schiff­brü­chi­ge Flücht­lin­ge ans ita­lie­ni­sche Fest­land brach­te. Ins­ge­samt stieg die Zahl der Ankünf­te damit um 25 Pro­zent  gegen­über dem gesam­ten Jahr 2013.

Der Ein­druck, die Zahl der Ankünf­te sei dra­ma­tisch hoch, rela­ti­viert sich stark, wenn man berück­sich­tigt, dass die 28 EU-Staa­ten ins­ge­samt eine Ein­woh­ner­zahl von über einer Mil­li­ar­de Men­schen haben. Berech­net man, auf wie vie­le EU-Bür­ge­rin­nen und  EU-Bür­ger einer der im ers­ten Halb­jahr 2014 ange­kom­me­nen 75.000 Flücht­lin­ge kommt,  sind das knapp 7.000.

Zum Ver­gleich: Inner­halb des lau­fen­den Jah­res haben der Liba­non, die Tür­kei, Irak und Ägyp­ten  noch­mals eine hal­be Mil­li­on Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men. Der Liba­non beher­bergt mit sei­nen 4,4 Mil­lio­nen Ein­woh­nern 1,1 Mil­lio­nen Flücht­lin­ge – jeder fünf­te ist dort mitt­ler­wei­le ein syri­scher Flücht­ling. Ins­ge­samt suchen nur 4 Pro­zent aller syri­schen Flücht­lin­ge Schutz in Europa.

Am Ran­de: Unge­fähr im sel­ben Zeit­raum – seit Dezem­ber 2013 bis Anfang Juli –  flo­hen nach Anga­ben des UNHCR über 150.000 Men­schen vor dem Bür­ger­krieg in der Zen­tral­afri­ka­ni­schen Repu­blik in die Nach­bar­staa­ten, über 100.000 allein nach Kame­run – eine Flücht­lings­kri­se, die hier­zu­lan­de nahe­zu uner­wähnt bleibt. Wäh­rend hier­zu­lan­de das Vor­ur­teil vor­herrscht, alle Flücht­lin­ge oder gar „ganz Afri­ka“ dräng­te nach Euro­pa, spielt sich in Zen­tral­afri­ka eine Flücht­lings­ka­ta­stro­phe ab, von der hier­zu­lan­de nie­mand etwas mitbekommt.

Die Abschot­tung Euro­pas ist durch nichts zu rechtfertigen

Die Zunah­me der Flücht­lin­ge, die ver­su­chen über das zen­tra­le Mit­tel­meer oder die Ägä­is nach Euro­pa zu gelan­gen, hängt auch damit zusam­men, dass ande­re Flucht­rou­ten mitt­ler­wei­le her­me­tisch abge­rie­gelt sind. So wur­de etwa die Flucht­rou­te über die tür­kisch-grie­chi­sche Land­gren­ze durch einen Grenz­zaun, eine Ver­stär­kung des grie­chi­schen Grenz­schut­zes und eine Ope­ra­ti­on der euro­päi­schen Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex ver­sie­gelt. Zwi­schen 2007 und 2013 hat die EU nach Berech­nun­gen von amnes­ty inter­na­tio­nal fast zwei Mil­li­ar­den Euro für sol­che Abschot­tungs­maß­nah­men aus­ge­ge­ben – für Flücht­lin­ge betru­gen die Aus­ga­ben hin­ge­gen 700 Mil­lio­nen Euro.

Auch in Bul­ga­ri­en wur­de gegen den Anstieg syri­scher Flücht­lin­ge ein Grenz­zaun zur Tür­kei errich­tet. Dort wie auch in Grie­chen­land und in Spa­ni­en kommt es zu völ­ker­rechts­wid­ri­gen Zurück­wei­sun­gen von Flücht­lin­gen – oft mit gro­ßer Bru­ta­li­tät, um die Betrof­fe­nen von wei­te­ren Flucht­ver­su­chen auf Euro­päi­sches Ter­ri­to­ri­um abzu­schre­cken. Den Flücht­lin­gen bleibt auf­grund der for­cier­ten Abschot­tung daher kaum etwas übrig, als ihr Leben den Schlep­pern und den meist kaum see­taug­li­chen Boo­ten anzu­ver­trau­en, um die Ägä­is oder das zen­tra­le Mit­tel­meer zu überqueren.

Drei lebens­ret­ten­de Maßnahmen

„Die Euro­pä­er müs­sen umge­hend Maß­nah­men ergrei­fen, damit die­se Kata­stro­phe in der zwei­ten Jah­res­hälf­te nicht noch schlim­mer wird“, appel­liert Antó­nio Guter­res, Flücht­lings­hoch­kom­mis­sar der Ver­ein­ten Natio­nen (UNHCR) an die EU. UNHCR ruft Euro­pa dazu auf, die See­not­ret­tung zu ver­bes­sern und die Situa­ti­on der Auf­ge­nom­me­nen zu ver­bes­sern, mehr huma­ni­tä­re Auf­nah­me­pro­gram­me zu schaf­fen, den Zugang zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung zu erleich­tern und groß­zü­gig Stu­den­ten und Arbeits­vi­sa auszugeben.

For­de­run­gen, die auch PRO ASYL erhebt: Die See­not­ret­tung, die bis­lang von der ita­lie­ni­schen Mari­ne durch­ge­führt wird und deren Zukunft unge­wiss ist, muss drin­gend von der EU in Form einer gemein­sa­men euro­päi­schen zivi­len See­not­ret­tung ersetzt wer­den. Schutz­su­chen­de an den Gren­zen müs­sen Zugang zu Schutz erhal­ten, Zurück­wei­sun­gen müs­sen sofort been­det wer­den. Flücht­lin­ge  müs­sen die Mög­lich­keit zu lega­len Ein­rei­se erhal­ten – über Auf­nah­me­pro­gram­me, groß­zü­gi­ge Visa­ver­ga­be und unkom­pli­zier­te Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung – denn vie­le der­je­ni­gen, die ihr Leben auf der Flucht nach Euro­pa ris­kie­ren oder gar ver­lie­ren, wer­den hier­zu­lan­de von Ange­hö­ri­gen sehn­lichst erwartet.

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