Hintergrund
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Zwischen Jugendhilfeanspruch und Wirklichkeit
2015 ist die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge sprunghaft gestiegen. Seit Jahresende werden sie außerdem bundesweit verteilt. So sind viele neue Akteure gefordert, die jungen Menschen angemessen zu betreuen. Von Qualitätsstandards kann allerdings vielerorts keine Rede sein.
2015 wurden nach Angabe des Bundesfachverbandes (BumF) rund 30.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Obhut genommen – dreimal so viele wie 2014. Die meisten von ihnen sind zwischen 15 und 17 Jahre alt. Zum März 2016 befinden sich insgesamt 69.000 UMF in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit. Es ist zudem noch von einigen jungen Flüchtlingen auszugehen, die nicht als solche erkannt oder fälschlicherweise als volljährig eingeschätzt wurden und sich in Erstaufnahmeeinrichtungen für Erwachsene befinden. Die Hauptherkunftsländer der jungen Minderjährigen sind Afghanistan, Syrien, Eritrea, Irak und Somalia.
Die gestiegenen Zahlen sind ein Abbild der Konflikt- und Krisensituationen in vielen Teilen dieser Welt. Die Tatsache, dass sich so viele junge Menschen allein auf die lebensbedrohliche Flucht begeben, verdeutlicht die Ernsthaftigkeit der andauernden drohenden Gefahren: Anwerbung durch radikale Gruppierungen, Zwangsrekrutierung zu Kindersoldaten, Kinderarbeit, Verfolgung von Minderheiten, Unruhen oder Kriege sowie existenzielle Perspektivlosigkeit.
Durch die gestiegenen Zugangszahlen und auch durch das Umverteilungsgesetz steigen derzeit viele neue Mitarbeiter*innen, Vormünder und Unterstützer*innen in die Arbeit mit UMF ein, oft bei neuen Trägern. Fragen und Unsicherheiten in dem komplexen Handlungsfeld mit zahlreichen rechtlichen Bestimmungen und institutionellen Zuordnungen bestehen derzeit in vielen Teilen Deutschlands.
Rechtlicher Vorrang für das Kindeswohl
Grundlegende Rechte für unbegleitete Minderjährige sind insbesondere in der UN-Kinderrechtskonvention, in der Genfer Flüchtlingskonvention und in den EU-Regelungen verankert. Auf nationaler Ebene regeln zum einen das Kinder- und Jugendhilfegesetz und zum anderen die Asyl- und Aufenthaltsgesetze die Materie.
Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ist das lokale Jugendamt verpflichtet und berechtigt, die UMF direkt nach Feststellung der Einreise vorläufig in Obhut zu nehmen. Dabei wird eine Alterseinschätzung vorgenommen, die Möglichkeit der Umverteilung und Unterbringung mit Verwandten oder weiteren Bezugspersonen überprüft. Die Bestellung des Vormundes sollte in diesem Kontext „unverzüglich“ erfolgen.
Der Vormund ist dann die gesetzliche Vertretung und trägt die Personensorge für das sogenannte Mündel. Durch die Anhebung des handlungsfähigen Alters im Asylverfahren von 16 auf 18 Jahre trägt dieser auch für die asylrechtlichen Schritte sowie die Inanspruchnahme aufenthaltsrechtlicher Alternativen die Verantwortung. So hängt das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Minderjährigen auch an der asylrechtlichen Kompetenz ihres Vormunds.
Im komplexen Spannungsfeld von Jugendhilfe und Aufenthaltsrecht gilt stets der Vorrang des Kindeswohls und das Primat der Jugendhilfe.
Innerhalb der Inobhutnahme ist das Jugendamt zuständig für das sogenannte „Clearing“. Dieses umfasst unter anderem die Abklärung gesundheitlicher Fragen, therapeutischer Bedarfe und des Zugangs zu Schul- und Bildungsangeboten. Darüber hinaus sollen sowohl die aufenthaltsrechtlichen als auch die individuellen Perspektiven, der erzieherische Bedarf und Möglichkeiten der Anschlussunterbringung unter Einbeziehung des Jugendlichen geklärt werden.
Im komplexen Spannungsfeld von Jugendhilfe und Aufenthaltsrecht gilt stets der Vorrang des Kindeswohls und das Primat der Jugendhilfe. Die Praxis wird dem jedoch vielerorts nicht gerecht, es besteht enormer Handlungsbedarf.
Viel Chaos und viel guter Wille
In den letzten Monaten sind in oft unvorbereiteten Kommunen zahlreiche provisorische Übergangslösungen entstanden. Dabei kam es zu reduzierten Jugendhilfestandards, keinem oder verspätetem Zugang zu Bildung, ungewissen „Wartephasen“, fehlenden Vormündern und unklaren Zuständigkeiten. In einer Kommune beispielsweise mussten viele Jugendliche bis zu fünf Monate auf einen Schulplatz warten, trotz bestehender Schulpflicht. In einem weiteren Fall hatte ein Vormund über 60 Mündel – niemand kann so eine am individuellen Bedarf orientierte Personensorge gewährleisten. Trotz des persönlichen Engagements vieler Menschen fehlt es an Strukturen, in denen systematisch Wissen vermittelt wird und die Betreuung professionell aufgebaut und gestärkt wird.
Eine Versorgungslücke zeigt sich im Übergang zur Volljährigkeit: Oft endet die Betreuung abrupt und das Auffangnetz geht von einem auf den anderen Tag verloren. Prinzipiell sind Leistungen der Jugendhilfe bei entsprechender Begründung bis zum 21., in besonderen Fällen sogar bis zum 27. Lebensjahr möglich. Für den Übergang kann ein Antrag auf Hilfen für junge Volljährige hilfreich sein – worüber jedoch Vormünder häufig nicht informiert sind, auch hakt es manchmal an der Bewilligung.
Den Übergang zur Eigenständigkeit nach Eintritt der Volljährigkeit sollten einschlägige Beratungsstellen und Einrichtungen professionell begleiten.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind im Laufe ihrer Flucht und am Aufenthaltsort vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Überproportional viele Verluste, die Trennung von Familie, der Heimat und Bezugspersonen sowie (traumatische) Erlebnisse von Gewalt, Krieg, Diskriminierung im Herkunftsland und auf der Flucht sowie die Sorge um zurückgebliebene Angehörige bestimmen das Leben der jungen Menschen. Die oft erst spät einsetzende Unterstützung und Förderung führt zu einem weiteren Bruch in der Bildungsbiographie und kann überdies gravierende (aufenthaltsrechtliche) Konsequenzen nach sich ziehen.
Standards schaffen!
Die neu geschaffenen Angebote müssen an die rechtlichen und fachlichen Standards der Jugendhilfe herangeführt werden. Geflüchtete Kinder und Jugendliche dürfen nicht als gesonderte Gruppe innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und des Schulsystems betrachtet und benachteiligt behandelt werden. Notlösungen wie monatelange Unterbringung in provisorischen Unterkünften wie Schulen oder Hotels mit über 50 weiteren Jugendlichen dürfen sich nicht weiter verfestigen, müssen abgebaut oder an die Standards angeglichen werden. Der Schutz und die Rechte der Kinder und Jugendlichen dürfen nicht unter Verweis auf Überforderung und Umstrukturierung vernachlässigt werden.
Den Übergang zur Eigenständigkeit nach Eintritt der Volljährigkeit sollten einschlägige Beratungsstellen und Einrichtungen professionell begleiten. Dafür ist es im Vorfeld notwendig, die Jugendlichen über ihre Rechte und den asyl- und aufenthaltsrechtlichen Rahmen aufzuklären, um tatsächliche Partizipation zu ermöglichen und Unsicherheiten abzubauen.
Handlungsbedarf besteht zudem in der Anwerbung und Qualifizierung von Vormündern. Bei der Auswahl von Vormündern müssen die große Verantwortung, die emotionale Bedeutung für die Betroffenen und die enorme Bedeutung für das aufenthaltsrechtliche Schicksal der jungen Flüchtlinge berücksichtigt werden.
Erst durch Umsetzung der bestehenden Standards, Beachtung des Primats der Jugendhilfe, Vernetzung und Beteiligung der jungen Menschen selbst kann gewährleistet werden, dass diese an Stabilität gewinnen, Lebensperspektiven entwickeln und ihr Potential entfalten können.
Dörthe Hinz
(Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2016.)