Hintergrund
Schutzlos hinter Gittern – Abschiebungshaft in Deutschland
Das Themengebiet Abschiebungshaft befindet sich in einem grundlegenden Wandel. Während die Tendenz zur Inhaftierung von Asylsuchenden höchst besorgniserregend ist, sind teilweise positive Entwicklungen zu beobachten. Ein Überblick.
PRO ASYL und das Diakonische Werk Hessen und Nassau haben eine bundesweite Recherche initiiert mit dem Ziel, die Situation in deutschen Abschiebungshaftanstalten vor Ort in Augenschein zu nehmen. Im zweiten Halbjahr 2012 haben die Autor/innen 13 Abschiebungshaftanstalten besucht. Ergebnis der Recherche ist der Bericht „Schutzlos hinter Gittern – Abschiebungshaft in Deutschland“, der im Juli 2013 erschienen ist.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen haben PRO ASYL und die Diakonie einen umfassenden Forderungskatalog aufgestellt, darunter die Forderungen, Abschiebungshaft ausnahmslos in gesonderten Anstalten zu vollziehen, in den Ländern eine bisher fehlende gesetzliche Grundlage für den Vollzug der Abschiebungshaft zu schaffen, besonders Schutzbedürftige wie Kinder, Schwangere, psychisch Kranke, traumatisierte und behinderte Personen grundsätzlich nicht in Haft zu nehmen. Dasselbe fordert die Studie für die Asylsuchenden (sog. Dublin-Aufgriffsfälle). Die Umsetzung der konkreten Verbesserungsvorschläge kann jedoch aus Sicht der Organisationen nur ein Zwischenschritt sein. Beide Organisationen fordern den völligen Verzicht auf Abschiebungshaft.
Aktuelle Entwicklungen im Überblick
Das Themengebiet Abschiebungshaft befindet sich in einem grundlegen Wandel. In kaum einem Feld der Migrationspolitik hat sich – nach Jahrzehnten des lähmenden Stillstandes – so viel in so kurzer Zeit verändert. Während die Tendenz zur Inhaftierung von Asylsuchenden höchst besorgniserregend ist – sind teilweise positive Entwicklungen zu beobachten:
- Die obergerichtliche Rechtsprechung hat in den letzten drei Jahren zahlreiche Beschlüsse gefällt, die das Verfahren zur Anordnung der Abschiebungshaft in rechtstaatliche Bahnen lenken. Dabei spielt der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör eine zentrale Rolle. Der Druck der Gerichte, ein rechtsstaatliches Verfahren einzuhalten, hat bereits jetzt zu einer deutlichen Reduzierung von Abschiebungshaft geführt. Wird die Rechtsprechung konsequent umgesetzt, dürften die Haftzahlen nochmals zurückgehen. Die zurück gehenden Inhaftierungsfälle rechtfertigen kaum noch die hohen Kosten zur Aufrechterhaltung aller Haftanstalten. Die Landesregierung in Berlin hat bereits angekündigt, dass sie prüfe, ob zu einer Reduzierung der Kosten eine gemeinsame Einrichtung mit Brandenburg und dem Bund geschaffen werden kann.
- Das EU-Recht hat neue Maßstäbe gesetzt: Abschiebungshäftlinge dürfen nicht länger mit Strafgefangenen zusammen inhaftiert werden. Ob eine Justizvollzugsanstalt überhaupt noch als Abschiebungshaft genutzt werden darf, ist unionsrechtlich mehr als fragwürdig – eine Gerichtsentscheidung muss dies nun verbindlich klären. Kommt es zu einem Verbot, Abschiebungshaft in Justizvollzugsanstalten zu vollziehen, dann stellt sich für zehn Bundesländer die Frage, wie und wo sie Abschiebungshaft durchführen werden.
- Überproportional häufig werden Asylsuchende in Abschiebungshaft genommen. Dies hängt mit dem sogenannten Dublin-Verfahren zusammen, wonach die Zuständigkeit in der EU für Asylverfahren geklärt wird. Mehrere Tausend Asylsuchende pro Jahr werden in andere EU-Länder abgeschoben – viele von ihnen geraten bereits bei ihrer Einreise nach Deutschland in Abschiebungshaft. In grenznahen Haftanstalten – wie in Rendsburg oder Eisenhüttenstadt – befinden sich bis zu 90 % der Inhaftierte im Dublin-Verfahren. In anderen Gegenden sind es nach Angaben von Beratungsstelle und Seelsorgern geschätzt regelmäßig 50 %. Diese Praxis steht rechtlich und aus humanitären Gründen stark in der Kritik. Wenn man diese Gruppe grundsätzlich nicht mehr in Abschiebungshaft nehmen würde, wären die Abschiebungshaftanstalten teilweise vollkommen unbesetzt.
- Hinzu kommt, dass das politische Bewusstsein um die Inhumanität der Abschiebungshaft gestiegen ist. In immer mehr Bundesländern wird diskutiert, ob Abschiebungshaft noch als adäquates Mittel der Migrationspolitik angesehen werden kann. Sowohl die Koalition aus SPD, Grünen und SSW in Schleswig-Holstein als auch die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen haben erklärt, einen Paradigmenwechsel in der Abschiebepolitik einleiten zu wollen. „Wir halten Abschiebehaft grundsätzlich für eine unangemessene Maßnahme und werden uns deshalb auf Bundesebene für die Abschaffung der Abschiebehaft einsetzen, heißt es aus Kiel. „Ziel der rot-grünen Koalition ist es, Abschiebehaft überflüssig zu machen. Deshalb werden entsprechende Initiativen auf Bundesebene unterstützt“, verlautet es aus Hannover.
Vor diesem Hintergrund stellt sich ganz grundlegend die Frage, wie man künftig mit dem Institut Abschiebungshaft noch verfahren möchte. In dieser Umbruchsituation soll die vorliegende Dokumentation den Status Quo darstellen und die Problembereiche im Bereich der Abschiebungshaft benennen.