Hintergrund
Plötzlich volljährig? Das genaue Alter kann man nicht feststellen

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben oft viel hinter sich, zu Recht genießen sie besonderen Schutz. Hardliner fordern immer lauter die Einführung einer sogenannten medizinischen Altersfeststellung. Kinder- & Jugendärzte sehen dies kritisch, zumal die zur Verfügung stehenden forensischen Verfahren keine eindeutige Altersbestimmung zulassen.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge benötigen einen Vormund und pädagogische Betreuung. Sie werden in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht und dürfen in der Regel mindestens bis zum Erreichen der Volljährigkeit in Deutschland bleiben. Als Minderjährige genießen sie besonderen gesetzlichen Schutz und ihre Versorgung ist zunächst mit höheren Kosten verbunden. Vertretern einer auf Abwehr ausgerichteten Asylpolitik ist dies schon lange ein Dorn im Auge. Seit November 2017 geistern Forderungen von CDU/CSU und AfD durch die Presse, bei allen neu ankommenden, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine »Altersfeststellung« zu veranlassen: ein Begriff, der auch in Gesetzestexten vorkommt – und trotzdem falsch ist.
Volljährigkeit ist nicht zweifelsfrei nachweisbar
Es gibt kein Verfahren, mit dem sich das Alter junger Geflüchteter sicher »feststellen« lässt, weder sozialpädagogisch noch medizinisch. Möglich ist nur eine grobe Schätzung. Dies räumt auch die Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin ein. Ihr Vorsitzender, Professor Andreas Schmeling, behauptet dennoch, der zweifelsfreie Nachweis der Volljährigkeit sei möglich.
Nach deutschem und internationalem Recht muss im Zweifel zugunsten des Flüchtlings vom geringsten möglichen Alter ausgegangen werden.
Die AGFAD empfiehlt eine Ganzkörperuntersuchung und drei bildgebende Verfahren: Röntgen von Hand und Gebiss sowie ergänzend die Computertomographie der Schlüsselbeine. Jeder Aufnahme wird ein Entwicklungsstadium zugeordnet und dies anschließend mit den Ergebnissen einer Referenzstudie verglichen: Nach dem »Mindestalterprinzip« wird den Geflüchteten das Alter des jüngsten Studienteilnehmers zugewiesen, der das gleiche Reifestadium aufweist.
Doch bei allen Verfahren liegt das Mindestalter selbst bei den höchsten Stadien unter 18 Jahren: Ein komplett ausgereiftes Handskelett ist bereits ab einem Alter von 16 Jahren, das höchste Stadium der Zahn- und Schlüsselbeinentwicklung ab 17 Jahren beobachtet worden. Es ist daher nicht nachvollziehbar, wie die AGFAD »zweifelsfrei« beweisen will, dass jemand das 18. Lebensjahr vollendet hat.
Rechtlich gilt: im Zweifel zugunsten des Geflüchteten
Nach deutschem und internationalem Recht muss im Zweifel zugunsten des Flüchtlings vom geringsten möglichen Alter ausgegangen werden. Deshalb sollte ein Gutachter nicht zu dem Schluss kommen dürfen, jemand sei volljährig, wenn keine der Untersuchungen dies beweisen kann. Trotzdem werden immer wieder jugendliche Flüchtlinge durch schlichtes Handröntgen für volljährig erklärt. Dabei ist bekannt, dass bei etwa 60 Prozent der männlichen Jugendlichen bereits vor dem 18. Geburtstag ein ausgereiftes Handskelett vorliegt.
Grob verschätzt
Aufgrund der hohen Strahlenbelastung empfiehlt die AGFAD, die Computertomographie der Schlüsselbeine nur bei bereits abgeschlossener Handskelettentwicklung durchzuführen. Doch auch dieses teure Verfahren führt nicht weiter. Das bei vielen jungen Geflüchteten diagnostizierte »Stadium 3b« wird je nach Referenzstudie frühestens mit 17,6 Jahren oder mit 18,3 Jahren erreicht – ein kleiner, aber entscheidender Unterschied, wenn es um die Feststellung der Volljährigkeit geht. Wenig überraschend verwenden die meisten Gutachter die zweite Studie, obwohl sie gravierende statistische Mängel aufweist. Doch Männer im Stadium 3b können auch bis zu 37 Jahren alt sein!
Im entscheidenden Altersbereich von 16 bis 20 Jahren sind die von der AGFAD empfohlenen Verfahren zu ungenau, um eine Volljährigkeit beweisen zu können.
»Kinder mit Bärten« titelte die FAZ im Januar 2018 – wiewohl bekanntermaßen fast allen männlichen Jugendlichen vor dem 18. Geburtstag Barthaare wachsen. Doch tatsächlich kommt es vor, dass Erwachsene fälschlicherweise in Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen Aufnahme finden. In welchem Ausmaß dies geschieht, ist unklar. Klar ist, dass es auch durch die umfassendste medizinische Diagnostik nicht zu verhindern ist – auf keinen Fall besser als durch erfahrene Betreuende.
Fehleinschätzungen gefährden das Kindeswohl
Die Gutachten einiger Rechtsmediziner führen zu Fehlentwicklungen anderer Art: Kindeswohl und Gesundheit sind stark gefährdet, wenn unbegleitete Minderjährige für volljährig erklärt und dann in Gemeinschaftsunterkünften für Erwachsene sich selbst überlassen werden.
Ethikkommission gegen Altersdiagnostik durch Röntgen
Im entscheidenden Altersbereich von 16 bis 20 Jahren sind die von der AGFAD empfohlenen Verfahren zu ungenau, um eine Volljährigkeit beweisen zu können. Sie sind mit einer Strahlenbelastung und damit einer potenziellen Gesundheitsgefährdung verbunden. Die Zentrale Ethikkommission (ZEKO) der Bundesärztekammer sowie die deutsche und die europäische Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin haben sich daher gegen die Altersdiagnostik mittels Röntgen ausgesprochen.
Wichtiger als das chronologische Alter ist der Hilfebedarf, der sich mit dem holistischen Verfahren sehr genau feststellen lässt.
Auf der AGFAD-Homepage schrieb der Allgemeinmediziner Dr. Dr. Rudolf dazu, bei der ZEKO-Empfehlung handele es sich »nicht um die autonome Äußerung einer vorgeblich unabhängigen Kommission, sondern um die Parteinahme im Sinne einer bestimmten Interessengruppe.« Wer die unabhängigen Gremien der verfassten Ärzteschaft so angreift, muss selbst zu einer Interessengruppe gehören: AGFAD-Mediziner verdienen viel Geld – ein Altersgutachten kostet bis zu 1.500 Euro.
Kinder- und Jugendärzte präferieren »Holistische Methode«
Wie aber sonst kann das Alter eingeschätzt werden? Neuere Verfahren wie der Ultraschall-Handscanner oder eine als »Hildesheimer Modell« bekannt gewordene DNA-Untersuchung sind nicht ausgereift und liefern ungenauere Ergebnisse als die Röntgendiagnostik. Bleibt die von Kinder- und Jugendärzten favorisierte »holistische Methode«: Mit Hilfe genauer Beobachtung und einiger Erfahrung wird in einem ohne Zeitdruck geführten Gespräch versucht, den kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklungsstand, die Bedürfnisse, die Glaubwürdigkeit und das Alter eines jungen Menschen einzuschätzen. Auch diese Methode ist ungenau, der Vorteil der ganzheitlichen Herangehensweise liegt jedoch auf der Hand: Niemand wird ohne medizinischen Grund geröntgt und auf sein Knochenalter reduziert. Wichtiger als das chronologische Alter ist der Hilfebedarf, der sich mit diesem Verfahren sehr genau feststellen lässt.
Dr. Thomas Nowotny, Kinder- & Jugendarzt / IPPNW
(Dieser Artikel erschien erstmals im Heft zum Tag des Flüchtlings 2018.)