Hintergrund
Asyl in Zahlen 2020
Waren laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen Ende 2018 mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht, stieg ihre Zahl Mitte 2020 auf mehr als 80 Millionen an – ein Rekordwert. In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Zahl der Flüchtlinge weltweit verdoppelt. In Deutschland dagegen sind die Zahlen so niedrig wie seit 2012 nicht mehr.
Deutlicher Rückgang bei Neuzugängen
In seiner offiziellen Asylstatistik weist das BAMF 122.000 Asylanträge aus, darunter 103.000 Erstanträge – niedriger lagen die Zahlen hierzulande zuletzt 2012. Die Zahl der tatsächlichen Neueinreisen ist jedoch nochmal deutlich niedriger. Denn rund 20.000 Folgeantragsteller*innen befanden sich in der Regel bereits in Deutschland. Zudem entfallen rund 27.000 (oder 26%) aller Erstanträge auf hier geborene Kinder. Damit sind nur ca. 76.000 Personen neu eingereist und haben einen sogenannten »grenzüberschreitenden Asylantrag« gestellt.
Diese Zahl gibt also ein weitaus realistischeres Bild der tatsächlich neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden wieder als die Daten der offiziellen Asylstatistik. Damit ist die Zahl der neu in Deutschland angekommenen Schutzsuchenden das vierte Jahr in Folge deutlich – um ein Drittel (32%) – gesunken.
Humanitäre Zuwanderung im Sinkflug
Seehofer selbst hatte den im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vereinbarten »Korridor für die Zuwanderung« von 180.000 bis 220.000 Personen jährlich durchgesetzt – eine de facto-Obergrenze für die Aufnahme Schutzsuchender. Im letzten Jahr kamen mit 67.000 gerade einmal ein Drittel davon nach Deutschland.
Denn zu den 76.000 »grenzüberschreitenden Asylanträgen« kommen rund 2.000 Einreisen per Resettlement und anderen humanitären Aufnahmen sowie ca. 13.000 Visa zum Familiennachzug. Hiervon abgerechnet werden müssen rund 14.000 Rückführungen (Abschiebungen plus Zurückschiebungen) sowie knapp 10.000 »freiwillige Ausreisen«, um die tatsächliche Zuwanderung – also 67.000 – zu ermitteln.
Dunkelziffer bei den Ausreisen
Allerdings sind die von der Bundesregierung genannten Zahlen zur freiwilligen Ausreise nur vorläufig bzw. Stand Ende September, also geringer als die tatsächliche Gesamtzahl der Ausreisen. Diese dürfte aber unabhängig davon noch weit höher liegen, da viele Ausreisen statistisch nicht erfasst werden, weil Betroffene sich nicht zwangsläufig abmelden, sondern einfach ausreisen.
Einen entsprechenden Näherungswert kann die Zahl derjenigen Personen bieten, die von der Bundespolizei mit einer Grenzübertrittsbescheinigung bei der Ausreise erfasst wurden: Das waren knapp 27.000 Personen. Diese sind sicherlich nicht alles abgelehnte Asylsuchende, sondern auch andere Ausreisepflichtige, d.h. die Zahl der »freiwillig« ausgereisten abgelehnten Asylsuchenden dürfte irgendwo zwischen 10.000 und 27.000 liegen.
Tatsächliche Zuwanderung noch niedriger
Demzufolge dürfte die tatsächliche Größenordnung der humanitären Zuwanderung im letzten Jahr im Bereich von maximal 55.000–60.000 gelegen haben, wie von PRO ASYL bereits im Januar in einer Schätzung prognostiziert. Möglicherweise ist selbst diese Zahl zu hoch angesetzt, zumal ein nicht unbeträchtlicher Teil der per Familiennachzugsvisa oder über andere humanitäre Aufnahmen eingereisten Menschen zur Statusklärung Asyl beantragt hat, also doppelt gezählt wurde.
Syrien, Afghanistan und Irak als Hauptherkunftsländer
Der Blick auf die Herkunftsländer belegt, dass Aufnahme statt Abschottung das Gebot der Stunde wäre: Abzüglich der hier geborenen Kinder entfiel mit 25.000 Erstanträgen ein Drittel auf Menschen aus Syrien. Dahinter folgen mit Afghanistan (8.000) und dem Irak (7.000) zwei weitere Kriegs- und Krisenstaaten. Allein diese drei Herkunftsländer machen mit 54% mehr als die Hälfte aller Asylanträge von neu Eingereisten aus. Mit der Türkei, dem Iran, Nigeria, Somalia und Eritrea sind weitere Staaten unter Hauptherkunftsländern zu finden, in denen gravierende Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.
Schutzquoten auf dem Niveau des Vorjahres
Immerhin: Die Schutzquoten haben sich stabilisiert und befinden sich auf dem Niveau des Vorjahres. Die offizielle Schutzquote, die von der BAMF-Statistik ausgewiesen wird, ist sogar von 38% im Jahr 2019 auf 43% im Jahr 2020 gestiegen. Allerdings sind in der BAMF-Statistik auch die formellen Erledigungen mitgerechnet, die ein Viertel aller Asylentscheidungen ausmachten, im Vorjahr sogar noch ein Drittel.
In diesen formellen Entscheidungen werden die Asylgründe der Betroffenen nicht geprüft, bspw. weil ein anderer EU-Staat zuständig ist oder weil der Asylantrag an einer sonstigen formalen Hürde scheitert. Um jedoch beurteilen zu können, wie hoch die Schutzquote für einzelne Herkunftsländer tatsächlich ist, sollte man daher diese formellen Verfahrenserledigungen herausrechnen, da diese keinerlei Aussagekraft hinsichtlich der Asylgründe haben.
Betrachtet man allein die bereinigte Schutzquote, liegt diese mit 57% auf Vorjahresniveau. 35% erhielten Asyl nach dem Grundgesetz oder die Flüchtlingsanerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention zugesprochen, 17% den subsidiären Schutz und 5% ein so genanntes nationales Abschiebungsverbot – auch bei den einzelnen Schutzformen gab es im Vergleich zu 2019 keine nennenswerten Abweichungen. 43% der Asylsuchenden wurden im vergangenen Jahr abgelehnt.
Kaum noch Flüchtlings-Anerkennungen
Dennoch dürfen diese Zahlen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die BAMF-Praxis trotz der stark gesunkenen Zugangszahlen weiter sehr restriktiv bleibt und es kaum noch Flüchtlingsanerkennungen gibt, selbst wenn diese Quote mit 35% bei über einem Drittel liegt. Grund für diese hohe Quote ist nämlich insbesondere das sogenannte Familienasyl, über das bspw. hier geborene Kinder oder per Familiennachzugsvisa nachgekommene Familienangehörige, die zur Statusklärung Asyl beantragen, den Status von der stammberechtigten Person ableiten können.
Syrer*innen bekommen fast nur subsidiären Schutz
Betrachtet man bspw. die positiven Entscheidungen bei syrischen Asylsuchenden, so stellt man fest, dass zwar 55% den Flüchtlingsstatus erhalten haben, also mehr als die Hälfte. Allerdings sind 97% dieser Flüchtlingsanerkennungen keine eigenständigen Anerkennungen, sondern von Familienangehörigen abgeleitet.
In Anbetracht der verschärften Anerkennungspraxis des BAMF seit März 2016, als der Gesetzgeber den Familiennachzug zu subsidiär Geschützten zunächst für über zwei Jahre ausgesetzt und anschließend auf maximal 1.000 Visa pro Monat kontingentiert hatte, würden diese Menschen heute in einem eigenständigen Asylverfahren in der Regel keinen Flüchtlingsstatus mehr erhalten. Somit geben die offiziellen wie auch die bereinigten Anerkennungsquoten ein verfälschtes Bild der tatsächlichen Entscheidungspraxis des BAMF über Asylanträge wieder, da diese Zahlen die hier geborenen Kinder und nachgezogene Familienangehörige beinhalten.
Nachteile mangels Flüchtlingsanerkennung
Auch bei anderen wichtigen Herkunftsländern, bei denen ein Familiennachzug in einer relevanten Größenordnung stattfindet, sieht man eine ähnliche Entscheidungslage: Bei Afghanistan sind 69% der Flüchtlingsanerkennungen von Familienangehörigen abgeleitet, beim Irak sind es 94%, bei Eritrea sogar 98%. Für alle Herkunftsländer ergibt sich ein Wert von 80% abgeleiteten Flüchtlingsanerkennungen, d.h. über 30.000 der insgesamt 38.000 Anerkennungen als Flüchtlinge sind basierend auf Anerkennungen von bereits hier lebenden engen Angehörigen. Die Anerkennungspraxis des BAMF führte im vergangenen Jahr also den seit 2016 eingeschlagenen Weg fort und bleibt restriktiv.
Familiennachzug: Um die Hälfte reduziert
Zu dieser Praxis des BAMF kommen im Visumsverfahren weitere Restriktionen und bürokratische Hürden hinzu, die Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte beim Versuch des Nachholens ihrer Angehörigen bei den Botschaften und Konsulaten haben: Nur noch 12.500 Familiennachzugsvisa wurden im vergangenen Jahr für Angehörige von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten erteilt – ein Rückgang um 50%.
Dieser ist zwar teilweise mit den Beschränkungen des Reiseverkehrs und der Visumsbearbeitung in den Botschaften infolge der Corona-Pandemie zu erklären; allerdings kann dies nicht die alleinige Ursache sein, da die Zahl der Visa zum Familiennachzug insgesamt (also bspw. ausländische Ehegatt*innen von deutschen Staatsangehörigen) »nur« um 29% rückläufig war. Demnach spielt Corona den politisch Verantwortlichen in die Hände, um den Familiennachzug klein zu halten – und hierfür die Pandemie vorschieben zu können.
Von den gesetzlich festgelegten 12.000 Visa für Angehörige von subsidiär Geschützten (maximal 1.000 pro Monat) wurden im letzten Jahr weniger als 5.300 erteilt. Ob die nicht erteilten 6.700 Visa nachträglich erteilt werden, bleibt ungewiss.
Weniger Asylentscheidungen, aber keine Besserung der Verfahrensqualität
Qualitätsmängel bei BAMF-Entscheidungen stehen seit Jahren in der Kritik. Obwohl das BAMF mit 145.000 Entscheidungen über Asylverfahren im Vergleich zum Vorjahr rund 21% weniger Entscheidungen zu treffen hatte, zudem in einem Viertel aller Fälle das weit weniger verfahrensaufwändige Familienasyl gewährt werden konnte, stieg die Qualität der Asylentscheidungen nicht an.
Im Gegenteil: Viele der Entscheidungen erwiesen sich auch 2020 als fehlerhaft oder falsch und wurden von den Gerichten aufgehoben. Bis Ende Mai 2020 wurden mit knapp 8.000 Asylbescheiden fast ein Drittel (30%) aller inhaltlich überprüften BAMF-Entscheidungen durch die Gerichte korrigiert, ein leichter Anstieg im Vergleich zu 2019 (26%). Hinzu kommen über 1.000 Bescheide, in denen das BAMF seine Entscheidung selbst korrigierte und den ursprünglichen Bescheid aufhob.
60 Prozent falsche Afghanistan-Bescheide
Auch für das Gesamtjahr dürfte sich nur wenig zum Besseren getan haben, wie allein die Zahlen zu Afghanistan verdeutlichen: Lag die Quote der aufgehobenen Afghanistan-Bescheide bis Ende Mai noch bei 55%, stieg diese im Gesamtjahr 2020 auf 60% an. Dass beim BAMF eine vom Innenministerium behauptete »durchgehende Überprüfung der Qualität der Asylentscheidungen« erfolgen soll, lässt sich aus diesen Zahlen jedenfalls nicht ablesen. Vielmehr belegen derartig verheerende Zahlen den eigentlichen BAMF-Skandal.
Obwohl seit Jahren bezüglich Afghanistan in einer Vielzahl von Verfahren falsch entschieden wird, wird beim BAMF offensichtlich nicht nachgebessert. Damit verlagert das BAMF die Verfahren auf die Verwaltungsgerichte und ist für deren Überlastung mitverantwortlich. Bei einer solch hohen Fehlerquote müssten bereits ergangene ablehnende Asylbescheide eigentlich erneut überprüft werden, um die überlasteten Gerichte zu entlasten und die Verfahren zu beschleunigen.
Zermürbung durch lange Klageverfahren
Die im Schnitt mittlerweile fast zwei Jahre (22 Monate, Jan-Mai 2020) dauernden Klageverfahren führen zu einem abschreckenden Nebeneffekt: Viele Betroffene kommen erst nach Jahren des Wartens zu ihrem Recht und können in dieser Zeit ihre Familie nicht oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen nachholen oder sie werden von der über Jahre andauernden Unsicherheit, ob sie bleiben können oder nicht, zermürbt.
Ein solcher Schwebezustand bedeutet für die Betroffenen teils massive Probleme beim Zugang zu Sprach- und Integrationskursen sowie zum Arbeitsmarkt und wirkt sich massiv integrationsfeindlich auf die Menschen, die trotz einer solchen Praxis zum großen Teil in Deutschland bleiben werden, aus.
Trotz Corona viele Dublin-Verfahren
Auch die Zahl der so genannten Dublin-Verfahren bleibt hoch: Über 30.000 Übernahmeersuche bedeuten, dass in 29% aller Asylverfahren ein anderer europäischer Staat für zuständig erachtet wurde. Diese Dublin-Verfahren wurden über das Jahr hinweg durchgeführt, obwohl zwischenzeitlich durch den ersten Corona-Lockdown die innereuropäischen Grenzen geschlossen und Überstellungen in andere EU-Länder überhaupt nicht möglich waren. Sobald diese möglich wurden, schob Deutschland auch selbst bei hohem Infektionsgeschehen ins innereuropäische Zielland ab.
Kaum Überstellungen, an Dublin wird trotzdem festgehalten
Die Zahl der Dublin-Überstellungen sank 2020 auf 3.000, was den niedrigsten Wert seit 2011 darstellt. Dies hatte vor allem mit besagten Grenzschließungen ab März 2020 zu tun. Im Hinblick auf die Zahl der Übernahmeersuchen ist das Dublin-Verfahren ein für das BAMF höchst aufwändiges und vor allem vollkommen ineffizientes Verfahren, wenn in weniger als 10% der eingeleiteten Dublin-Verfahren eine Überstellung erfolgt. Dass das BAMF aber dennoch und trotz der zwischenzeitlich überhaupt nicht möglichen Überstellungen mit Vehemenz und mit rechtlich fragwürdigen Strategien an Dublin festhielt, ist ein weiterer Beleg für die restriktive Linie gegenüber Geflüchteten.
Der Unsinn der Dublin-Verfahren lässt sich besonders gut am Beispiel Griechenland verdeutlichen: Rund 22% aller Dublin-Verfahren und damit mit Abstand die meisten betrafen allein dieses mit der Flüchtlingsaufnahme völlig überforderte Land. Fast 7.000 Übernahmeersuche wurden Richtung Griechenland gestellt. Dorthin überstellt wurden indes vier Personen.
Eine solche rein der Abschreckung dienende Praxis führt im Ergebnis vor allem zu künstlich in die Länge gezogenen Asylverfahren. Insbesondere die tausende Menschen, denen erst stark verzögert Schutz gewährt wird, sind Leidtragende dieser unsäglichen Praxis. Und dass im Gegenzug auch Dublin-Überstellungen nach Deutschland stattfinden, die gegengerechnet werden müssen, bedeutet, dass Geflüchtete mit hohem bürokratischen Aufwand, aber mit wenig Sinn, zwischen den EU-Staaten hin- und hergeschoben werden.
Wenig Besserung im Flughafenverfahren
Auch im Flughafenasylverfahren hat sich nur wenig zum Besseren getan. Das Flughafenverfahren ist ein Schnellverfahren, bei dem Menschen im Flughafentransit festgehalten werden und als nicht eingereist gelten. Innerhalb von zwei Tagen muss entweder über den Asylantrag entschieden oder die Einreise erlaubt werden.
Im Rahmen dieses Schnellverfahrens darf eine Ablehnung nur als »offensichtlich unbegründet« erfolgen, d.h. die Ablehnung und die Unbegründetheit des Antrags müssen sich dem BAMF geradezu aufdrängen. Im Hinblick auf die oftmals sehr komplexen Sachverhalte in Asylverfahren können also bspw. kleinere Widersprüche oder Unklarheiten im Vortrag der Betroffenen gerade nicht zu einer Ablehnung als »offensichtlich unbegründet« führen.
Ablehnungsquote im Flughafenverfahren drastisch gestiegen
Dennoch ist die Ablehnungsquote an den deutschen Flughäfen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Lag sie 2014 noch bei 9% gemessen an den Entscheidungen, ist sie auf bis zu 51 % im Jahr 2019 gestiegen. Im vergangenen Jahr war erstmalig wieder ein Rückgang auf 46% zu verzeichnen. Dennoch: Bei fast jedem zweiten Asylantrag drängt sich dem BAMF die Ablehnung offenbar geradezu auf, darunter bspw. in vielen Fällen von Asylsuchenden aus dem Iran oder dem Irak.
Im Hinblick darauf, dass ähnlich fragwürdige Modelle an den EU-Außengrenzen geplant sind (siehe »New Pact on Asylum and Migration«), muss zwingend auf die Mängel des deutschen Flughafenverfahrens hingewiesen werden.
Das »Bundesamt für Widerrufsverfahren«
Fast zwei Drittel aller BAMF-Entscheidungen, rund 253.000, sind im vergangenen Jahr in Widerrufsverfahren ergangen – nur ein Drittel waren Entscheidungen in Asylverfahren. Weitere 149.000 solcher Widerrufsprüfverfahren waren Ende 2020 anhängig.
In diesen gesetzlich vorgesehenen Verfahren wird anlasslos geprüft, ob Schutzberechtigte noch schutzbedürftig sind, also ob sich beispielsweise die Situation in ihrem Herkunftsland gravierend geändert hat und sie zurückkehren könnten.
Kaum Widerrufe, aber die Angst unter Flüchtlingen ist da
Im Hinblick darauf, dass 87% dieser Verfahren Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea betreffen, also Staaten, in denen in den vergangenen Jahren kaum relevante Veränderungen zu einer besseren menschenrechtlichen Lage festzustellen sind, ist dies ein unhaltbarer Zustand. Dementsprechend kommt es auch in fast 97% der Fälle nicht zu einem Widerruf.
Unter Geflüchteten sorgen diese Widerrufsprüfungen für Angst und Schrecken sowie große Verunsicherung um die eigene Zukunft, zumal Zehntausende zu persönlichen Anhörungen ins BAMF vorgeladen wurden. Die geringe Anzahl an Widerrufen macht die Nutzlosigkeit solcher anlasslosen Überprüfungen deutlich, bei gleichzeitigem enormen Aufwand beim BAMF. Diese Kapazitäten sollten stattdessen besser in die Verbesserung der tatsächlichen Asylverfahren gesteckt werden.
Weniger Abschiebungen durch Corona
Die Zahl der Abschiebungen ging im vergangenen Jahr – insbesondere pandemiebedingt –deutlich zurück. Mit knapp 11.000 hat sie sich im Vergleich zu 2019 halbiert; die meisten Abschiebungen gingen nach Georgien, Albanien und Serbien. Die gesunkenen Zahlen können jedoch kaum Beleg für eine verminderte Härte sein: Auch 2020 gab es unzählige Berichte über Fälle unbarmherziger Abschiebungen – selbst Alte und schwer Kranke oder Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, blieben nicht davon verschont.
Zeit für menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik!
In Zeiten zunehmender Kriegs- und Krisenherde und angesichts dramatisch steigender Flüchtlingszahlen in der Welt, kann Abschreckung und die sich zunehmend verschärfende Abschottung von Deutschland und Europa keine zukunftsfähige Antwort sein. Zumal auch die weltweite Pandemie und der in den Hintergrund gedrängte Klimawandel dazu beitragen werden, dass sich die Zahl derer, die gezwungen sein werden ihre Heimat zu verlassen, in absehbarer Zeit nicht verringern wird.
Nachdem der Parole »Wir schaffen das« von Kanzlerin Merkel fünf Jahre lang Restriktionen und Gesetzesverschärfungen gefolgt sind, und auch auf europäischer Ebene eine Einigung höchstens bei Verschärfungen zu erzielen war, ist es endlich wieder an der Zeit für zukunftsfähige Konzepte.
Dazu zählt nicht nur, die neu einreisenden Asylsuchenden nicht länger mit allerlei gesetzlichen und administrativen Schikanen systematisch in ihren Rechten einzuschränken, sondern auch die bereits hier lebenden Schutzberechtigten nicht in einem ständigen Status des Nicht-Willkommen-Seins und der Unsicherheit zu belassen und ihnen stattdessen Sicherheit zu bieten sowie den unbürokratischen Nachzug ihrer Familien zu ermöglichen. Diese Menschen werden angesichts der Situation in den Flüchtlingsherkunftsländern dauerhaft hier bleiben. Hiervor weiterhin die Augen zu verschließen oder gar nach rechts zu schielen, ist politisch verantwortungslos.
Dirk Morlok