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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte stoppt griechische Abschiebepläne

Der Straßburger Gerichtshof hat der aktuellen Aussetzung von Asylverfahren in Griechenland vorerst Einhalt geboten: Mit zwei einstweiligen Anordnungen schützt das Gericht Menschen, denen der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wurde. Im Interview ordnet Minos Mouzourakis, Rechtsanwalt der PRO ASYL-Schwesterorganisation RSA, den wichtigen Erfolg ein.
Lieber Minos, du und deine Kolleg*innen von Refugee Support Aegean (RSA) haben erfolgreich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) interveniert. Das Gericht hat wiederholt Schutzsuchende in Griechenland vor einer sofortigen Abschiebung geschützt, bevor ihre individuelle Situation geprüft wurde. Wie ist es überhaupt möglich, dass Griechenland, ein Mitglied der EU, die Abschiebung von Schutzsuchenden anordnet, ohne zuvor ihre Situation zu prüfen?
Mitte Juli dieses Jahres traf Griechenland die radikale Entscheidung, Menschen, die aus Nordafrika – meist über Libyen – kommen, den Zugang zu Asyl zu verweigern. Die Aussetzung des Asylrechts gilt aktuell bis zum 14. Oktober für drei Monate.
Die griechische Regierung reagierte damit auf einen Anstieg der Ankünfte auf den südgriechischen Inseln Kreta und Gavdos. Während die Zahlen der Ankünfte in anderen Teilen des Landes weiterhin gering sind und zurückgehen, hält der Anstieg der Ankünfte im Süden seit fast zwei Jahren an. In dieser Zeit hat das für die Aufnahme und Unterbringung zuständige griechische Ministerium es versäumt, Strukturen zu schaffen, um grundlegende Aufnahmestandards für Neuankommende zu etablieren. Es gab einfach keine Reaktion – bis jetzt.

Angesichts des geografischen Fokus dürften unter den Betroffenen viele Schutzsuchende vom afrikanischen Kontinent sein …
Zu denjenigen, denen der Zugang zum Verfahren verwehrt wird, gehören vor allem Männer, aber auch Frauen aus dem Sudan, dem Südsudan, dem Jemen und Eritrea. Das sind Herkunftsländer, die sich in bewaffneten Konflikten befinden und bei denen laut den griechischen Asylbehörden die Chancen auf Schutz hoch sind. Sie, und alle anderen, die über Libyen kommen, werden inhaftiert und von der Außenwelt abgeschnitten.
Nach einer langen und gefährlichen Flucht werden sie aufs Festland in ein Abschiebelager gebracht. Einige dieser Haftanstalten waren früher offene Lager. Schutzsuchende, die unter die Aussetzung fallen, erhalten dort sofort eine Rückführungsanordnung in ihr Herkunfts- oder Transitland. Diese Rückführungsentscheidungen werden ohne individuelle Prüfung der potenziellen Risiken getroffen. Wir sprechen von standardisierten Formularen – nicht einmal das Zielland ist spezifiziert. Die Situation ist sehr ähnlich zu der, die wir im März 2020 bei der rechtswidrigen Aussetzung des Zugangs zum Asylverfahren erlebt haben. Erneut haben wir es nicht nur mit der Aussetzung des Asylverfahrens, sondern auch mit der Entscheidung zur sofortigen Abschiebung zu tun.
Seit der Aussetzung wurden Schätzungen zufolge bereits 1.000 Menschen inhaftiert. Wie sind die Haftbedingungen?
Wir stehen hauptsächlich mit Asylsuchenden in Kontakt, die im Norden Athens in der Abschiebehaft Amygdaleza inhaftiert sind. Nach den Berichten, die wir von dort, aber auch aus verschiedenen anderen Abschiebehaftanstalten erhalten, ist die Lage alarmierend.
Selbst nach Tagen und Wochen tragen einige inhaftierte Asylsuchende immer noch die Kleider, in denen sie in Griechenland angekommen sind. Sie erhalten weder saubere Kleider noch saubere Bettwäsche. Amygdaleza besteht aus Containern, die nur dürftig in Stand gehalten werden. Einige von ihnen sind aufgrund von Schäden unbewohnbar, in anderen gibt es weder fließendes Wasser noch Strom oder eine Klimaanlage. Die Menschen können nicht einmal duschen und leiden unter den extremen Temperaturen im Sommer. Die Aufrechterhaltung der persönlichen Hygiene wird so extrem schwierig. Die Geflüchteten in Haft sind von der Außenwelt abgeschnitten. Nur wenige haben noch ihre Mobiltelefone. Doch auch für sie ist der Kontakt zur Außenwelt extrem eingeschränkt.
In dieser Situation leitest du und deine Kolleg*innen von Refugee Support Aegean rechtliche Schritte ein. Kannst du beschreiben, wie das aussieht?
Wir von RSA und Kolleg*innen von anderen Organisationen bemühen uns, Schutzsuchende zunächst über ihre aktuelle Situation, ihre Rechte und mögliche rechtliche Schritte aufzuklären. Wir versuchen, ihnen den Zugang zum Asylsystem zu ermöglichen – das ist ein Menschenrecht, das niemals genommen werden darf. Dafür unterstützen wir Betroffene persönlich und schriftlich in Griechenland einen Asylantrag einzureichen. Das wird natürlich ignoriert.
Ich möchte betonen, dass dies in einer Situation geschieht, in der es in Abschiebehaft keine kostenlose Rechtsberatung gibt. Griechenland ist eigentlich verpflichtet, rechtlichen Beistand in Haft anzubieten, aber es gibt kein Rechtshilfesystem. Tausende von Menschen in Haft sollten Zugang zu einem Anwalt haben, sind aber weiterhin nichtvertreten. Die Zivilgesellschaft springt ein und versucht, betroffene Menschen dabei zu unterstützen ihre Rechte wahrzunehmen. Aber natürlich sind unsere Kapazitäten zu gering, um den Bedarf zu decken.
Anstelle eines Asylverfahrens erhalten die Menschen, denen Sie in der Haft begegnen, also standardisierte Rückführungsentscheidungen?
Ja. Ihre Abschiebung, entweder in ihr Heimatland oder in das Transitland, wird angeordnet – ohne vorher zu prüfen, ob sie dort sicher oder möglicherweise Risiken ausgesetzt sind. Selbst wenn es einer asylsuchenden Person gelingt, innerhalb der extrem kurzen Frist von fünf Tagen gegen diese Entscheidung Berufung einzulegen und vor Gericht eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, schützt sie das nicht vor der Abschiebung. Dies ist eine erhebliche und bekannte Lücke im Rechtsschutz in Griechenland. Um unsere Mandanten vor der Abschiebung zu schützen, bis der Fall vom innerstaatlichen Gericht ordnungsgemäß geprüft wurde, haben wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um einstweilige Maßnahmen ersucht.
Sie sprechen von der ersten einstweiligen Anordnung, die der Gerichtshof am 14. August erlassen hat?
Ja. Am 14. August hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht von acht Flüchtlingen aus dem Sudan gesichert. Ihr Aufenthalt im Land ist so lange zu wahren, bis das Verwaltungsgericht ihre Aussetzungsanträge gegen die Abschiebungsanordnung geprüft hat. Es war das erste Mal seit Juli, dass die Acht tatsächlich vor der Abschiebung und den Gefahren, denen sie in ihrem Heimat- oder Transitland ausgesetzt sein könnten, geschützt wurden. Diese Anordnung signalisiert auch die Anerkennung der ernsthaften Risiken, denen die acht Personen bei einer Abschiebung ausgesetzt sind und die einen triftigen Grund für ihre Asylanträge darstellen. Vier der Antragsteller werden von Refugee Support Aegean vertreten, vier von ihnen vom Griechischen Flüchtlingsrat.
Nur wenige Wochen später, am 29. August, erhielten Sie eine weitere Entscheidung über eine einstweilige Anordnung des EGMRs im Fall von vier eritreischen Flüchtlingen. Hat das Gericht genauso entschieden?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ging diesmal noch weiter. Er betonte, dass vier Flüchtlingen aus Eritrea gestattet werden muss, in Griechenland zu bleiben, bis sie Zugang zu Asylverfahren erhalten haben. Die Polizei hatte zuvor die Einsprüche der von RSA vertretenen Flüchtlinge gegen die Rückführungsanordnung ohne Prüfung abgelehnt, da sie nach Ablauf der fünftägigen Frist eingereicht worden waren.
Die Entscheidung des Gerichts kommt nicht überraschend. RSA, PRO ASYL und 107 Organisationen haben die Aussetzung als klaren Verstoß gegen verbindliches internationales Menschenrechtsrecht sowie EU-Recht scharf verurteilt.
Die Aussetzung hat nicht nur in Griechenland, sondern auch in der EU und auf internationaler Ebene scharfe Kritik hervorgerufen. Unter anderem haben sich die griechische Menschenrechtskommission, die Vereinigung griechischer Verwaltungsrichter*innen und Mitarbeiter*innen des griechischen Migrationsministeriums sowie der Menschenrechtskommissar des Europarates und das UNHCR gegen die Entscheidung ausgesprochen.
Das Schweigen der Europäischen Kommission, deren institutionelle Aufgabe es ist, die Einhaltung der Verträge und Vorschriften der Europäischen Union sicherzustellen, ist jedoch auffällig. Seit Inkrafttreten der Aussetzung sind nun schon zwei Monate vergangen. Die Kommission hat bislang lediglich erklärt, dass sie die Verfahrensweise beobachtet, während Griechenland mit einer außergewöhnlichen Situation konfrontiert sei. Diese Haltung ist unverbindlich und wird von der griechischen Regierung als Unterstützung interpretiert.
Stoppen die Entscheidungen des Gerichts die Pläne Griechenlands?
Das ist schwer zu beurteilen. Wir haben wenig Hoffnung, dass es auf politischer Ebene zu einer Überprüfung kommen wird. Die Regierung hat bereits Interesse an einer Verlängerung der Aussetzung bekundet.
Aber zumindest ist bislang keine tatsächliche Abschiebung bekannt. Wenn wir in die Vergangenheit blicken, wurde auch im März 2020 niemand wirklich abgeschoben. Dennoch dauert das unnötige menschliche Leid und die unnötigen Rechtsverletzungen an, nur um die Asylanträge der derzeit inhaftierten Menschen dann später zu bearbeiten. Und ich möchte hinzufügen, dass dies auch eine unnötige Belastung für die Verwaltung darstellt. Es ist eine Sache, Asylanträge nacheinander zu prüfen, und eine andere, Tausende auf einmal zu erhalten, wenn die Aussetzung schließlich endet.
Gleichzeitig könnten die Rückführungsanordnungen jederzeit vollstreckt werden, Abschiebungen könnten jederzeit stattfinden. Das ist die reale Bedrohung und die Realität, die die Menschen erleben.
»Dennoch dauert das unnötige menschliche Leid und die unnötigen Rechtsverletzungen an«
Nach der ersten Intervention des Gerichtshofs behaupteten Regierungsvertreter, ihrer Meinung nach würden die an den Fällen beteiligten Nichtregierungsorganisationen politische Entscheidungen untergraben. Organisationen wie Refugee Support Aegean werden also ins Visier genommen.
Die jüngsten Äußerungen richten sich nicht nur gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, die Menschen beim Zugang zu ihren gesetzlichen Rechten unterstützen, sondern untergraben auch das individuelle Recht auf Rechtsbehelfe, gerichtliche Kontrolle und Rechtsstaatlichkeit im weiteren Sinne.
Die Regierung kündigte zudem auch Pläne an, die Registrierungsvorschriften für NGOs zu verschärfen. Seit fünf Jahren steht das berüchtigte NGO-Register an vorderster Front der Bemühungen, die Handlungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen einzuschränken. Nach der Entscheidung des EGMR hat der Migrationsminister die Zivilgesellschaft ins Visier genommen und in Aussicht gestellt, Organisationen, die Asylbewerber*innen bei der Anfechtung staatlicher Entscheidungen unterstützen, aus dem Register zu streichen. Dies hätte massive Auswirkungen auf unsere Arbeitsfähigkeit, da die Registrierung eine Voraussetzung für jegliche Tätigkeit im Bereich Asyl und Migration ist. Die bereits bestehende mangelnde Unterstützung würde so noch verschärfen.
Wir nehmen diese Drohungen sehr ernst. Wir haben uns an nationale, EU- und internationale Institutionen gewandt, um sicherzustellen, dass dies nicht nur klar dokumentiert, sondern auch als Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit im Land verurteilt wird. Wir werden unsere Mandant*innen weiterhin vertreten und dabei unterstützen, ihre Rechte einzufordern. Damit verteidigen wir auch die Rechtsstaatlichkeit.