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»Wirklich angekommen fühlte ich mich, als ich arbeiten durfte«

Familie Abdulkadir hat es geschafft: Zehn Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland halten die gebürtigen Syrer*innen deutsche Pässe in den Händen. Die Eltern arbeiten, die Töchter gehen zur Schule. Bei der Bundestagswahl durften Nermin und Mohammed zum ersten Mal im Leben einen Stimmzettel abgeben – ein wichtiges Ereignis für sie.
Als sie das erste Mal auf Deutsch träumte, wusste sie, dass sie es geschafft hatte. Die 31-jährige Nermin lacht, als sie das erzählt. »Die Sprache zu lernen, ist das Wichtigste« – das sage sie auch allen syrischen Bekannten, die noch nicht lange in Deutschland seien. Vor wenigen Wochen hat die dreifache Mutter nun ein Fernstudium der Germanistik begonnen.
Die Eltern und ihre drei Töchter strahlen eine ansteckende Fröhlichkeit aus. Nermin lacht viel, auch ihr Mann Mohammed wirkt gelöst. Durchs Wohnzimmer tollen die Mädchen: Alin, zehn Jahre, Tala, acht, und die anderthalbjährige Alma. Die Katze hat sich unterm Sofa versteckt, ihr ist der Trubel zu viel. An den Wänden ihrer Wohnung hängen Zeichnungen von Nermin: Ausdrucksstarke Frauenporträts, die eine Künstlerin erkennen lassen. Doch das sei nur ihr Hobby. Ihr Zuhause haben die Abdulkadirs in bunten Farben gestrichen, sonnengelb ist die Wand im Wohnzimmer. Nichts lässt erkennen, welche Odyssee sie hinter sich haben.
Nermin hatte eine Geburt per Kaiserschnitt, nach einer kurzen Verschnaufpause in der Türkei waren sie mit der zwei Monate alten Tochter monatelang unterwegs.
Nermin und Mohammed stammen aus dem syrischen Idlib. Als ihre Tochter Alin gerade mal zwei Wochen alt war, suchten sie Zuflucht in der Türkei. »Ohne Kind hatte ich nicht so viel Angst in Syrien, aber mit Baby im Arm ist es ganz anders«, erzählt Nermin. Sie hatte eine Geburt per Kaiserschnitt, nach einer kurzen Verschnaufpause in der Türkei waren sie mit der zwei Monate alten Tochter monatelang unterwegs. Mit dem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland, dann über die Balkanroute bis nach Deutschland – so wie Hunderttausende andere auch.
Der Zug nach München: Hoffnung. Sicherheit. Eine Zukunft
In Ungarn wurden sie voneinander getrennt und fanden sich erst nach 17 Tagen wieder. Mohammed wird emotional, als er davon erzählt. Von den Stockschlägen ins Gesicht, die ihm ungarische Polizisten verpassten. Von Bestechungsgeldern, die er zahlen musste, davon, wie es ist, einen Monat lang nicht zu duschen. Und dann von seiner kranken Frau und der kleinen Tochter, die plötzlich Atemprobleme hatte, getrennt zu werden – ohne zu wissen, wo sie waren und wie es ihnen ging. Aber immer wieder kreuzten auch hilfsbereite Menschen ihren Weg, so wie der Ungar, der Mohammed half, seine Frau wiederzufinden. Oder der Kioskbesitzer, der ihnen eine Nacht in einem Hotel in Budapest bezahlte, als sie nicht mehr weiterwussten. Und auch Grenzbeamte habe es gegeben, die gesagt hätten: »Lasst sie durch, sie haben ein Baby.«
Als sie in München ankamen, hatten sie von ihrem Ersparten noch 16 Euro in der Tasche. Mohammed kaufte für seine Frau, die das Baby stillte, etwas zu essen.
Als Mohammed von dem Zug erzählt, mit dem sie schließlich nach Deutschland fahren konnten, leuchten seine Augen. Für die Familie bedeutete dieser Zug alles. Hoffnung. Sicherheit. Eine Zukunft.
Als sie in München ankamen, hatten sie von ihrem Ersparten noch 16 Euro in der Tasche. Mohammed kaufte für seine Frau, die das Baby stillte, etwas zu essen. »Ich habe eine Woche lang nur geschlafen, so groß war die Erschöpfung«, erinnert er sich. »Und immer wieder habe ich geträumt, dass wir noch zu Fuß unterwegs sind.« Diese Träume verfolgen ihn noch immer, bis heute.
Die Anfangszeit war für das Ehepaar schwierig. »Ich hatte Angst, wie wir hier leben können. Ohne Sprache, ohne alles. Ich habe es noch nicht mal geschafft, dem Busfahrer verständlich zu machen, dass ich ein Ticket kaufen möchte«, erinnert Mohammed sich. Auch Nermin hatte Angst. Etwa davor, dass sie wegen ihres Kopftuchs beleidigt würde. Aber: »Ich habe nur gute Erfahrungen mit Deutschen gemacht«, schwärmt sie. »Von Anfang an waren viele nette Menschen um uns herum, die uns geholfen haben. Besonders Elisabeth, die ich nur ‚mein deutscher, blonder Schatz‘ nenne«, sagt sie. Die ehrenamtlich Engagierte sei sogar bei der Geburt ihrer Tochter Tala dabei gewesen, so innig sei das Verhältnis.
»Arbeiten, Steuern zahlen – so kann man dem Land danken«
Elisabeth war es auch, die den Abdulkadirs half, schnell eine Arbeit zu finden. Nach nur sechs Monaten in Deutschland begann Mohammed in einer Bäckerei zu arbeiten – zunächst unentgeltlich, als Praktikant, »aber alles ist besser, als nur herumzusitzen«.
Schließlich erhielt er eine Arbeitserlaubnis und wurde in derselben Bäckerei angestellt, Er stand mitten in der Nacht auf, um in der Backstube anzufangen, verdiente Geld und lernte durch die Kolleg*innen Deutsch. Wenn er nach Hause kam, übernahm er die Betreuung von Alin und Tala, damit seine Frau Nermin den Deutschkurs besuchen konnte. Seit fünf Jahren arbeitet Mohammed nun in einer Gärtnerei. Seine Familie hatte in Syrien viele Oliven‑, Kirsch- und Feigenbäume, ein bisschen Erfahrung brachte er also mit.
»Manche Deutsche denken, Flüchtlinge würden nur herumsitzen. Aber von den 20 syrischen Familien, die mit uns angekommen sind, arbeiten inzwischen 19 Familien«
»Manche Deutsche denken, Flüchtlinge würden nur herumsitzen. Aber von den 20 syrischen Familien, die mit uns angekommen sind, arbeiten inzwischen 19 Familien«, sagt er. Und fügt hinzu: »Ich fühlte mich in Deutschland richtig angekommen, als ich arbeiten durfte.« Nermin nickt. Auch sie ist berufstätig. Zunächst in der Altenpflege und bei einem Zahnarzt, momentan hat sie neben ihrem Studium einen Minijob in einem Café. Nach ihrem Studium möchte Nermin als professionelle Übersetzerin arbeiten.
»Die Deutschen haben uns sehr geholfen. Sie haben uns die Tür geöffnet. Wir haben hier die Sicherheit und Hoffnung gefunden, die wir in Syrien nicht mehr hatten. Aber wir wollen Deutschland auch etwas zurückgeben. Wir arbeiten, zahlen Steuern. So kann man dem Land danken«, sagt Mohammed. Etwas zurückgeben, selbst helfen: Das leben die Abdulkadirs auch, indem sie heute anderen Syrer*innen helfen, etwa beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen. Und als 2021 die große Flut das Ahrtal verwüsteten, reiste Mohammed hin, um zu helfen.
Seit 2024 ist die Familie eingebürgert; bei der diesjährigen Bundestagswahl haben sie ihre Stimme abgegeben. »Es war sehr besonders für uns, denn wir haben das erste Mal im Leben gewählt«, sagt Mohammed. Und ein weiteres besonderes Ereignis steht an: Zehn Jahre nach ihrer Flucht können sie nach Syrien zurückkehren, um ihre Familien zu besuchen. Die Mädchen werden das erste Mal ihre Großeltern kennenlernen, Nermin ihre Mutter nach 15 Jahren der Trennung wiedersehen. »Damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Ich hatte versucht, Syrien aus meinem Kopf zu streichen«, erzählt Mohammed. Aber ihre neue Heimat ist jetzt Deutschland, für sie steht außer Frage, dass sie zurückkehren.
Zum Abschluss des Gesprächs möchte Mohammed noch etwas loswerden: »Ein besonderes Dankeschön möchte ich Frau Merkel sagen. Sie hat uns Hoffnung geschenkt.«
Ein Bruder von Mohammed Abdulkadir wird von PRO ASYL unterstützt: Sein Bruder Akram Abdulkadir starb 2022 auf der Flucht qualvoll – während eines gewaltvollen Pushbacks durch griechische Sicherheitskräfte, die keine Nothilfe leisteten. Ein dritter Bruder, Hassan Abdulkadir, der mit ihm auf der Flucht und Zeuge des Verbrechens war, hat mit Unterstützung von PRO ASYL Anzeige gegen die Sicherheitskräfte erstattet. Im Interview mit PRO ASYL schilderte er seine Erlebnisse: »Ich rief verzweifelt nach Hilfe. Doch die Antwort waren weitere Schläge«
(er)