PRO ASYL zum Bericht der Robert Bosch Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik: „Chancen erkennen – Perspektiven schaffen – Integration ermöglichen“
Die Robert Bosch Stiftung hat am 6. April 2016 den Bericht „Chancen erkennen – Perspektiven schaffen – Integration ermöglichen“– Zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik‘ veröffentlicht. Zu diesem Zweck hat die Bosch Stiftung eine heterogene und parteiübergreifende Gruppe von Repräsentanten staatlicher Institutionen wie der Bundesagentur für Arbeit, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Wirtschaft, der kommunalen Spitzenverbände, aus Politik, Medien, Demoskopie und der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL berufen.
Bei der Vorstellung des Expertenberichts am 6. April 2016 hat PRO ASYL zugleich das abweichende Votum des Geschäftsführers Günter Burkhardt veröffentlicht.
Der Abschlussbericht der Robert Bosch Stiftung fordert einen Perspektivwechsel in der Flüchtlingspolitik in Richtung Integration. Viele der Forderungen werden von PRO ASYL unterstützt wie z.B. die Forderung nach einer massiven Ausweitung des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbaus in Deutschland sowie der Einführung von bundesweit einheitlichen Mindeststandards für Gemeinschaftsunterkünfte. Auch Handlungsempfehlungen im Bereich der Gesundheitsversorgung, des Zugangs zu Bildungsmaßnahmen, der Anerkennung von Berufsabschlüssen von Flüchtlingen sowie der Förderung des Zugangs zum Arbeitsmarkt werden von PRO ASYL grundsätzlich unterstützt.
Sprachförderung nur für Asylsuchende mit „guter Bleibeperspektive“?
Im Gegensatz zum Bundesinnenministerium fordert die Expertenkommission eine Neudefinition des Begriffs der „guten Bleibeperspektive“. Nach Willen des Bundesinnenministeriums haben angeblich nur Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Eritrea und Iran eine gute Bleibeperspektive. Nach der Definition der Robert Bosch Expertenkommission (Bericht Seite 37) hätten auch Flüchtlinge aus Afghanistan und Somalia eine gute Bleibeperspektive und müssten deshalb Zugang zu Sprach- und Integrationsangeboten haben. Die Expertenkommission der Bosch Stiftung geht davon aus, dass eine Bleibeperspektive gegeben ist, wenn bei den inhaltlichen Entscheidungen (bereinigte Schutzquote) mehr als 50 Prozent der Antragsteller im Vorjahr Schutz erhalten haben. Ebenso sind Angehörige einer Minderheit, die regelmäßig mehr als 50 Prozent Schutz zugesprochen bekommt, unter dieser Definition zu fassen. Damit hätten Flüchtlinge aus Afghanistan und Somalia Anspruch auf eine Teilnahme an Integrationskursen.
PRO ASYL bleibt trotzdem bei seiner grundsätzlichen Kritik an der Kategorisierung von Flüchtlingen. Die typisierende Behandlung von Schutzsuchenden droht das zu zerstören, was der Kern des Asylrechts ist: Die individuelle Prüfung des Rechts auf Asyl. Die Bleibeperspektive steht für PRO ASYL erst am Ende eines Asylverfahrens fest.
Schnelle Anerkennung – schnelle Integration
Je früher Integrationsmaßnahmen greifen, desto besser gelingen sie. „Der Schlüssel für Integration in Deutschland sind Spracherwerb und Aufenthaltsstatus. Gerade bei letzterem erweist sich das Bundesinnenministerium zunehmend als hemmend“, kritisierte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Einer schnellen Integration stehen aber die getroffenen gesetzlichen Regelungen entgegen. Dazu gehört die Gesetzesverschärfung durch das Asylpaket I, nach der die Verweildauer in Erstaufnahmeeinrichtungen nun bis zu sechs Monate dauern kann und währenddessen ein Zugang zu Sprachkursen, Bildungsmaßnahmen und ggf. Arbeit so de facto nicht möglich ist.
Integrationshemmend ist die lange Dauer der Asylverfahren. Die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren beträgt offiziell 5,2 Monate, faktisch 9 Monate und mehr, rechnet man die Zeit der BÜMA hinzu. Extrem lang sind die Asylverfahren von Flüchtlingen aus Afghanistan (23,1 Monate) und Somalia (28 Monate) – und dies trotz der hohen Anerkennungsquoten. Im Jahr 2015 wurden bei einer inhaltlichen Entscheidung 77,6 Prozent aller Flüchtlinge aus Afghanistan anerkannt (bereinigte Schutzquote), ebenso 81,6 Prozent aller Flüchtlinge aus Somalia. Bis zu einer Anhörung vergingen im Falle von afghanischen Flüchtlingen nach der Antragstellung 10,0 Monate, danach mussten sie im Durchschnitt 13,1 Monate bis zur Entscheidung warten. Somalische Flüchtlinge warteten nach der Antragstellung auf die Anhörung 15,1 Monate, danach 12,9 Monate bis zur Entscheidung.
Die Expertenkommission fordert, die Praxis des zeitlichen und personellen Auseinanderfalles von Entscheidung und persönlicher Anhörung zu ändern. Zeitnah zur Anhörung soll künftig spätestens innerhalb einer Monatsfrist die Entscheidung von ein und derselben Person vorgenommen werden, sofern sich aufgrund der Anhörung nicht weiterer Aufklärungsbedarf ergeben hat.
PRO ASYL kritisiert die Desintegrationspolitik des Bundesinnenministeriums, die sich sowohl in Gesetzesänderungen als auch in Anweisungen an das Bundesamt äußert. Der Rückstau von ca. 770.000 unerledigten Asylverfahren erfordert politisches Handeln über die Vorschläge der Robert Bosch Expertenkommission hinaus. Dazu gehören die Einführung einer unabhängigen Verfahrensberatung, der Verzicht auf Dublin-Überstellungen nach Ungarn, Slowenien, Kroatien und selbstverständlich auch nach Griechenland, die Wiedereinführung unbürokratischer Anerkennungsverfahren für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak sowie auch eine Altfallregelung für länger als ein Jahr anhängige Asylverfahren ohne behördliche Entscheidung.
Integrationshemmend ist aus der Sicht von PRO ASYL auch die politisch diskutierte Wohnsitzauflage. Was deutschen Arbeitssuchenden nahegelegt wird, Mobilität und Bereitschaft zum Umzug, soll bei Flüchtlingen ins Gegenteil verkehrt werden. Ausgerechnet Flüchtlinge dazu zu zwingen ihr neues Leben dort zu beginnen, wo Einheimische wegen mangelnder Zukunftschancen abwandern, ist integrationspolitisch gedacht geradezu absurd.
Zugang nach Europa
Die Expertenkommission der Bosch Stiftung setzte sich auch mit der Frage des Zugangs zum Asylverfahren und nach Europa auseinander. PRO ASYL begrüßt, dass die Robert Bosch Expertenkommission in den Jahren 2016 und 2017 fordert, dass mehrere hunderttausend Flüchtlinge im Rahmen von Aufnahmeprogrammen in Europa aufgenommen werden. Auch das Resettlement muss ausgedehnt werden auf Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan. Konsens in der Bosch Expertenkommission war: „Diese Programme ersetzen nicht das individuelle Recht auf Asyl.“
Gerade das sieht PRO ASYL angesichts des „Deals“ mit der Türkei in Gefahr. PRO ASYL lehnt die Einstufung der Türkei als sicheren Drittstaat ab. Es setzt sich zunehmend die Politik durch, die Grenzen zu schließen und handverlesen nur wenigen Flüchtlingen die Einreise zu gestatten. Geschlossene Außengrenzen Europas führen zu einer faktischen Abschaffung des Menschenrechts auf Zugang zu einem individuellen Asylverfahren in der EU.